
Das Attribut kritisch genießt in der akademischen Welt seit jeher hohes Ansehen. Kritisches Denken gilt als Kennzeichen wissenschaftlicher Redlichkeit und geistiger Unabhängigkeit. Doch mit dem Aufkommen der Critical Studies hat sich die Bedeutung dieses Begriffs verschoben. Kritik bezeichnet hier nicht mehr in erster Linie die methodische Prüfung von Argumenten oder die systematische Hinterfragung von Annahmen, sondern ist zur erkenntnispolitischen Haltung geworden – zur Pflicht, bestehende Machtverhältnisse, Hierarchien und „hegemoniale Wahrheiten“ zu dekonstruieren.
In dieser Tradition – die sich auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ebenso beruft wie auf Foucault, Derrida und Butler – wird Kritik zur politischen Mission: Erkenntnis soll nicht mehr nur erlangt, sondern verändert werden. Forschung ist damit kein offener Erkenntnisprozess mehr, sondern ein Beitrag zum „richtigen“ gesellschaftlichen Wandel.
Der Übergang von erkenntnisorientierter Forschung hin zu explizit zweckgerichteter „Nützlichkeitsforschung“ (oder besser: Advocacy Research) ist daher keine zufällige Randerscheinung, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden epistemologischen Wandels. Und hier liegt das zentrale Problem: Wo wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr aufgrund ihrer methodischen Gültigkeit zählt, sondern nach ihrer politischen Anschlussfähigkeit beurteilt wird, beginnt der Relativismus als wissenschaftlicher Selbstzweifel – und endet nicht selten als ideologische Immunisierung.
Imprägnierung mit Relativismus und Zweckorientierung
Genau hier zeigt sich die konkreteste Form des epistemologischen Relativismus: Wenn Wahrheit nicht mehr als etwas erkannt wird, das unabhängig von Perspektiven existiert, sondern nur noch als sozial konstruiert und kontextabhängig betrachtet wird, dann degeneriert Wissenschaft zu einer Art Machtspiel. Was dann zählt, ist nicht mehr die Gültigkeit eines Arguments, sondern seine Nützlichkeit für eine vorab festgelegte politische oder gesellschaftliche Agenda. Das evidente Argument wird vom Gültigkeit einfordernden Narrativ verdrängt. Das führt in der extremen Form zu einer Immunisierung gegen Kritik: Jeder Widerspruch wird als „reaktionär“, „hegemonial“ oder „unterdrückend“ delegitimiert, statt inhaltlich geprüft zu werden.
Gerade in den USA haben wir Phänomene gesehen, bei denen bestimmte Forschungsrichtungen nicht einmal mehr dem Kriterium der Falsifizierbarkeit (also dem Lackmustest für Wissenschaftlichkeit) unterliegen, sondern nur danach beurteilt werden, ob sie einer bestimmten gesellschaftspolitischen Agenda nützen oder schaden. Das geht sogar so weit, dass offen zugegeben wird, dass Wissenschaft hier nicht wertneutral sein kann oder soll. Der Wissenschaftsphilosoph Paul Boghossian kritisiert das explizit in Fear of Knowledge – dass solche Strömungen sich selbst als wissenschaftlich darstellen, den wissenschaftlichen Diskurs aber nicht mehr nach klassischen Maßstäben betreiben.
Die Ambivalenz: Wichtige Erkenntnisse vs. methodische Beliebigkeit
Das Paradoxe ist, dass Critical Studies durchaus Verdienste haben. Historische Geschlechterrollen, postkoloniale Strukturen, Diskriminierungsmuster – all das sind legitime Forschungsfelder. Das Problem entsteht, wenn sich daraus eine Art monolithische Weltanschauung entwickelt, die keinen Widerspruch duldet und alle Phänomene ausschließlich durch ihre eigene ideologische Brille betrachtet.
Was der Blick durch eine solche ideologische Brille für Folgen haben kann, zeigen zwei klassische Beispiele: der Sokal-Skandal von 1996 oder die Grievance Studies Hoax von 2018 (Lindsay, Pluckrose, Boghossian), bei denen absurde pseudowissenschaftliche Arbeiten absichtlich in renommierten Critical Studies-Zeitschriften publiziert wurden – einfach, weil sie den gewünschten ideologischen Erwartungen entsprachen. Das zeigt, wie tief das Problem sitzt: Wenn das gewünschte Narrativ wichtiger ist als methodische Strenge, wird Wissenschaft zur Ideologie – ein Glaubenssystem mit vorgegebenem Ergebnis, nicht mehr ein offener Erkenntnisprozess.
Gegenbewegungen in den USA?
Es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass sich die Dominanz postmoderner und relativistischer Denkmuster in den USA etwas abschwächt – allerdings nicht unbedingt durch einen wissenschaftlichen Selbstreinigungsprozess, sondern eher durch gesellschaftlichen und politischen Gegenwind. Viele Universitäten stehen unter wachsendem Druck, sich wieder stärker an traditionellen Wissenschaftsidealen zu orientieren. Einige Hochschulen (z. B. die University of Chicago) betonen explizit akademische Redefreiheit und erkenntnisorientierte Forschung.
