In einer Gesamtbetrachtung zum epistemologischen Relativismus ist es angezeigt, sich auch mit zwei Wissenschaftsphilosophen zu befassen, deren Arbeiten gemeinhin – oder allzu leichtfertig – mit einer Relativierung strenger erkenntnistheoretischer Prinzipien in Verbindung gebracht werden.
Dieser Beitrag ist Teil einer kleinen Reihe von Ergänzungen zur neunteiligen Serie über epistemologischen Relativismus. In diesen „Schwerpunktartikeln“ greife ich einzelne Themenaspekte auf, die in der Hauptreihe bereits angeklungen sind, dort aber nicht in der nötigen Tiefe behandelt werden konnten – sei es aus Gründen der Stringenz, der Dramaturgie oder des Umfangs. Die nun folgenden Texte sind als eigenständige Vertiefungen gedacht und sollen helfen, die erkenntnistheoretischen Zusammenhänge und Begriffsverschiebungen noch klarer herauszuarbeiten.

Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend haben mit ihren jeweiligen Ansätzen – dem Paradigmenwechsel (Kuhn) und dem methodologischen Anarchismus (Feyerabend) – die Wahrnehmung von Wissenschaft tiefgreifend beeinflusst. Ihr Einfluss auf den epistemologischen Relativismus ist jedoch unterschiedlich ausgeprägt und bedarf einer differenzierten Betrachtung. Diese ist umso bedeutungsvoller, als beide insbesondere im pseudomedizinischen Spektrum immer wieder als Kronzeugen für einen angeblich beliebigen Wahrheitsbegriff bemüht werden – zu Unrecht. Besonders Paul Feyerabends „anything goes“ wird gern als Beleg dafür genommen, dass er außerhalb der Idee vom objektiven Wissen zu verorten sei.
Thomas S. Kuhn: Paradigmen als erkenntnistheoretische Rahmen
Kuhns „The Structure of Scientific Revolutions“ (1962) gehört zu den einflussreichsten wissenschaftstheoretischen Werken des 20. Jahrhunderts. Seine zentrale These ist, dass Wissenschaft nicht linear-kumulativ verläuft, sondern durch diskontinuierliche Paradigmenwechsel geprägt ist. Ein Paradigma umfasst dabei nicht nur Theorien und Methoden, sondern eine spezifische wissenschaftliche Weltsicht, innerhalb derer Forschung betrieben wird.
Kuhns Modell stellt die Vorstellung eines stetig fortschreitenden Erkenntnisgewinns infrage, da Paradigmenwechsel nicht allein durch rationale Kriterien entschieden werden, sondern häufig durch soziologische und psychologische Faktoren beeinflusst sind. Kritiker werfen Kuhn daher vor, mit seiner Betonung der Inkommensurabilität von Paradigmen eine Tür zum epistemologischen Relativismus geöffnet zu haben: Wenn Paradigmen nicht objektiv vergleichbar sind, erscheint Wissenschaft als historisch-kulturelles Produkt ohne universal gültige Kriterien.
Hier liegt eine Schwäche seines Modells: Es historisiert. Ähnlich wie Foucault betrachtet Kuhn Wissenschaft primär im Rückblick auf große Umbrüche, etwa die kopernikanische Wende, und unterschätzt die kleinteilige, kontinuierliche Akkumulation von Wissen in den „normalwissenschaftlichen“ Phasen – die er nur innerhalb bestehender Paradigmen verortet. Wissenschaftliches Wissen wird heute insgesamt inkrementeller, empirisch stringenter und universalistischer produziert als in den historischen Brüchen, auf die Kuhn fokussiert. Das macht seine Vorstellung eines radikalen Paradigmenwechsels zunehmend unplausibel.
Wissenschaft ist heute so modular und interdisziplinär, dass selbst größere theoretische Umbrüche bestehende Erkenntnisse integrieren müssen. Selbst Einstein hat Newton nicht „gestürzt“, sondern dessen Theorie in einem präziseren Rahmen verortet. Der heutige Wissensstand ist so stark verflochten, dass Paradigmenwechsel im Kuhnschen Sinne kaum mehr als realistische Beschreibung wissenschaftlicher Entwicklung gelten können. Wenn überhaupt, erleben wir eher „Paradigmenverdichtungen“: Theorien werden erweitert, präzisiert und methodisch besser abgesichert.
