Zwischen Wahrheitssuche und Wahrheitsverachtung

Es bleibt noch die Lücke zu schließen von Nietzsche über den Historismus und den Pragmatismus bis zum Durchbruch der radikalen Postmodernen in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Zu berichten gibt es genug.
Der Wiener Kreis – Wissenschaft als logische Konstruktion
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich mit dem Wiener Kreis eine Gruppe von Philosophen, Mathematikern und Wissenschaftstheoretikern, die versuchte, der Philosophie eine neue Grundlage zu geben. Ihre Antwort auf metaphysische Spekulation und erkenntnistheoretische Beliebigkeit war der logische Empirismus: Aussagen sollten nur dann als sinnvoll gelten, wenn sie entweder logisch beweisbar oder empirisch verifizierbar sind.
Rudolf Carnap, Moritz Schlick und andere wollten mit Hilfe der formalen Logik und einer streng empirischen Wissenschaftssprache eine objektive Erkenntnisbasis schaffen. Die Wahrheit sollte so weit wie möglich unabhängig vom Subjekt formuliert werden – intersubjektiv überprüfbar, rational prüfbar, frei von metaphysischer Überhöhung.
Diese Idee stellte eine der stärksten Gegenbewegungen zum Relativismus dar. Und doch bereitete der Wiener Kreis – paradoxerweise – auch ungewollt den Weg zur Kritik: Der Anspruch auf vollständige Verifizierbarkeit aller sinnvollen Aussagen erwies sich als zu streng, wie Karl Popper später betonte.
Karl Popper und die Falsifikation
Poppers Kritik an der Verifikationsthese war bahnbrechend: Wissenschaft, so Popper, könne nie endgültig verifizieren, sondern nur falsifizieren. Eine Theorie ist umso wissenschaftlicher, je mehr sie sich riskanten Tests aussetzt und prinzipiell widerlegbar ist.
Damit brachte Popper eine neue Klarheit in die Diskussion: Objektive Wahrheit bleibt das Ziel, aber der Zugang erfolgt durch vorläufige Annäherung – durch Theorien, die sich in kritischer Auseinandersetzung bewähren müssen.
Poppers Philosophie ist keine Einladung zum Relativismus, sondern im Gegenteil: ein Plädoyer für die Widerlegbarkeit als epistemisches Ethos. Doch auch hier schleicht sich ein Relativitätsmoment ein: Unsere Wahrheiten sind immer hypothetisch, nie absolut sicher – und das öffnet späteren Theorien, die aus dieser Vorläufigkeit ein Beliebigkeitsprinzip machen, eine Hintertür.
Die Dialektik der Aufklärung – Misstrauen gegenüber der Vernunft
Adorno und Horkheimer veröffentlichten 1947 ihre berühmte Dialektik der Aufklärung – eine Analyse, die mit dem Rationalitätsbegriff der Moderne hart ins Gericht geht. Ihr Grundgedanke: Die Aufklärung, angetreten, um die Menschheit von Mythen zu befreien, habe sich in ein System der Kontrolle und Herrschaft verkehrt. Instrumentelle Vernunft diene nicht mehr der Emanzipation, sondern der Effizienz, der Berechnung, der Machtsicherung.
Dieser Gedanke nährt ein tiefes Misstrauen gegen die Möglichkeit einer neutralen, objektiven Wahrheit. Auch wenn Adorno und Horkheimer nie explizit relativistisch argumentierten, stellten sie doch die zentralen erkenntnistheoretischen Grundannahmen der Aufklärung infrage. Das Subjekt, das erkennt, ist bei ihnen immer schon ein Teil der Machtverhältnisse – eine Sichtweise, die Michel Foucault später radikal ausformulieren wird.
Thomas Kuhn und das Paradigma
Mit Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) kam ein weiteres Element ins Spiel, das den Glauben an linearen Fortschritt und objektive Wahrheit erschütterte. Kuhns These: Wissenschaft entwickelt sich nicht kontinuierlich, sondern in Paradigmenwechseln – und diese sind nicht nur durch rationale Gründe erklärbar, sondern auch durch soziologische, psychologische und institutionelle Faktoren.
Wahrheit wird so zu einem Produkt des jeweiligen Paradigmas. Was als wahr gilt, hängt von der wissenschaftlichen „Weltsicht“ ab, innerhalb derer geforscht wird. Auch Kuhn wollte keinen Relativismus vertreten – er sah seine Theorie als Beschreibung wissenschaftlicher Praxis. Doch seine Ideen wurden später von postmodernen Denkern als Beleg dafür aufgegriffen, dass Wahrheit nur ein Konstrukt der jeweiligen Zeit sei.
Paul Feyerabend – Anything goes?
Feyerabends Against Method (1975) war der wohl heftigste Frontalangriff auf das wissenschaftliche Selbstverständnis seit Nietzsche. Sein berühmter Satz „Anything goes“ wurde oft missverstanden: Feyerabend wollte nicht Anarchie, sondern warnte vor der Verabsolutierung einer einzigen Methode. Wissenschaft, so seine These, sei immer auch historisch gewachsen, geprägt von Machtverhältnissen, Interessen, Zufällen.