Dennoch bleibt es ein Kampf, weil postmoderne Theoriebildungen tief in den Geisteswissenschaften verwurzelt sind – und viele Förderstrukturen, wissenschaftliche Gremien und Universitätsverwaltungen nach wie vor diesen Paradigmen folgen. Ob sich das wirklich ändert, bleibt abzuwarten.
Akademische Selbstbefreiung notwendig?
Absolut. Wenn sich Universitäten nicht aus dieser ideologischen Umklammerung befreien, laufen sie Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit als Wissenschaftsorte zu verlieren. Und das Schlimmste: Wenn Relativismus überhandnimmt, stärkt das ironischerweise genau die irrationalen Bewegungen, die er eigentlich kritisieren wollte – von Populisten bis zu Pseudowissenschaftlern. Denn wenn „alle Wahrheiten gleich gültig sind“, gibt es auch keine rationale Grundlage mehr, um Wissenschaft von Unsinn zu unterscheiden.
Die Critical Studies haben wichtige Impulse geliefert, aber in ihrer dogmatischen Form gefährden sie den wissenschaftlichen Diskurs. Ein reflektierter kritischer Realismus wäre hier der bessere Weg – also die Anerkennung sozialer Kontexte und Machtstrukturen, ohne dabei objektive Erkenntnismöglichkeiten aufzugeben.
Dass diese Entwicklung nicht bloß theoretisch, sondern bereits realpolitisch wirksam ist, zeigt sich exemplarisch am Fall Mātauranga Māori.
Ein Exempel: Mātauranga Māori
Der Fall Mātauranga Māori in Neuseeland ist ein Paradebeispiel für die gefährlichen Konsequenzen dieser Entwicklung. Dass eine indigene Wissensform in den Rang einer gleichwertigen Wissenschaft erhoben werden sollte – nicht als kulturell wertvolles Erbe, sondern als epistemologisch gleichwertig zur modernen Naturwissenschaft –, ist ein Lehrstück darüber, was passiert, wenn epistemologischer Relativismus nicht nur theoretisch vertreten, sondern praktisch durchgesetzt wird.
Das ganze Drama begann 2021, als eine Gruppe neuseeländischer Wissenschaftler in einem offenen Brief darauf hinwies, dass die Vorstellung, Mātauranga Māori (traditionelles indigenes Wissen, in diesem Fall ein Schöpfungsmythos) sei gleichwertig zur modernen Wissenschaft, ein fundamentaler Kategorienfehler sei. Sie argumentierten, dass traditionelle Mythen, Überlieferungen und spirituelle Vorstellungen nicht mit dem empirisch-testbaren Wissenschaftsmodell gleichgesetzt werden können. Ihre Position war keineswegs eine Herabwürdigung indigener Kultur – sie kritisierten lediglich die epistemologische Gleichsetzung.
Die Reaktion darauf war jedoch heftig: Die Wissenschaftler wurden des Rassismus bezichtigt, einer von ihnen verlor Fördermittel, andere wurden diffamiert. Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft in Neuseeland stärkte jedoch genau jene Position, die von einer epistemischen Gleichwertigkeit sprach. Und das ist der entscheidende Punkt: Die Verteidigung wissenschaftlicher Standards wurde nicht als wissenschaftliche Debatte geführt, sondern als moralische Verfehlung dargestellt.
Hier zeigt sich eine der tiefsten Gefahren der Critical Studies-Denkweise: Erkenntnis wird nicht mehr primär danach beurteilt, ob sie empirisch und logisch tragfähig ist, sondern nach ihrer moralischen oder politischen Wirkung. Das hat zwei Folgen:
Wissenschaftliche Redlichkeit wird geopfert, um politischen oder kulturellen Agenden zu dienen. Die Frage „Was ist wahr?“ wird ersetzt durch „Welche Perspektive verdient Förderung?“.
Widerspruch wird moralisiert und pönalisiert – wer auf epistemologische Probleme hinweist, wird nicht als Diskussionspartner gesehen, sondern als Feind einer bestimmten politischen Strömung.
Das Muster gleicht den Entwicklungen, die wir auch in manchen Gender- und Postcolonial-Studies-Debatten sehen: Kritik an methodischen oder epistemologischen Schwächen wird nicht sachlich diskutiert, sondern als Ausdruck eines „unterdrückerischen Systems“ gebrandmarkt.
Die kritische Einordnung von Mātauranga Māori zielt dabei ausdrücklich nicht auf eine Abwertung indigener Weltbilder – wohl aber auf die Frage, unter welchen Bedingungen ein Wissenssystem den Anspruch auf wissenschaftliche Gleichwertigkeit erheben kann.
Der epistemische Relativismus als Zeitbombe
Das Fatale an dieser Entwicklung ist, dass sie Wissenschaft selbst aushöhlt. Wenn wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr den Anspruch erheben darf, universelle Gültigkeit zu haben, sondern nur noch als „eine von vielen Perspektiven“ gesehen wird, dann öffnet das die Tür für alle möglichen irrationalen Weltbilder. Die Aufgabe oder gar Negierung des universalistischen Anspruchs von Erkenntnis wäre ein Umsturz des mühsamen RIngens um das, was wir wissen können, der letzten 2400 Jahre.
