
Der zweite der Schwerpunktartikel in der Nachfolge meiner Artikelserie zur Erkenntnisrelativieriung widmet sich einem zentralen Missverständnis der postmodernen Theorieentwicklung – nämlich der Vorstellung, Sprache sei nicht nur Medium, sondern Ursprung von Wirklichkeit. Eine Annahme, die weitreichende – und vielfach verheerende – Auswirkungen auf unser heutiges Verständnis von Erkenntnis, Kommunikation und Realität hat.
Der Hebel fehlt – oder: Warum Sprache allein die Welt nicht aus den Angeln hebt
Wenn Archimedes wirklich gesagt hat, er brauche nur einen festen Punkt und einen ausreichend langen Hebel, um die Welt aus den Angeln zu heben, dann lässt sich das Verhältnis der französischen Postmoderne zur Sprache mit einem leichten Kopfschütteln kommentieren: Sie glaubten, diesen Hebel bereits in Händen zu halten – und merkten nicht, dass ihnen der feste Punkt fehlte.
Derrida, Butler und andere Apostel einer radikal sprachzentrierten Weltsicht wollten das Denken befreien – und verwechselten dabei das Werkzeug mit dem Universum. In ihrer Lesart wird Sprache nicht länger als Medium der Beschreibung verstanden, sondern als Ursprung von Wirklichkeit selbst: Realität wird zur grammatikalischen Option, Bedeutung zum Spiel der Zeichen. Doch wer Sprache zur Gottheit erhebt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er auf dem Marktplatz der Begriffe nur noch Priester und Gläubige antrifft – aber keine Analytiker mehr.
Was dabei übersehen wird: Sprache ist keine Allmacht, sondern ein Werkzeug. Sie hilft, Welt zu ordnen – sie ersetzt sie nicht. Der Gedanke, dass ein System von Zeichen, so brillant es sich selbst dekonstruiert, die Wirklichkeit konstituieren könne, ist nicht nur ein erkenntnistheoretischer Kurzschluss – er steht auch im offenen Widerspruch zu allem, was die Sprachwissenschaft seit einem Jahrhundert herausgearbeitet hat.Die extreme Sprachzentriertheit der Postmodernen – insbesondere bei Derrida und Butler – operiert erstaunlich oft im luftleeren Raum, als gäbe es keine historische, anthropologische oder strukturelle Realität von Sprache jenseits ihrer Rolle als Trägerin von Macht und Bedeutung.
In der Rezeption postmoderner Theorien – besonders bei Butler – zeigt sich ein oft unbeachteter Übergang: Was ursprünglich als methodischer Zugriff gedacht war, wird zunehmend ontologisiert.
Sprache ist dann nicht mehr Mittel der Beschreibung oder Intervention, sondern Quelle von Realität selbst – ein Missverständnis, das der Theorie mehr zuschreibt, als sie offen zugibt, und mehr Wirkung entfaltet, als ihr viele ihrer Verteidiger zuschreiben wollen.
Was sagt die „klassische“ Sprachwissenschaft?
Sprachwissenschaft im engeren Sinne – also Linguistik, vergleichende Sprachforschung, Kognitionslinguistik oder Semantik – hat mit poststrukturalistischer Sprachphilosophie oft nur wenig zu tun. Viele Sprachwissenschaftler sehen die Postmodernen daher mit einer gewissen Skepsis:
- Sprachentwicklung ist kein dekonstruktives Spiel, sondern ein evolutionärer, oft funktionaler Prozess. Strukturen entstehen aus Gebrauch, aus kognitiver Effizienz, aus sozialen Interaktionen – nicht primär aus Machtdiskursen.
- Semantische Stabilität ist real, zumindest funktional: Worte mögen kulturell kodiert sein, aber sie funktionieren innerhalb von Sprachgemeinschaften ziemlich zuverlässig – sonst wäre Kommunikation nicht möglich. Für Butler hingegen ist selbst das ein Problem, weil Stabilität „Normierung“ impliziert.
- Die Pluralität der Sprachen widerlegt stillschweigend das universalistische Geltungsbedürfnis vieler postmoderner Sprachmodelle. Denn die These, dass etwa „Sprache Realität erschafft“, kann nur metaphorisch gemeint sein – denn welche Realität genau? Die französischsprachige? Die sinotibetische? Die arabische? Die mit 4 Kasui oder die mit 15?
- Sprachursprungsforschung, etwa in der Evolutionsbiologie oder der Archäolinguistik, betrachtet Sprache als eine adaptive Fähigkeit – nicht als Textstruktur oder Diskursraum. Das ist für postmoderne Theorien kaum anschlussfähig.