Dabei wollte Feyerabend nicht die Wahrheit abschaffen, sondern zeigen: Erkenntniswege sind vielfältig. Er war ein Gegner von Dogmatismus – nicht von Rationalität an sich. Doch viele Leser entnahmen seiner Kritik einen Freifahrtschein für Beliebigkeit. Und so wurde Against Method zu einem der Gründungsdokumente des postmodernen Denkens – wenn auch wider Willen.
Die Postmoderne: Von der Kritik zur Verachtung der Wahrheit
In den 1960er und 70er Jahren vollzieht sich dann ein Wandel: Die produktive Kritik an erkenntnistheoretischen Grenzen schlägt bei vielen Denkern in eine prinzipielle Infragestellung von Wahrheit um. Mit Foucault, Derrida, Lyotard und Butler beginnt die Zeit des starken Relativismus: Wahrheit wird als diskursive Konstruktion entlarvt, Objektivität als Herrschaftsinstrument enttarnt, wissenschaftliche Rationalität als kulturell überformt dekonstruiert. Diese wichtige Periode behandele ich im Detail in meiner neunteiligen Serie zum Erkenntnisrelativismus in der Moderne.
Diese Entwicklung hat tiefgreifende Konsequenzen – nicht nur in der Philosophie, sondern in Bildung, Gesellschaft und Wissenschaft. Wahrheit wird nicht mehr gesucht, sondern „verhandelt“. Es zählt nicht mehr, was stimmt – sondern, wer Deutungshoheit hat.
Epilog: Was auf dem Spiel steht
Wenn ich diese Serie über die Wurzeln des Relativismus schreibe, dann nicht, weil ich der Vergangenheit eine bloße historische Ehrenrunde gönnen will. Sondern weil mir immer deutlicher wird, worum es eigentlich geht: um das große Ringen des menschlichen Geistes mit sich selbst. Um Wahrheit – und um die Frage, ob und wie wir sie erkennen können.
Was sich über Jahrtausende zur Frage entfaltet hat, was wir wissen können und was Erkenntnis ist, stellt keinen bloßen Streit zwischen Meinungen dar, sondern einen geistigen Lehrweg. Einen, der zeigt: Erkenntnis ist nicht einfach da – sie entsteht, wächst, scheitert, steht wieder auf. Sie lebt von Reibung, von These und Antithese, von kritischer Prüfung, Rückschritt und Fortschritt. Und vor allem: Sie lebt davon, dass Menschen sich der Mühe unterziehen, über Wahrheit nachzudenken, anstatt sie entweder zu verordnen oder gleich ganz abzuschaffen.
Damit ist ein Punkt erreicht, an dem das erkenntnistheoretische Projekt der Moderne – die Suche nach gesichertem Wissen – ernsthaft in Gefahr gerät. Genau deshalb ist es so wichtig, die Geschichte dieses Projekts zu kennen – mit all ihren Brüchen, Fortschritten und Umwegen, wobei einmal die relativistischen Ideen fruchtbar waren, weil sie Dogmatismus entgegentraten und dann wieder die Positionen des Objektivismus, weil sie dem Einbruch von unreflektierter Beliebigkeit in den Erkenntnisprozess Grenzen setzten. Es ist auch das Ziel dieser kleinen historischen Serie, beiden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Dass ich mich in der ersten Artikelserie dezidiert gegen den Relativismus der Postmoderne gewandt habe, hat seinen Grund darin, dass dieser die Teilnahme am diskursiven Wechselspiel aufgekündigt hat. Er tritt nicht als zweifelnde Position auf, sondern als Usurpator, der selbst unhinterfragbare Gültigkeit beansprucht. Gerade wenn man die Geschichte kennt, die diese kleine Serie beschreibt, muss das inakzeptabel erscheinen.
Die Geschichte der Erkenntnistheorie ist daher mehr als ein Spezialdiskurs – sie ist ein kollektiver Erfahrungsprozess, wie wir mit uns und der Welt in Beziehung treten. Was wir heute als wissenschaftliche Methode, als kritisches Denken oder als rationale Debattenkultur begreifen, ist das Ergebnis eben jenes jahrhundertelangen Ringens – und damit zu wertvoll, um leichtfertig preisgegeben zu werden.
Radikaler Relativismus – wie ihn Teile der Postmoderne vertreten – bricht dieses Ringen ab. Er setzt sich ans Ende einer Entwicklung, die er weder zu würdigen noch fortzusetzen weiß. In der Behauptung, dass es keine objektive Erkenntnis mehr geben könne, steckt eine stille Verachtung für das, was Generationen gedacht, erprobt und errungen haben. Erkenntnis wird da zum Machtspiel, Wahrheit zur Behauptung, Wissenschaft zur Kulisse.
Dem möchte ich mich entschieden entgegenstellen. Nicht, weil ich naiv an eine „absolute“ Wahrheit glaube, sondern weil ich weiß, dass die Suche nach Wahrheit – in all ihrer Begrenztheit – zu den größten zivilisatorischen Errungenschaften gehört, die wir haben. Sie ist ein Bollwerk gegen Willkür, Manipulation und ideologische Erstarrung.
Die Wahrheit ist keine Murmel, die wir im Spiel verlieren oder gewinnen. Das Streben nach ihr ist eine Haltung – ein Ethos, das sich durch Zweifel und Disziplin hindurch behauptet. Und das wir heute nötiger brauchen denn je.