
Was mit Foucault als Kritik an der institutionellen Erzeugung von Wahrheit begann, wurde bei Lyotard zur Erosion des gemeinsamen Bezugsrahmens – und bei Derrida zur Demontage der sprachlichen Grundpfeiler jeglicher Objektivität. Mit Butler erreicht diese Linie ihren politisch wirkmächtigsten Punkt: Sprache, Macht und Identität verschmelzen zur performativen Realität – und der erkenntnistheoretische Relativismus wird zur sozialen Norm.
Judith Butler hat mit ihrer Theorie der Performativität1 in der Gender-Theorie viel mehr als nur ein Narrativ geliefert – sie hat einen epistemologischen Anspruch für ihre Art von Relativismus erhoben. Ihr Ansatz geht weit über bloße Kulturkritik hinaus und hat erheblichen Einfluss auf die Critical Studies genommen.
Judith Butler und die Dekonstruktion von Identität
Butlers zentrale These lautet, dass Geschlecht (gender) nicht durch biologische Gegebenheiten festgelegt ist, sondern performativ erzeugt wird. Das bedeutet: Geschlecht existiert nicht als feststehende Realität, sondern wird durch sprachliche und soziale Praktiken hervorgebracht. Diese Idee ist direkt von Michel Foucault und Derrida beeinflusst, insbesondere von deren Konzepten der Diskursanalyse und der Dekonstruktion.
Konkret bedeutet das:
- Geschlecht ist kein vorgegebener, objektiver Zustand, sondern ein sozial erzeugtes Produkt.
- Die sprachlichen und kulturellen Mechanismen, durch die wir über Geschlecht sprechen, erschaffen erst die Idee von Geschlecht.
- „Männlich“ und „weiblich“ sind demnach keine universellen oder objektiven Kategorien, sondern fluide, historisch kontingente und konstruierte Begriffe.
Dieser Ansatz ist eine radikale Form des konstruktivistischen Denkens, das traditionelle Ontologien auflöst. Butler argumentiert sogar, dass unser gesamtes Verständnis von Identität nur innerhalb von Machtdiskursen existiert – es gibt also gar kein „wahres“ Geschlecht, sondern nur gesellschaftlich erzeugte Zuschreibungen.
Von der performativen Identität zur Delegitimierung biologischer Erkenntnis
Judith Butlers Konzept der Performativität zielt nicht nur auf soziale Rollenbilder oder kulturelle Zuschreibungen – es stellt die gesamte Idee einer biologisch verankerten Geschlechtsidentität infrage. Geschlecht ist für Butler kein feststehendes Attribut, sondern entsteht erst durch die wiederholte, gesellschaftlich geformte Darstellung, also durch das, was sie „doing gender“ nennt.
Was folgt daraus? Wenn es kein von Sprache und Gesellschaft unabhängiges Geschlecht gibt, dann ist auch die biologische Beschreibung – etwa die der Zweigeschlechtlichkeit – nicht einfach Ausdruck naturwissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ein Produkt hegemonialer Diskurse.
Damit wird selbst die naturwissenschaftlich-empirisch fundierte Biologie zur Sprache der Macht erklärt. Die evolutionär begründbare, empirisch nachweisbare Fortpflanzungsstrategie der Zweigeschlechtlichkeit gilt in diesem Modell nicht mehr als objektive Erkenntnis, sondern als gesellschaftlich oktroyierte Wahrheit, die das binäre System nur scheinbar „natürlich“ erscheinen lässt.
Diese Verschiebung hat gravierende Konsequenzen:
- Naturwissenschaftliche Aussagen werden epistemisch entwertet, weil sie unter Generalverdacht geraten, Teil eines normierenden Systems zu sein.
- Objektive Beobachtbarkeit zählt weniger als subjektive Betroffenheit – ein Bruch mit dem erkenntnisleitenden Prinzip der Intersubjektivität.
- Der Diskurs verschiebt sich von der Überprüfung von Aussagen hin zur Bewertung der Sprechposition.
So wird Butlers performative Theorie zur Blaupause für eine umfassende Relativierung des naturwissenschaftlichen Weltbezugs. Es ist kein Zufall, dass aus diesem Denken heraus auch die Forderung wächst, biologische Konzepte „zu dekolonisieren“ – eine Formulierung, die selbst gut gemeint, aber in ihrer Radikalität bis zur Wissenschaftsfeindlichkeit reichen kann.
