
Vielleicht habt ihr das auch schon registriert: Instagram Reels werden seit einiger Zeit mit seltsamen AI-Videos geflutet, die immer wieder Tiere, Meeressäuger und Eisbären bevorzugt, die von „Barnacles“ (also Meereskrebsen) auf teils unglaubliche Weise besetzt sind und dann von „engagierten Helfern“ mehr oder weniger gerettet werden. Diese Darstellungen sind in vielfacher Hinsicht so unwirklich (bis in die Größenverhältnisse hinein) dass man das eigentlich schnell als AI erkennen sollte. Aber was soll das? Woher kommt das? Wieso wird Insta damit regelrecht geflutet? Warum werden die Darstellungen offenbar immer „spektakulärer“?
Betrachten wir erst einmal rein rational mögliche Gründe und Ursachen, dass sich solche Videos derzeit so sehr verbreiten.
Monetarisierung durch Fake-Engagement
Viele dieser Accounts setzen auf virale Inhalte, um Follower und Reichweite zu generieren. Wenn ein Video eine emotionale Reaktion auslöst – Mitgefühl, Staunen, Ekel oder Wut –, bleibt es länger im Feed, wird häufiger kommentiert und geteilt. Das erhöht die Verbreitung und kann in Monetarisierung über Werbeeinnahmen oder gesponserte Posts münden. Man sollte aber nicht übersehen, dass hier keinerlei offensichtliche kommerzielle Zwecke verfolgt werden, es gibt keine Spendenaufrufe, Abos oder dergleichen. Was die Frage nach dem Sinn und Zweck noch mehr unterstreicht. Reines „just for fun“ scheint mir in Anbetracht der schieren Menge dieser Hervorbringungen und ihrer relativen Professionalität eher unwahrscheinlich.
Algorithmische Verstärkung durch „Sensationslust“
Instagram und TikTok bevorzugen Inhalte, die hohe Interaktionsraten haben. Die Kombination aus niedlichen oder majestätischen Tieren, einer dramatischen Leidensgeschichte und einer „Wunderheilung“ triggert genau die emotionalen Reaktionen, die Plattformen belohnen.
Fortschritte in der darstellenden KI
Mit den neuesten KI-Modellen ist es einfacher als je zuvor, realistisch aussehende, aber völlig fiktive Inhalte zu generieren. Besonders auffällig:
- Unnatürliche Größenverhältnisse (Riesen-Barnacles, überdimensionale Tiere)
- Unlogische Bewegungsabläufe (die „Helfer“ entfernen Parasiten mit surrealer Leichtigkeit, mit brachialen Methoden wie Abflämmen oder auch mal gar nicht)
- Unrealistische Texturen oder Beleuchtung
Eskalation des „Spektakels“ durch Wettbewerb
Da immer mehr dieser Accounts existieren, müssen sie sich voneinander abheben. Das führt dazu, dass die Videos immer extremer werden:
- Normal große Barnacles sind langweilig → Also gigantische Monster-Barnacles in Kombination mit entsprechend großen Tieren.
- Ein normaler Helfer ist nicht dramatisch genug → Also kommt ein Held, der im letzten Moment rettet, gleich eine ganze Einsatzstaffel und Hubschreuber sind keine Seltenheit.
- Eine einfache Reinigung? Nein → Ein lebensgefährlicher, dramatischer Eingriff muss es sen!
Psychologische Mechanismen: „Ich will glauben“
Viele Zuschauer möchten glauben, dass solche Rettungen stattfinden, weil sie das Gefühl vermitteln, dass die Welt ein besserer Ort ist. Selbst wenn jemand Zweifel hat, überwiegt oft der Wunsch, dass es wahr sein könnte.
Diese „Barnacle-Tier-Rettungsvideos“ sind ein Paradebeispiel dafür, wie sich KI-generierte Inhalte mit den Mechanismen sozialer Medien zu einem selbstverstärkenden Phänomen verbinden. Sie zeigen auch, wie sich digitale Inhalte zunehmend von der Realität lösen – und viele Menschen haben offenbar Schwierigkeiten, das zu erkennen – oder besser gesagt, kognitiv zu verarbeiten.
Ich sehe mit Erstaunen, dass Menschen meiner Umgebung im Grunde das Fiktive an diesen Videos – und auch das Surreale – durchaus erkennen, sich aber trotzdem auf eine gewisse Weise davon berührt und angezogen fühlen. Was ich für kritisch halte. Menschliche Regungen sind eben menschlich, diese aber durch solche – sagen wir ruhig, Manipulationen – in einem solchen Maße hervorzurufen, das finde ich so erstaunlich wie bedenklich.
