
Einleitung
In den letzten Jahrzehnten haben sich Diskurse über Wahrheit, Wissen und Erkenntnis zunehmend polarisiert. Während klassische wissenschaftliche Methoden auf objektive Überprüfbarkeit setzen, haben Strömungen aus der postmodernen Philosophie und den Cultural Studies Konzepte entwickelt, die objektive Wahrheit als Konstrukt hinterfragen. Dieser erkenntnistheoretische Relativismus hat nicht nur den akademischen Diskurs beeinflusst, sondern auch politische Debatten, Medien und den gesellschaftlichen Umgang mit Wissenschaft geprägt.
Was zunächst als berechtigter Reflex auf wissenschaftlichen Dogmatismus und Machtstrukturen begann, hat sich in manchen Bereichen zu einer Herausforderung für den wissenschaftlichen Diskurs selbst entwickelt: Wenn alle Wahrheiten als gleichwertige Narrative gelten, verliert Wissenschaft ihre normative Kraft. Doch ist dieser Vorwurf gerechtfertigt? Haben Philosophen wie Kuhn, Foucault oder Derrida tatsächlich eine radikal relativistische Position vertreten – oder wurden sie vereinnahmt? Diesen Fragen soll eine kleine Artikelserie nachgehen, deren erster Teil dieser Beitrag ist.
Kritischer Rationalismus vs. Relativismus: Zwei gegensätzliche Erkenntnishaltungen
Die Frage, wie wir zu Wissen gelangen, ist eine der grundlegendsten philosophischen Debatten. Zwei einflussreiche Positionen, die sich hierbei gegenüberstehen, sind der kritische Rationalismus und relativistische Erkenntnistheorien.
Der kritische Rationalismus, geprägt durch Karl Popper, geht davon aus, dass Wissen immer vorläufig ist und sich nur durch kritische Prüfung und Falsifikation weiterentwickeln kann. Anstatt nach absoluter Gewissheit zu streben, setzt er auf einen offenen Diskurs, in dem Theorien so lange als brauchbar gelten, bis sie widerlegt werden. Wahrheit bleibt ein regulatives Ideal, das wir bestenfalls annähern, aber nie endgültig erreichen können (jedenfalls nicht erkennen können, sollten wir sie zufällig einmal wirklich getroffen haben). Zentraler Grundgedanke ist der Fallibilismus, also der Grundsatz, dass wir uns jederzeit und immer irren können.
Demgegenüber stehen relativistische Ansätze, die den Wahrheitsbegriff entweder aufweichen oder gar ablehnen. In ihrer radikalsten Form argumentieren sie, dass Wissen nicht objektiv, sondern immer nur innerhalb eines bestimmten sozialen, kulturellen oder sprachlichen Kontextes gültig sei. Wissenschaftliche Theorien hätten demnach keinen höheren Anspruch auf Wahrheit als andere Weltbilder – sie seien lediglich Produkte ihrer Zeit, geprägt von Machtstrukturen und gesellschaftlichen Konventionen.
Diese Gegenüberstellung ist keineswegs nur ein akademischer Disput, sondern hat weitreichende Folgen. Der kritische Rationalismus ermöglicht eine robuste wissenschaftliche Methodik, die sich durch Selbstkorrektur und Fortschritt auszeichnet. Der Relativismus hingegen läuft Gefahr, wissenschaftliche Erkenntnisse zu entwerten, indem er sie als bloße Narrative behandelt, die neben Mythen oder Ideologien stehen. In einer Zeit, in der Verschwörungstheorien und Wissenschaftsleugnung florieren, ist diese Debatte aktueller denn je.
Relativismus – ein verkappter Anthropozentrismus?
Ist die epistemologische Leugnung der Existenz objektiven Wissens nicht eine Art Anthropozentrismus? Will sagen, der Relativismus reduziert doch den Wahrheitsbegriff auf Ausflüsse menschlichen Handelns. Objektive Kritierien scheinen also nicht einmal lohnend, ihnen nachzuspüren. Im Grunde machen die Relativisten es sich doch einfach …
Das ist ein zentraler Kritikpunkt am epistemischen Relativismus: Er setzt Wahrheit mit menschlichen Perspektiven gleich und verneint, dass es sinnvolle Maßstäbe gibt, die außerhalb unserer sozialen und kulturellen Konstruktionen existieren. Das ist im Kern eine Art Anthropozentrismus – denn es läuft darauf hinaus, dass Wissen und Wahrheit letztlich nur das sind, was Menschen in ihren jeweiligen Kontexten dafür halten.
Der kritische Rationalismus geht dagegen davon aus, dass es eine von unseren Meinungen unabhängige Realität gibt, die wir zwar nie vollständig erkennen, aber immer besser verstehen können. Relativisten argumentieren oft, dass jede Erkenntnis immer in Sprache und Kultur eingebettet ist und daher keine übergreifende Objektivität beanspruchen kann. Doch gerade hier machen sie es sich zu einfach: Sie übersehen, dass die bloße Tatsache, dass wir über die Welt nur in menschlichen Begriffen sprechen können, nicht bedeutet, dass es nichts außerhalb dieser Begriffe gibt.
In gewisser Weise könnte man den Relativismus als bequem bezeichnen, weil er den anstrengenden Prozess wissenschaftlicher Falsifikation und methodischer Prüfung unterläuft. Wenn jede Perspektive „ihre eigene Wahrheit“ hat, dann entfällt die Notwendigkeit, sich mit widersprechenden Fakten oder mit methodischer Strenge auseinanderzusetzen. Stattdessen kann jede Behauptung als „kulturell valide“ verteidigt werden – egal, wie gut oder schlecht sie sich mit der Realität verträgt.