Gerade für einen skeptischen, rationalitätsbasierten Humanismus ist dieser Punkt entscheidend. Denn hier zeigt sich exemplarisch, wie erkenntnisrelativistische Entwürfe aus kritischen Impulsen heraus schließlich an den Grundfesten dessen sägen, was überhaupt als überprüfbare Erkenntnis gelten kann. Die Folge ist keine Befreiung – sondern ein epistemischer Rückschritt.
Mit diesem Schritt überschreitet Butler die Schwelle von der Gesellschaftskritik zur epistemologischen Subversion – und das ist weit mehr als ein akademischer Schachzug: Es ist ein Frontalangriff auf das Prinzip der überprüfbaren Erkenntnis selbst. In dieser Radikalität wird ihre Theorie anschlussfähig an jede Form erkenntnisfeindlicher Ideologisierung – von Esoterik bis Wissenschaftsfeindlichkeit unter dem Deckmantel von „Dekolonialisierung“, „Betroffenheitsvalidierung“ oder „Alternativwahrheiten“.
Die epistemologischen Konsequenzen: Relativismus als Programm
Hier beginnt das Problem: Wenn Geschlecht (und darüber hinaus auch andere soziale Kategorien) nur eine soziale Konstruktion ist, was bedeutet das für Wissen im Allgemeinen?
Butler liefert eine Blaupause für einen allgemeinen erkenntnistheoretischen Relativismus, weil sie nicht nur Geschlecht, sondern jede Form von Wissen als durch Diskurse und Machtverhältnisse geformt betrachtet. Das führt zu zwei weitreichenden Konsequenzen:
Wahrheit ist kein objektives Konzept mehr. Wahrheit ist laut Butler (und anderen postmodernen Denkern) keine neutrale Entität, sondern ein Produkt sozialer und sprachlicher Strukturen. Sie entsteht nicht aus der Korrespondenz mit einer objektiven Realität, sondern aus den Regeln, nach denen Diskurse Wissen hervorbringen.
Es gibt keine privilegierte Perspektive auf die Realität. Da alles Wissen durch Sprache und Macht geformt wird, kann keine Perspektive für sich in Anspruch nehmen, „richtiger“ oder „objektiver“ zu sein als eine andere. Wissenschaft wird so zu einer Erzählung unter vielen statt zu einem besonders zuverlässigen Erkenntnisweg.
Das ist der Punkt, an dem sich Butlers Ideen mit den radikaleren Strömungen der Critical Studies verbinden:
Wenn Wissen nur durch soziale Machtverhältnisse produziert wird, dann ist Wissenschaft auch nichts anderes als ein hegemoniales Machtsystem. Folglich kann jede Wissensform (indigenes Wissen, esoterisches Wissen, subjektive Erfahrung) epistemisch gleichwertig sein, weil es keine übergeordnete, objektive Instanz gibt, die eine Unterscheidung begründen könnte.
Kritik an solchen Relativismen wird nicht mehr als wissenschaftlicher Diskurs betrachtet, sondern als politischer Angriff gewertet – wer für objektive Maßstäbe in der Wissenschaft eintritt, gilt dann schnell als Verfechter eines „unterdrückerischen Systems“.
Hat Butler nur ein Narrativ geliefert oder eine ernsthafte erkenntnistheoretische Theorie?
Das ist die entscheidende Frage. In meinen Augen ist Butlers Theorie keine ernstzunehmende epistemologische Konzeption, sondern eine Mischung aus dekonstruktiver Sprachkritik und gesellschaftspolitischem Aktivismus.
- Sie hat keine konsistente erkenntnistheoretische Theorie entwickelt, sondern lediglich eine kritische Strategie entfaltet, die bestehende Systeme dekonstruiert, ohne tragfähige epistemologische Alternativen zu bieten. Ihr Ansatz ist primär negativ – sie dekonstruiert bestehende Wissenssysteme, bietet aber keine überzeugende Theorie darüber, wie Erkenntnis stattdessen funktionieren soll. Ob man einen „Ursprung“ von menschlicher Erkenntnis mit Butlers Thesen erklären kann, scheint mehr als zweifelhaft.
- Ihre Theorien sind extrem sprachzentriert. In der Wissenschaftsphilosophie ist jedoch weitgehend anerkannt, dass Erkenntnis nicht nur (holistisch) durch Sprache und Diskurs entsteht, sondern auch durch empirische Überprüfung, intersubjektive Reproduzierbarkeit und logische Konsistenz.
- Ihre Schriften sind absichtlich unklar formuliert (wie auch von vielen Kritikern bemängelt, z.B. Martha Nussbaum oder Alan Sokal). Das macht es schwer, eine konsistente erkenntnistheoretische Position aus ihnen herauszulesen.