Das erscheint mir als ein faszinierendes, aber auch beunruhigendes Phänomen. Die Leute erkennen die Fiktion, lassen sich aber dennoch emotional darauf ein – als ob das Wissen um die Unwahrheit die emotionale Reaktion nicht außer Kraft setzt. Das zeigt, wie tief bestimmte psychologische Mechanismen greifen:
Die „Suspension of Disbelief“ in neuer Form
Eigentlich neu ist das ja nicht, das Konzept einer „Suspension of Disbelief“ stammt bereits aus der literarischen Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts (geprägt von Samuel Taylor Coleridge): Wir wissen, dass eine Geschichte nicht real ist, aber wir lassen uns dennoch darauf ein, um die emotionale Wirkung zu erleben, beispielsweise beim Lesen eines Buches oder dem Anschauen eines Films. Hier geschieht etwas Ähnliches – aber nicht mehr bewusst bzw. unter bewusster Grenzziehung, sondern quasi reflexhaft. Das bewusste Sich-EInlassen auf eine Fiktion (Lesesession, Kinobesuch) macht einer Beeinflussung „im Vorübergehen“ Platz.
Die emotionale „Verkürzung“ der Realität
Dies hat seine Wirkung, weil viele Menschen auf Bilder und Geschichten intuitiv reagieren, ohne eine tiefere Analyse vorzunehmen. Die schockierende oder rührende Szene reicht aus, um Mitleid oder Bewunderung auszulösen – auch wenn der Verstand im Nachhinein sagt: „Moment mal, das ist doch Unsinn.“ Die Isolation gegenüber dem Alltagsleben durch das bewusste Lesen eines Buches oder das Besuchen eines Kinofilmes fällt beim Scrollen durch die Sozialen Medien weg und macht einem Wechselbad von Realem und Irrealem Platz, dessen kognitive und eben auch emotionale Einordnung eine gewaltige mentale Aufgabe ist.
Digitale Emotionalisierung als neue Norm
Soziale Medien konditionieren uns darauf, ständig emotionale Hochs und Tiefs durch kurze Clips zu erleben. Diese Videos sind maßgeschneidert für den schnellen Konsum und extreme emotionale Ausschläge – Mitleid, Staunen, Freude, Entsetzen. Dass sie künstlich sind, wird nebensächlich, weil die emotionale Erfahrung echt ist.
Die Manipulation ist das eigentliche Produkt
Diese Videos sind nicht bloß „Content“ – sie sind präzise darauf ausgelegt, Engagement auszulösen. Wer sie erstellt, tut dies nicht, um eine Geschichte zu erzählen, sondern um einen maximalen emotionalen Effekt zu erzeugen. Es ist der nächste Schritt in der Perfektionierung von Aufmerksamkeitserzeugung. Was vermuten lässt, dass diese spektakulären „Tiervideos“ nur der Anfang einer möglicherweise bestehenden Strategie sind – inzwischen tauchen vereinzelt KI- VIdeos von visuell faszinierenden industriellen Prozessen auf und allmählich werden auch Menschen in die Darstellungen einbezogen – manchmal bewusst verharmlosend in Form von Kindern, neuerdings aber auch in schockierenden Hybriden-Figuren.
Warum das gefährlich ist
- Wenn emotionale Reaktionen unabhängig von Wahrheit ausgelöst werden können, wird es leichter, Menschen zu manipulieren.
- Die Trennlinie zwischen „emotional berührt“ und „tatsächlich glaubend“ verschwimmt.
- Es könnte beispielsweise langfristig die Wahrnehmung echter humanitärer Katastrophen verändern – wenn wir genauso auf Fiktionen reagieren wie auf die Realität, stumpfen wir vielleicht für das Echte ab.
Vielleicht ist das der eigentliche beunruhigende Punkt: Nicht, dass Menschen den Fake nicht erkennen, sondern dass es keine Rolle mehr spielt, dass es ein Fake ist.
Ich habe das zunächst als skurrile Marginalie wahrgenommen, dann aber, als ich die Reaktionen in meiner Umgebung sah und sich diese Videos häuften, habe ich mir so meine Gedanken darüber gemacht, wie subtil und weitreichend dieser Mechanismus bereits ist. Anfangs wirkt es harmlos – ein paar absurde Videos, die man als alberne Kuriositäten abtut. Aber dann sieht man, dass sie nicht nur massenhaft auftauchen, sondern auch emotional funktionieren, selbst bei Menschen, die es eigentlich besser wissen müssten.
Deine Beobachtung zeigt einen grundlegenden Wandel im Umgang mit Realität. Wir befinden uns in einer Phase, in der sich die Frage „Ist das echt?“ langsam verschiebt zu „Spielt es eine Rolle, ob es echt ist?“ Und genau das ist der Punkt, an dem Manipulation im großen Stil möglich wird.
Ich glaube, wir unterschätzen, wie sehr soziale Medien inzwischen nicht nur Informationen filtern, sondern unsere emotionale Realität formen. Diese Tier-Rettungsvideos sind ein Symptom, aber die gleiche Mechanik könnte für politische Inhalte, Ideologien oder sogar unser Verständnis von Geschichte genutzt werden.
Ich bin weder Antimodernist noch Technikhasser, es geht mir nicht um das Zurückdrängen neuer Technologien (was eh nicht funktioniert). Aber es ist unbestreitbar, dass mit der Leistungsfähigkeit technischer Systeme auch die Gefahr wächst, dass ihre Hervorbringungen in den Köpfen mit der Realität in Konflikt geraten. Deshalb hier dieser kleine Beitrag, der von ein paar verwunderlichen Insta-Reels augelöst wurde und ein wenig Aufmerksamkeit wecken möchte.
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