Denn wenn Mātauranga Māori als gleichwertig zur modernen Wissenschaft angesehen wird, warum dann nicht auch Homöopathie oder Kreationismus? Sobald die Tür für „alternative Erkenntniswege“ geöffnet ist, gibt es keinen klaren Maßstab mehr, um Unsinn von Wissen zu trennen. Die Argumentationslinie, die hier zugrunde liegt, unterscheidet sich prinzipiell nicht von jener, die auch Pseudowissenschaftler nutzen.
Ironischerweise stärkt diese Entwicklung genau jene Gruppierungen, die von den Critical Studies eigentlich bekämpft werden sollten: Verschwörungstheoretiker, Esoteriker und politische Demagogen. Wenn Wissenschaft nur eine „Erzählung“ unter vielen ist, warum sollten Leute dann nicht an „alternative Fakten“ glauben?
Wider den Universalismus
Was heute so leichtfertig als „kolonial“, „westlich“ oder „hegemonial“ abqualifiziert wird, war einmal eine historische Errungenschaft: Die Vorstellung, dass es Maßstäbe gibt, die nicht an Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Kultur gebunden sind – sondern an das, was alle Menschen als Menschen verbindet. Das war der Sprung aus der partikularen Welt der Stämme, Kasten, Religionen und Klassen in ein Konzept der universellen Würde und Geltung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die UN-Charta, die Genfer Konventionen – alles basiert auf dieser einen Idee: dass der Mensch nicht relativ ist.
Warum wird dieser humanistische Universalismus so heftig angegriffen – von Leuten, die sich oft selbst als moralisch fortschrittlich sehen?
Oswald Spengler hätte den Rückzug ins Partikulare, den Verlust eines einigenden Maßes, den Triumph des Fragmentierten als Ausdruck eines Kulturverfalls gedeutet – und vermutlich diesmal nicht zu Unrecht. Er hätte gesagt: „Die Idee der Menschheit stirbt an der Selbstüberhebung ihrer Teile.“
Die paradoxe Lust an der Segregation
Die Antwort ist unbequem: In vielen Spielarten der identitätspolitisch aufgeladenen Critical Studies ist die Vorstellung einer übergreifenden Gemeinsamkeit verdächtig geworden. Stattdessen tritt die Differenz in den Vordergrund – nicht als analytisches Werkzeug, sondern als identitätsstiftendes Dogma. Es entsteht ein Denken in unzähligen kleinen Wahrheiten, unzähligen kleinen Ungerechtigkeiten – das jede Gemeinsamkeit für potenziell „unterdrückend“ hält. Der Universalismus wird zur Chiffre für kulturelle Aneignung, epistemische Gewalt oder westlichen Imperialismus erklärt – und damit verabschiedet man sich stillschweigend von einer gemeinsamen Welt.
Dabei war genau diese Idee einmal das ethische Ziel der Aufklärung, getragen von Denkern wie Kant, Condorcet, John Stuart Mill oder Martha Nussbaum in neuerer Zeit: dass sich das Besondere im Allgemeinen wiederfinden kann, ohne sich darin zu verlieren. Dass Gleichheit nicht bedeutet, gleich zu sein, sondern gleich zählen zu dürfen.
Wissenschaft als Erkenntnis oder als Machtfrage?
Das zentrale Problem ist, dass viele Vertreter der Critical Studies Wissenschaft nicht mehr als Erkenntnisinstrument sehen, sondern als eine Form der Machtausübung. Wer glaubt, dass Wissenschaft nicht „die Wahrheit“ sucht, sondern nur „hegemoniale Diskurse produziert“, wird zwangsläufig dazu neigen, alternative Wissensformen gleichzusetzen – selbst wenn diese empirisch unhaltbar sind.
Das ist eine Zeitbombe für wissenschaftliche Redlichkeit. Denn wenn Erkenntniswege nicht mehr nach logischen und empirischen Kriterien bewertet werden, sondern nach politischen oder kulturellen Maßstäben, dann ist Wissenschaft nichts anderes als eine rhetorische Strategie. Und das ist das Ende jeder ernsthaften Wissenschaft.
Gibt es Hoffnung?
Tatsächlich gibt es, besonders in der Physik, Biologie und Medizin, zunehmend Widerstand gegen diese Tendenzen. Auch in Philosophie und Wissenschaftstheorie werden die Grundannahmen der Critical Studies zunehmend hinterfragt. Es bleibt zu hoffen, dass der klassische wissenschaftliche Realismus sich wieder stärker durchsetzt – bevor sich das Feld noch weiter in dogmatische Lager spaltet.
Der Fall Mātauranga Māori hat gezeigt, wie weit es kommen kann, wenn wissenschaftliche Prinzipien geopfert werden, um ideologische Kämpfe auszutragen. Und das sollte uns alle alarmieren.