Allerdings haben sich die Denkmuster Butlers und ihrer postmodernen Kollegen tief in die Geisteswissenschaften eingegraben. Viele Institutionen haben sich derart an den Diskurs über Macht, Sprache und soziale Konstruktion gewöhnt, dass eine vollständige Umkehr kaum vorstellbar ist.
Die spannende Frage bleibt also: Entscheidend wird sein, ob die Wissenschaft sich langfristig aus der ideologischen Umklammerung radikal konstruktivistischer Diskurse befreien kann – oder ob diese Denkweise fortbesteht als neue Orthodoxie unter kritischem Anstrich.
Bezieht sich Butler bei ihrer Sprachzentriertheit auf Wittgenstein?
Butler bezieht sich durchaus auf Wittgenstein, aber auf eine sehr selektive Weise. Sie nutzt vor allem seinen späten Sprachphilosophie-Ansatz, insbesondere das Konzept der Sprachspiele und die Idee, dass Bedeutung durch Gebrauch entsteht. Dabei interpretiert sie ihn aber stark durch die Brille von Foucault und Derrida und führt ihn in eine Richtung, die mit Wittgensteins eigentlichem Denken nur bedingt kompatibel ist.
Wittgenstein und die Bedeutung von Sprache
Wittgenstein argumentiert in seinen späten Arbeiten (Philosophische Untersuchungen), dass Sprache nicht einfach eine Abbildung der Realität ist (Bildtheorie der Sprache, die er in der Logisch-philosophischen Abhandlung noch vertreten hatte), sondern ihre Bedeutung durch den Gebrauch in spezifischen Kontexten erhält. Sein Konzept der Sprachspiele beschreibt, dass es keine absolute, kontextfreie Bedeutung von Wörtern gibt, sondern dass ihre Bedeutung von den sozialen Praktiken abhängt, in denen sie verwendet werden.
Er geht aber nicht so weit, zu behaupten, dass Sprache die Realität erschafft. Vielmehr beschreibt er, wie unsere sprachlichen Begriffe in den Lebensformen verankert sind, in denen wir uns bewegen. Wittgenstein bleibt damit innerhalb eines pragmatischen Rahmens: Die Welt existiert unabhängig von der Sprache, aber unsere Art, sie zu beschreiben und zu verstehen, hängt von der Sprache und den sozialen Gepflogenheiten ab.
Butlers Übernahme und Transformation von Wittgenstein
Butler übernimmt diese Idee der Sprachabhängigkeit, aber sie radikalisiert sie in einem poststrukturalistischen Sinne. Ihr Konzept der Performativität ist gewissermaßen eine extreme Lesart der Sprachspiel-Theorie: Für Wittgenstein hat Sprache eine soziale Funktion, aber sie setzt nicht notwendig soziale Realitäten erst in Existenz. Für Butler erschafft Sprache soziale Realitäten – Geschlechtsidentitäten existieren nicht unabhängig von den sprachlichen und sozialen Praktiken, die sie hervorbringen.
Ein entscheidender Punkt ist hier ihr Bezug auf Sprechakte à la J.L. Austin. Sie greift die Idee auf, dass Sprache nicht nur beschreibt, sondern auch handelt (z.B. wenn jemand sagt „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau“ bei einer Hochzeit). Butler überträgt das auf Geschlecht: Geschlecht ist demnach nichts, was man hat, sondern etwas, was durch Sprache und Handlungen ständig hergestellt wird.
Das ist eine deutliche Erweiterung über Wittgenstein hinaus – sie kombiniert ihn mit Derridas Iterabilität (die Idee, dass Bedeutung nie fixiert ist und sich durch Wiederholung verändert) und Foucaults Machtdiskursen.
Ist Butlers Wittgenstein-Interpretation gerechtfertigt?
Das ist sehr umstritten. Viele Philosophen (u.a. Saul Kripke, Ian Hacking, John Searle) haben darauf hingewiesen, dass Wittgensteins Sprachphilosophie zwar kontextabhängig ist, aber nicht bedeutet, dass es keine objektive Realität gibt oder dass alle Begriffe beliebig formbar sind. Wittgenstein war kein Relativist – er hielt lediglich fest, dass unser Zugang zur Welt sprachlich und sozial vermittelt ist.
Butlers Interpretation ist also keine reine Wittgenstein-Adaption, sondern eine poststrukturalistische Neukombination, die seine Ideen in Richtung eines radikalen sozialen Konstruktivismus verschiebt. Damit entfernt sie sich erheblich von Wittgensteins ursprünglichem Pragmatismus.
