Die epistemologische Verschiebung in der öffentlichen Debatte (Microsoft Copilot)

Kontext-Hinweis:

Dieser Beitrag ist die notwendige Fortsetzung meines Artikels Judith Butlers Performativität – Die Ontologie aller Ontologien?. Dort hatte ich gezeigt, dass Butlers Theorie ursprünglich auf radikale Dekonstruktion zielte – ohne selbst einen ontologischen Wahrheitsanspruch zu erheben. Doch genau diese erkenntniskritische Offenheit ist im öffentlichen Diskurs ins Gegenteil verkehrt worden: Aus einer Theorie der Kontingenz wurde ein dogmatischer Identitätsabsolutismus. Was einst aufzeigen wollte, wie soziale Praktiken Identität konstruieren, wird nun benutzt, um moralische Unangreifbarkeit zu beanspruchen. Die epistemologische Selbstrelativierung schlägt um in moralische Unfehlbarkeit – und diese Verkehrung ist der gesellschaftlich folgenreichste Kollateralschaden einer Theorie, die nie bereit war, sich selbst als Theorie zu begreifen.


Kaum ein Thema erzeugt derzeit so viele Missverständnisse wie die Diskussion um biologische und soziale Geschlechter. Wer sagt, es gebe zwei biologische Geschlechter, riskiert inzwischen den Vorwurf, eine „absichtliche Lüge“ zu verbreiten. So geschehen jüngst auf dem SocialMedia-Kanal von Quarks, einer Wissenschaftsredaktion des WDR, die eigentlich für sachliche und evidenzbasierte Vermittlung von Wissenschaft stehen sollte. Doch wenn dort eine solche Aussage nicht mehr als beschreibende Feststellung, sondern als zu löschender Beitrag gewertet wird, ist ein Punkt erreicht, an dem man innehalten muss.

Diese Debatte ist keine bloße Streitfrage über Biologie oder Identität. Sie ist ein Symptom einer tieferliegenden epistemologischen Verschiebung. Denn im Kern geht es darum, was wir als wissensförmig anerkennen und wie wir über Wirklichkeit sprechen dürfen. Die Auflösung dieser Grundlagen ist nicht allein durch Aktivismus motiviert, sondern vielfach durch ein bestimmtes theoretisches Erbe: den poststrukturalistischen Dekonstruktivismus.

Judith Butler, deren Werk „Gender Trouble“ in vielen Teilen der Diskussion als Kronzeuge dient, entwickelte ihr Konzept der Geschlechtsidentität nicht in Abgrenzung zur Biologie, sondern als Kritik an der Selbstverständlichkeit kultureller Zuschreibungen. Ihr Ansatz war ein sprachtheoretischer, stark beeinflusst von Derrida und Foucault. Die performative Konstitution von Geschlecht sollte zeigen, dass Identität ein Effekt sozialer Praktiken ist, nicht ihr Ursprung. Doch was anfänglich als theoretischer Zugriff auf symbolische Ordnungen gedacht worden sein mag, wurde in der soziokulturellen Rezeption und in Formen des Aktionismus zunehmend zum totalen Wahrheitsersatz.

Die Folge: Ein Theoriegebäude, das selbst niemals den Anspruch erhebt, ontologische Aussagen zu machen, wird zur Grundlage moralischer Verurteilungen. Wer dann mit einer biologischen Beschreibung operiert – wie es in der Medizin, der Evolutionsbiologie oder auch der Kriminalistik täglich geschieht –, wird als rückwärtsgewandt, essentialistisch oder gar menschenfeindlich etikettiert.

So entsteht eine neue Orthodoxie, die paradoxerweise ausgerechnet das zu bekämpfen scheint, was der Skeptizismus stets als seinen Kern verstanden hat: die Kritik an dogmatischen Behauptungen. „Dekonstruktion ohne Kompass“ bedeutet hier: Die einst auch Butler selbst motivierende emanzipative Absicht, Begriffe aufzubrechen und ihre historischen Bedingungen sichtbar zu machen, verkehrt sich in ein rigides Normensystem, das keine abweichende Begrifflichkeit mehr duldet. Wer auf biologische Tatsachen verweist, wird nicht mehr als abweichende Stimme, sondern als epistemisches Risiko behandelt.

Dabei ist gerade der skeptische Diskurs darauf angewiesen, zwischen Beschreibung und Bewertung zu unterscheiden. Es ist keine normative Aussage, zu sagen, dass Homo sapiens über zwei Fortpflanzungssysteme verfügt. Es ist ein empirischer Befund. Die gesellschaftliche Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt steht auf einem anderen Blatt – ein wichtiges, ein berechtigtes, aber eben kein epistemologisch identisches.

Vorträge wie der von Ilse Jacobsen auf der SkepKon 2025 zeugen davon, dass es möglich ist, differenziert zu argumentieren und dabei einen klaren Standpunkt einzunehmen, ohne sich demagogischer Zuspitzung zu bedienen. Und vielleicht liegt genau darin die skeptische Aufgabe unserer Zeit: nicht in der Reproduktion alter Sicherheiten, aber auch nicht in der hüftsteifen Anpassung an akademische Moden.

Sondern im Bemühen, auch in aufgeheizten Kontexten den Unterschied zwischen Beschreibung, Deutung und normativer Setzung sichtbar zu halten. Denn wer den Kompass verliert, verliert nicht nur die Richtung. Sondern auch die Möglichkeit, überhaupt noch über Wahrheit zu sprechen.