Allerdings wollte Kuhn selbst nie als Relativist verstanden werden. In späteren Schriften betonte er, dass Wissenschaft trotz Paradigmenwechsel progressiv sei und spätere Theorien größere Erklärungskraft besäßen. Dennoch bleibt sein Werk eine der am häufigsten missverstandenen Quellen für erkenntnistheoretischen Relativismus.
Kuhn hat eher eine narrative Rekonstruktion vergangener Wissenschaftsdynamiken geliefert als eine methodologische Anleitung. Sein Modell wirkt fast geologisch: stille Akkumulation von Spannungskräften, gefolgt von tektonischen Verschiebungen. Doch dies ist eine post hoc-Erzählung – keine vorausblickende oder steuerbare Erkenntnistheorie.
Dass Kuhns Theorie dennoch so wirkmächtig wurde, liegt vor allem an drei Faktoren:
- Narrative Kraft: Sein Modell der wissenschaftlichen Revolutionen ist eingängig, erzählbar und intuitiv anschlussfähig – vor allem für die Geisteswissenschaften.
- Anschlussfähigkeit an postmoderne Kritik: Auch wenn Kuhn kein Relativist war, wurde er so gelesen. Seine Theorie wurde zur Projektionsfläche für soziale Konstruktionismen.
- Wissenschaftshistorische Plausibilität: Für große historische Brüche bietet Kuhn ein durchaus brauchbares Deutungsmodell.
Ironischerweise hat Kuhn also selbst ein Paradigma geschaffen – das des nicht-linearen Wissenschaftsfortschritts –, das bis heute nachwirkt, auch wenn es epistemologisch überholt ist.
Paul Feyerabend: „Anything Goes“ als Provokation
Anders als Kuhn, der eher unfreiwillig relativistisch gelesen wurde, war Paul Feyerabend ein offener Kritiker normativer Wissenschaftstheorie. In „Against Method“ (1975) formulierte er seinen berühmten methodologischen Anarchismus: Es gebe keine universell gültige wissenschaftliche Methode. Erkenntnisfortschritt sei oft nur möglich, wenn man bestehende Methoden durchbricht.
Feyerabends Duktus war provokativ, ironisch, polemisch – seine Formulierungen bewusst zugespitzt. „Anything goes“ war aber keine Einladung zur Beliebigkeit, sondern eine Kritik an dogmatischer Methodengläubigkeit. Seine Sichtweise war eine radikale Antwort auf den Logischen Positivismus des Wiener Kreises, dessen formalistische Engführung von Wissenschaft ihm ebenso suspekt war wie autoritäre Deutungsmacht.
Gegen Methodenpluralismus ist wissenschaftlich nichts einzuwenden – im Gegenteil: Unterschiedliche Fragestellungen erfordern unterschiedliche methodische Zugänge. Aber: Methodenpluralismus ist kein erkenntnistheoretischer Freibrief. Jede Methode muss sich messen lassen an den Grundsätzen wissenschaftlicher Rationalität: Nachvollziehbarkeit, Prüfbarkeit, Replizierbarkeit, Transparenz.
Feyerabends Kritik wurde häufig vereinnahmt – von Pseudowissenschaften, Esoterikern und postmodernen Relativisten. Doch er war kein Gegner von Erkenntnis. Sein Briefwechsel mit Hans Albert zeigt deutlich: Beide teilten die Sorge um Offenheit, Rationalität und Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaft. Sie stritten über Wege, nicht über Ziele.
Albert und Feyerabend diskutieren auf einer gemeinsamen Bühne, uneins über Dramaturgie: Der eine fürchtet Erstarrung, der andere Beliebigkeit. Beide aber wollten das Erkenntnisprojekt erhalten – gegen die Zumutungen von Dogma, Macht und Diskurskult.
Fazit: Zwischen Inspiration und Gefahr
Kuhn und Feyerabend sind keine epistemologischen Relativisten. Sie fordern Zweifel, Offenheit und Pluralität – nicht Beliebigkeit. Ihre Ideen wurden häufig missverstanden oder ideologisch überhöht. Aber sie waren keine Wegbereiter des erkenntnistheoretischen Nihilismus. Beide anerkannten die Möglichkeit von Erkenntnis – auch wenn sie deren Wege unterschiedlich sahen.
Dass ihre Theorien zur Relativierung von Rationalität instrumentalisiert wurden, ist eher ein Symptom der Rezeptionsgeschichte als ihrer Intention. Gerade in Zeiten alternativer Fakten und Wissenschaftsskepsis ist eine präzise Einordnung ihres Werks daher wichtiger denn je.
1 Pingback