Der moderne epistemologische Relativismus als zentrales Problem des 20. und 21. Jahrhunderts

In der Geschichte der Philosophie war der Relativismus immer eine herausfordernde und präsente, aber meist randständige Position. Während der Antike und des Mittelalters blieb er eine marginale Strömung, oft als skeptische Provokation verstanden oder als Denkfigur, die vor allem dazu diente, Argumente gegen einen absoluten Wahrheitsbegriff zu testen. Doch mit dem 20. Jahrhundert änderte sich dies grundlegend: Der epistemologische Relativismus entwickelte sich von einer philosophischen Randerscheinung zu einer einflussreichen Strömung, die in vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen prägend wurde.
Dabei ist die heutige Bedeutung des Relativismus weniger eine singuläre Denkrichtung als vielmehr ein komplexes Geflecht von Ansätzen, die unterschiedliche Ursprünge haben, aber alle auf eine radikale Infragestellung von objektiver Wahrheit, universalem Wissen und wissenschaftlicher Rationalität hinauslaufen. Er ist keine isolierte philosophische Theorie, sondern durchzieht verschiedenste Felder – von der Postmoderne in der Literatur- und Sozialwissenschaft über den Wissenschaftstheoretischen Konstruktivismus bis hin zur Identitäts- und Gender-Theorie.
Das 20. Jahrhundert bot dafür den Nährboden: Die Erschütterung der Aufklärungsideale durch zwei Weltkriege, die Verbrechen totalitärer Regime und das Scheitern von Fortschrittsnarrativen führten zu einem tiefen Misstrauen gegenüber den traditionellen Wahrheitsansprüchen westlicher Rationalität. Philosophen wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard, Jacques Derrida oder Paul Feyerabend griffen dieses Misstrauen auf und entwickelten eigene Ansätze, die den Begriff von objektivem Wissen radikal problematisierten. Ihr Einfluss reichte weit über die akademische Welt hinaus und prägte politische, gesellschaftliche und kulturelle Debatten.
Diese Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert ist so tiefgreifend, dass eine klassische, chronologische Darstellung ihrer Geschichte zu kurz greifen würde. Vielmehr ist es notwendig und sinnvoll, zunächst die zentralen Strömungen und wichtigsten Vertreter von aktueller Bedeutung vorzustellen – nicht nur, um ihre Konzepte zu verstehen, sondern auch, um ihre Wirkungen auf den heutigen Diskurs zu erfassen. Erst danach werde ich den historischen Hintergrund beleuchten, der zeigt, dass der Relativismus zwar eine lange Vorgeschichte hat, aber erst im 20. Jahrhundert zu einer machtvollen Herausforderung für die Wissenschaft und das rationale Denken wurde.
In den folgenden Abschnitten werden deshalb die einflussreichsten Denker des modernen epistemologischen Relativismus vorgestellt, bevor der historische Kontext und die philosophischen Wurzeln dieser Denkrichtungen in einzelnen Kapiteln näher beleuchtet werden.
Als kleine Vorschau auf die kommenden Beiträge in Kürze:
1. Foucault (1960er–1980er – Macht-Wissen, epistemische Konstruktion)
Er ist zwar nicht der Älteste, aber sein Ansatz zur „Archäologie des Wissens“ und zur Macht-Wissens-Relation legt eine Grundlage für spätere Entwicklungen des Relativismus. Seine These, dass Wissen immer von Machtstrukturen durchzogen ist und keine objektiven Wahrheitskriterien existieren, ist essenziell für die postmoderne Epistemologiekritik. Außerdem beeinflusste er sowohl Lyotard als auch Derrida.
2. Lyotard (1979: Das postmoderne Wissen, Postmoderne, Ende der „Großen Erzählungen“)
Er greift Foucaults Ideen auf und formuliert die zentrale These der Postmoderne: das Ende der „Großen Erzählungen“. Das betrifft insbesondere wissenschaftliche Wahrheitsansprüche, die er als machtgestützte Narrative betrachtet. Seine Theorie der „Sprachspiele“ macht deutlich, warum er wissenschaftliche Rationalität nicht als privilegierte Form von Wissen ansieht.
3. Derrida (1960er–1990er – Dekonstruktion als epistemologischer Relativismus)
Seine Dekonstruktion ist weniger eine explizite epistemologische Position als eine Methode, die alle festen Bedeutungen auflöst. Er treibt den Relativismus ins Extrem, indem er zeigen will, dass es keine stabile Referenz für Bedeutung gibt – eine Art Radikalisierung von Foucaults Machtdiskurs. Er ist sozusagen der Endpunkt des postmodernen Relativismus in seiner sprachphilosophischen Dimension.
4. Kuhn und Feyerabend (eigene Kategorie: wissenschaftlicher Relativismus)
Diese beiden Wissenschaftstheoretiker gehören zwar nicht zur philosophischen postmodernen Strömung, sind aber für den wissenschaftlichen Relativismus zentral. Kuhn mit seiner Theorie der Paradigmenwechsel und Feyerabend mit seinem „Anything Goes“ haben Wissenschaftstheorie nachhaltig relativiert, aber ohne die radikalen soziokulturellen Konsequenzen eines Foucault oder Derrida zu ziehen.
6. Judith Butler als Sonderfall (Dekonstruktivismus in der Sozialtheorie)
Als bekannteste und auf vielen Ebenen einflussreichste zeitgenössische Vertreterin eines Relativismus operiert sie epistemologisch im Fahrwasser von Foucault und Derrida, aber ihr Hauptfokus liegt auf Gender-Theorie. Ihre Thesen zur „Performativität“ des Geschlechts sind in gewisser Weise eine Anwendung dekonstruktivistischer Methoden auf soziale Identitäten.
Der nächste – dritte – Teil dieser kleinen Reihe wird Michel Foucault und seinen Ideen gewidmet sein.