Ein schönes Paradoxon ist übrigens, dass der radikale Relativismus sich oft selbst widerlegt: Wenn es keine objektive Wahrheit gibt, dann gilt das auch für die Behauptung, dass es keine objektive Wahrheit gibt. In diesem Sinne ist der Relativismus nicht nur bequem, sondern auch inkonsistent.
Die psychologische Komponente
Es scheint tatsächlich eine psychologische Komponente zu geben, ob jemand eher zum kritischen Rationalismus oder zum Relativismus neigt. Der Relativismus kann für viele Menschen attraktiv sein, weil er vermeintlich „menschlicher“ wirkt – er erlaubt subjektive Erfahrungen, kulturelle Kontexte und emotionale Perspektiven als gleichwertig anzuerkennen, ohne sie an einem übergeordneten Maßstab messen zu müssen. Das kann entlastend sein, weil es den Druck nimmt, sich mit unbequemen Wahrheiten oder methodischer Strenge auseinanderzusetzen. Viele, die sich vom kritischen Rationalismus abwenden, dürften weniger an dessen methodischen oder logischen Prinzipien scheitern, sondern eher an der psychologischen Belastung, die mit ihm einhergeht.
Denn es ist ja durchaus anstrengend, sich auf den schmalen Grat des methodischen Skeptizismus zu begeben, wo man einerseits nichts unkritisch akzeptieren darf, andererseits aber auch nicht in ein völliges Agnostizismus-Chaos abdriften kann. Kritischer Rationalismus verlangt eine Art „intellektuelle Disziplin“, die sich nicht auf Bequemlichkeiten stützt – keine absoluten Wahrheiten, aber auch kein hemmungsloses „anything goes“.
Doch genau da sehe ich eine Parallele zum alten Anthropozentrismus: Früher sah sich der Mensch als Mittelpunkt des Kosmos, heute setzt der Relativismus ihn zum Mittelpunkt der Erkenntnis. Alles, was wir wissen können, wird auf menschliche Perspektiven, Narrative oder Machtstrukturen reduziert. Der kritische Rationalismus geht hingegen davon aus, dass es eine Realität gibt, die unabhängig von unseren Wünschen, Gefühlen oder kulturellen Kontexten existiert. Und das wirkt auf viele abschreckend – eben weil es „kalt und leer“ erscheinen kann, insbesondere im Vergleich zu einer Sichtweise, die Wissen als soziale Konstruktion begreift und damit „wärmer“ und flexibler erscheint.
Aber genau hier liegt die Gefahr: Der Relativismus mag tröstlich wirken, doch er untergräbt die Möglichkeit, überhaupt noch zwischen besseren und schlechteren Erkenntnissen zu unterscheiden. Wenn Wissenschaft nur eine „Erzählung“ unter vielen ist, dann gibt es keinen methodischen Grund mehr, ihr gegenüber Verschwörungstheorien oder Pseudowissenschaften den Vorrang zu geben. Insofern könnte man sagen, dass Relativismus eine bequeme, aber letztlich intellektuell träge Position ist – eine moderne Variante der alten menschlichen Neigung, sich selbst ins Zentrum zu stellen, statt sich der unbequemen Möglichkeit zu stellen, dass Wahrheit eben nicht von uns abhängt.
Kritischer Rationalismus und Skeptizismus
Gleich hier werde ich keinen Hehl daraus machen, dass ich den kritischen Rationalismus als unabdingbare Grundlage eines sinnvollen, realitätsbezogenen und kritischen Skeptizismus ansehe. Ernsthaft betriebene skeptische Aufklärung setzt voraus, sich seiner epistemologischen Grundlagen sicher zu sein. Wie sonst könnte man einer pseudowissenschaftlichen Szene standhalten, die zunehmend selbst epistemologisch argumentiert? Gerade weil Pseudowissenschaftler immer geschickter epistemologisch argumentieren, kann man sich als Skeptiker nicht einfach darauf zurückziehen, dass „wir es doch besser wissen“.
Wenn man den Relativisten und Pseudowissenschaftlern das epistemologische Feld überlässt, dann läuft man Gefahr, nur noch auf Symptome zu reagieren, anstatt die eigentlichen Denkfehler zu entlarven. Das ist, als würde man in einer Debatte über Klimawandel die physikalischen Grundlagen ausblenden und sich nur auf Einzelstudien und Messdaten stützen – ohne eine solide methodologische Basis ist man angreifbar. Oder wie bei den Homöopathen, die immer wieder versuchen, Belege für ihre Scheinmethode anzuführen, ohne deren methodologische Grundlagen kritisch zu betrachten und dabei stets versuchen, den Blick auf eine gesamtwissenschaftliche Betrachtung zu verschleiern. Ganz abgesehen von gelegentlichen Ausflügen in das Reich des epistemologischen Relativismus. Der Erfolg des Postmodernismus zeigt doch genau das Problem: Viele Relativisten sind keine Dummköpfe, sondern sehr versiert in philosophischen Argumentationen. Wer sich dem nicht stellt, wird irgendwann rhetorisch an die Wand gespielt – und genau das passiert ja leider in der öffentlichen Debatte immer wieder.
Deshalb diese kleine Artikelserie in loser Folge, die sich mit dem Antagonismus zwischen Rationalismus und Relativismus auseinandersetzen will.
1 Pingback