Fazit: Ideensteinbruch, aber nicht treue Adaption
Ja, Wittgenstein war für Butler zweifellos eine Inspirationsquelle – aber sie hat ihn stark umgebaut und mit anderen Theorien vermischt. Während Wittgenstein betonte, dass Sprache in sozialen Kontexten Bedeutung erhält, geht Butler einen Schritt weiter und behauptet, dass Sprache soziale Identitäten erzeugt und stabilisiert. Damit macht sie aus Wittgensteins Sprachpragmatik ein Werkzeug für eine radikale Dekonstruktion sozialer Kategorien.
Haben Butlers Thesen einen sakralen oder gar religiösen Charakter – den einer „Heilslehre“?
Zumindest in bestimmten akademischen und aktivistischen Kreisen haben ihre Theorien eine fast sakrale Aura. Sie liefern ein kohärentes Weltbild, das nicht nur analysiert, sondern auch normative Vorgaben macht: Wer sich innerhalb dieses Denkgebäudes bewegt, erkennt nicht nur an, wie Geschlecht konstruiert wird, sondern auch wie es konstruiert werden sollte.
Der Vergleich mit einer Religionsgründerin ist gar nicht abwegig. Butler stiftet eine Weltanschauung mit einer eigenen Terminologie, einer bestimmten Vorstellung von Wahrheit und einer klaren Unterscheidung zwischen Gläubigen (die das Konzept der Performativität anerkennen) und Ungläubigen (die auf biologischen oder strukturellen Erklärungen bestehen). Das erinnert an das, was Thomas Kuhn als Paradigmen beschrieben hat: Innerhalb eines Paradigmas erscheint alles logisch und sinnvoll, aber von außen betrachtet wirken die Grundannahmen oft willkürlich oder fragwürdig.
Was macht Butlers Theorien „religiös“?
- Gründungsmythos: Geschlecht existiert nicht als biologische Tatsache, sondern wird durch Sprache und performative Akte erzeugt. Wer das nicht anerkennt, „versteht es nicht“ – eine Art initiatische Erkenntnis („Eingebung“).
- Sakrale Texte: Gender Trouble (1990) ist für viele eine Art Bibel der Gender Studies. Wer es nicht gelesen (oder richtig verstanden) hat, gilt schnell als Außenseiter.
- Heilige Sprache: Die Terminologie ist für Außenstehende oft schwer verständlich, fast wie ein esoterisches System, das nur Eingeweihte wirklich beherrschen.
- Ethische Imperative: Es gibt nicht nur eine Analyse gesellschaftlicher Zustände, sondern auch eine moralische Verpflichtung, diese zu verändern.
- Häresie und Ketzerverfolgung: Kritik wird oft nicht als wissenschaftlicher Widerspruch behandelt, sondern als moralisches Versagen. Wer etwa auf biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern hinweist, riskiert, als reaktionär oder transphob abgestempelt zu werden.
- Exegese und Auslegungskämpfe: Innerhalb der Critical Studies gibt es eine Art innerakademischen Streit darüber, wie Butlers Werk „richtig“ zu verstehen ist – ähnlich wie in religiösen Schriften, die unterschiedlich interpretiert werden.
Mary Baker Eddy und die Christian Science: eine Parallele?
Ein direkter Vergleich mit einem heute noch in den USA tief wirkenden Phänomen liegt vielleicht nicht ganz fern. Mary Baker Eddy hat mit der Christian Science ein Glaubenssystem geschaffen, das – ähnlich wie Butlers Theorie – radikal mit traditionellen Vorstellungen von Realität bricht. Ihre Kernidee, dass Krankheit eine Illusion ist und nur durch den richtigen Glauben (bzw. eine korrekte geistige Haltung) geheilt werden kann, zeigt eine frappierende Ähnlichkeit zu Butlers radikalem Konstruktivismus: Beide Theorien lösen materielle Gegebenheiten in sprachlich-diskursive Prozesse auf. Manche Parallele zwischen Baker Eddy und Butler lassen sich präzisieren:
- Leugnung des Materiellen
- Baker Eddy: Krankheit existiert nicht wirklich, sondern ist eine Fehlinterpretation der göttlichen Realität.
- Butler: Geschlecht existiert nicht als biologische Tatsache, sondern nur als performative Konstruktion.
- Sprache als zentrale Schöpfungsmacht
- Baker Eddy: Die richtige geistige Haltung und das Gebet können die Realität verändern.
- Butler: Sprache ist das Medium, durch das Realität (z. B. Geschlechtsidentität) erst hervorgebracht wird.
- Glaube versus Wissenschaft
- Baker Eddy lehnt die Medizin als überflüssig ab, da Heilung allein durch geistige Praxis erfolgen soll.