Es gibt gewichtige kritische Stimmen:
- Steven Pinker, selbst Sprachforscher, hat in The Language Instinct (1994) und The Blank Slate (2002) die postmoderne Sprachtheorie ziemlich scharf kritisiert. Für ihn ignorieren Butler & Co. völlig, dass Sprache in unserem Gehirn verankert ist – als kognitive Fähigkeit, nicht bloß als kulturelle Konstruktion.
- John Searle (u.a. Speech Acts und seine Debatten mit Derrida) hat sehr pointiert erklärt, dass Dekonstruktion kein sprachphilosophisch tragfähiges Konzept sei, weil sie die Pragmatik der Sprache, ihre Konventionalität und Funktionalität ignoriert.
- Noam Chomsky hat zwar selbst politische Kritik geübt, aber die französischen Intellektuellen als erkenntnistheoretisch „unernst“ bezeichnet. Für ihn war der Mangel an empirischer Fundierung schlicht inakzeptabel.
Interessant: Chomsky war – wie Pinker – davon überzeugt, dass es eine angeborene Sprachfähigkeit gibt. Das passt überhaupt nicht zu der Idee, dass Sprache vollständig sozial erzeugt oder beliebig konstruierbar sei.
Die Welt ist kein Text – und Sprache kein Ersatz für Erkenntnis
Wer meint, die Welt sei ein Text, wird am Ende wohl auch glauben, dass ein Wörterbuch eine Landkarte ersetzen könne. Doch Sprache ist nicht der Ursprung der Wirklichkeit, sondern ihre Spur – ein feines, oft irreführendes Netz aus Zeichen, das uns Orientierung bietet, solange wir nicht vergessen, dass es nur ein Netz ist und kein Boden.
Die französischen Postmodernen haben vieles in Bewegung gesetzt, nicht zuletzt durch ihre sprachmächtige Skepsis gegenüber allem Festgefügten. Aber wer den Boden unter den Füßen zersägt, sollte sich nicht wundern, wenn er bald nicht mehr weiß, wo oben und unten ist.
Noam Chomsky – nicht eben bekannt für diplomatische Zurückhaltung – nannte das, was Derrida und Kollegen betrieben, schlicht „linke Obskurantismus-Tradition“. Für ihn ist Sprache kein diskursives Nebelwerk, sondern ein biologisch fundiertes, kognitives Werkzeug mit universalen Strukturen. Und es gibt für ihn keinen Zweifel daran, dass es eine objektive Realität gibt, auf die Sprache sich bezieht – ob Derrida das nun gefällt oder nicht.
Auch John Searle, ein anderer Schwergewichtsdenker der Sprachphilosophie, wies mehrfach darauf hin, dass Derridas Theorien zwar elegant klingen mögen, aber bei näherer Betrachtung schlicht nicht funktionieren. Wenn jede Bedeutung nur ein Spiel aus Differenzen ist, so Searle sinngemäß, dann bleibt von Bedeutung am Ende nichts übrig – außer bedeutungsvoller Beliebigkeit.
Und Steven Pinker, mit seinem ganzen Elan als Sprachpsychologe und Aufklärer, ließ ohnehin nie einen Zweifel daran, dass postmoderne Sprachtheorien in erster Linie eines sind: empirisch unhaltbar. Für ihn ist Sprache evolutionär entstanden, ein mentales Organ, das sich entlang universeller kognitiver Muster entfaltet hat – nicht eine politische Waffe in einem endlosen Spiel der Diskurse.
Kurz: Die Sprachwissenschaft hat längst gezeigt, dass Sprache nicht alles ist – sondern etwas. Ein Teil unseres Zugriffs auf die Welt, aber eben nicht die Welt selbst. Wer das verwechselt, mag sich für radikal halten – verliert aber aus dem Blick, was die Aufklärung stets zu retten versuchte: die Unterscheidung zwischen Wort und Wirklichkeit, zwischen Beschreibung und Wahrheit.
In einem Zeitalter, das dringend auf Orientierung, Verständigung und überprüfbares Wissen angewiesen ist, ist es Zeit, die Sprache wieder als das zu begreifen, was sie ist: ein Werkzeug der Kommunikation, nicht der Ontologie. Ohne ein Außen zur Sprache, ohne ein Bezugssystem jenseits von Zeichen und Diskurs, bleibt uns nur ein endloser Dialog im Spiegelsaal – und das war, mit Verlaub, nie der Sinn von Erkenntnis.
Wer wissen möchte, was geschieht, wenn der Glaube an sprachlich konstruierte Wirklichkeit zur letzten Wahrheit wird, sollte weiterlesen: Der nächste Beitrag widmet sich Judith Butlers Versuch, Sprache zur Ontologie aller Ontologien zu machen.
 
			
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