- Butler lehnt biologische Konzepte von Geschlecht und Identität als soziale Konstruktionen ab.
- Exklusiver Wahrheitsanspruch
- Wer Christian Science nicht versteht oder ablehnt, gilt als unwissend oder fehlgeleitet.
- Wer Butlers Theorien nicht akzeptiert, wird oft als ignorant oder ideologisch rückständig betrachtet.
- Moralischer Aktivismus
- Christian Science propagiert eine Heilungsbewegung, die sich als moralisch überlegen ansieht.
- Butlers Anhänger sehen sich als moralische Avantgarde, die soziale Gerechtigkeit durch ein neues Verständnis von Geschlecht und Identität herstellt.
- Sektenhafte Strukturen
- Christian Science war lange Zeit eine abgeschlossene Gemeinschaft mit einer starken Binnenloyalität.
- Teile der Critical Studies zeigen ähnliche sektenhafte Tendenzen, etwa wenn abweichende Meinungen innerhalb der Bewegung geächtet werden.
Aber warum ist Butler so einflussreich?
Das liegt zum Teil daran, dass sie nicht nur eine abstrakte Theorie liefert, sondern ein Modell, das konkrete soziale Probleme anspricht (Diskriminierung, Identität, Machtstrukturen). Das macht es für viele attraktiv, weil es nicht nur analytisch, sondern auch aktivistisch anwendbar ist.
Allerdings führt das auch zu einer Immunisierung gegen Kritik: Wer gegen Butlers Thesen argumentiert, kritisiert nicht einfach nur eine Theorie, sondern greift eine ganze politische Bewegung an – und wird entsprechend behandelt. Das ist ein weiterer Aspekt, der an eine Religion erinnert: Die Verteidigung der Theorie ist nicht nur intellektuell, sondern oft auch emotional und moralisch aufgeladen.
Warum sind solche Denksysteme so attraktiv?
Beide Systeme versprechen eine Art Befreiung: Christian Science von Krankheit und körperlichem Leiden, Gender-Performativität von den Zwängen biologischer oder gesellschaftlicher Determinierung.
Das macht sie emotional sehr wirksam – und immunisiert sie gegen Kritik. Denn wer Kritik übt, wird nicht als rationaler Skeptiker wahrgenommen, sondern als jemand, der das Befreiungsprojekt behindert.
Der Vergleich zwischen Butler und Baker Eddy ist nach meiner Ansicht erhellend. In beiden Fällen wird eine epistemische Umwälzung angestrebt, die letztlich auf einer Leugnung materieller Realität basiert. Interessanterweise sind beide Frauen produktiver als viele ihrer Zeitgenossen, weil sie kohärente Weltbilder liefern, die sowohl Erklärung als auch Handlungsanleitung bieten – und genau das macht sie so einflussreich. Nur beruht all dies bei beiden letztlich auf einem ‚Es ist so!‘ – also nicht auf nachvollziehbarer Begründung oder Überprüfbarkeit, sondern auf autoritativem Setzen und damit, weitergedacht, auf Glauben.
Hat Butler einen positiven Beitrag geleistet?
Trotz all der Kritik kann man Butler zugutehalten, dass sie bestimmte Aspekte sozialer Konstruktion präziser formuliert hat als viele vor ihr. Die Idee, dass Identitäten nicht starr sind, sondern in sozialen Kontexten verhandelt werden, ist nicht völlig falsch – die Frage ist nur, ob sie so radikal sein muss, dass sie biologische und materielle Grundlagen völlig negiert.
Aber genau das ist die zentrale Frage auch dieser kleinen Artikelserie: Warum entwickeln Menschen so komplexe Denksysteme, die letztlich auf erkenntnistheoretischem Relativismus beruhen? Warum ist es für sie attraktiv, jede vermeintlich objektive Wahrheit als soziale Konstruktion zu entlarven?
Ich vermute, es hat etwas mit Kontrolle zu tun: Wenn alles Konstruktion ist, dann gibt es nichts, was außerhalb des Diskurses festgelegt ist – und damit können diejenigen, die den Diskurs dominieren, auch die Wirklichkeit nach ihren Vorstellungen formen. Das hat etwas zutiefst Verführerisches – und noch etwas weitaus Gefährlicheres.
1 „Performativität“ bezeichnet in Butlers Theorie den Gedanken, dass Sprache und soziale Praktiken Wirklichkeit nicht nur beschreiben, sondern herstellen – insbesondere dort, wo Identität durch wiederholte Zuschreibungen und Handlungen entsteht. Kurz gesagt: Sprechen ist Handeln.
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