Die Geburt der modernen Wahrheitssuche

Mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wandelt sich auch die Vorstellung von Erkenntnis grundlegend. Die Renaissance steht nicht nur für ein Wiederaufleben antiker Bildungsideale, sondern auch für eine neue Zuversicht, dass der Mensch die Welt selbstständig erkennen kann – jenseits der kirchlichen Dogmen und der scholastischen Tradition.
Francis Bacon: Der optimistische Neubeginn
Mit Francis Bacon betritt der vielleicht wichtigste Prophet der empirischen Wissenschaftsbefähigung die Bühne. Ihm schwebte ein methodisch kontrolliertes Fortschreiten des Wissens vor, getragen von systematischer Beobachtung und Erfahrung. Bacons berühmter Leitsatz „Wissen ist Macht“ ist keine bloße Technikgläubigkeit, sondern Ausdruck eines tiefen Vertrauens in die menschliche Erkenntnisfähigkeit – wenn nur die „Idole“ des Denkens (Vorurteile, Autoritätsgläubigkeit, metaphysische Spekulation) erkannt und überwunden würden.
In seinem Novum Organon sah Bacon die Natur wie ein Buch, das durch genaue Beobachtung gelesen und durch induktive Verfahren verstanden werden könne. Wahrheit, so seine Überzeugung, ist nicht verborgen oder metaphysisch entrückt, sondern – wie er schrieb – „if truth is manifest, it is there to be seen“. Das ist der Ausdruck eines tiefen Erkenntnisoptimismus: Wahrheit existiert objektiv und ist dem Menschen prinzipiell zugänglich – wenn er nur bereit ist, methodisch und vernunftgeleitet zu arbeiten.
Genau darin aber liegt bereits ein entscheidender Unterschied zu späteren relativistischen Denkansätzen: Für Bacon war Wahrheit weder relativ noch unerreichbar – sie war das Ziel einer noch unvollkommenen, aber grundsätzlich befähigten Menschheit.
René Descartes: Der Zweifel als Methode
Descartes, der große Rationalist, steht zunächst für etwas ganz anderes: den methodischen Zweifel. Doch auch er war kein Skeptiker im heutigen Sinne – sein Zweifel sollte nicht zerstören, sondern sichern. Mit dem berühmten cogito, ergo sum suchte Descartes ein Fundament, das allen Zweifeln standhielt. Von dort aus wollte er Schritt für Schritt eine verlässliche Erkenntniswelt errichten.
Auch Descartes war überzeugt, dass es Wahrheit gibt – und dass sie für den Menschen prinzipiell erreichbar ist. Der methodische Zweifel ist bei ihm nicht das Tor zur Beliebigkeit, sondern ein Werkzeug, um auf sicheren Grund zu gelangen.
Der Skeptizismus und seine Konsequenzen: David Hume
Im 18. Jahrhundert tritt mit David Hume ein Denker auf, dessen Zweifel tiefer reichen als alle bisherigen. Während Bacon und Descartes noch überzeugt waren, dass sich Gewissheit durch Methode oder Vernunft herstellen lässt, zersetzt Hume genau diesen Glauben. Seine berühmteste These betrifft die Kausalität – das Herzstück wissenschaftlicher Erkenntnis:
Wir beobachten nur, dass Ereignis B regelmäßig auf Ereignis A folgt. Aber dass A die Ursache von B ist – das können wir nie wirklich „sehen“. Diese Verbindung sei nicht objektiv gegeben, sondern eine Gewohnheit unseres Geistes, die wir durch Erfahrung gebildet haben.
Das ist ein Sprengsatz – denn er bedeutet: Die Grundstrukturen unseres Denkens über die Welt (z. B. Ursache und Wirkung) beruhen nicht auf logischer Notwendigkeit oder empirischer Beweisbarkeit, sondern auf innerer Konstruktion. Hume öffnet damit – vermutlich ohne es zu wollen – ein Tor, durch das später der radikale Relativismus schreiten wird.
Dabei war Hume selbst kein Relativist im heutigen Sinn. Sein Anliegen war es, die Grenzen der Vernunft und der Erfahrung zu zeigen, nicht, jede Wahrheit zu leugnen. Doch seine skeptischen Argumente wirkten nach – und das nachhaltig.
Kants Antwort: Rettung durch die Subjektbedingungen der Erkenntnis
Die Herausforderung durch Hume nahm Immanuel Kant so ernst, dass er sie als „Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer“ bezeichnete. Kants Antwort auf Hume ist einer der großen Rettungsversuche der Aufklärung. Seine transzendentale Wende stellt das Erkenntnissubjekt in den Mittelpunkt:
Nicht die Dinge an sich (Ding an sich) erkennen wir – sondern nur die Erscheinungen, so wie sie unter den Bedingungen unseres Erkenntnisapparats möglich sind. Raum, Zeit, Kausalität – sie sind keine Eigenschaften der Welt, sondern Formen unseres Denkens über die Welt.
Kant zog damit einen doppelten Strich:
- Er akzeptierte die Kritik an einer unmittelbaren, objektiven Erkenntnis der „Wirklichkeit an sich“.
- Aber er bewahrte die Wissenschaft vor dem Absturz in die Beliebigkeit, indem er zeigte: Innerhalb der subjektiven Bedingungen ist objektive Erkenntnis möglich.
Gerade Kant wird in heutigen Debatten oft missverstanden. Er war kein Relativist. Er relativierte nicht die Wahrheit, sondern nur unsere Zugangsweise zur Welt. Wahrheit bleibt bei Kant prinzipiell erreichbar – nicht absolut im Sinne metaphysischer Durchsichtigkeit, aber verlässlich innerhalb der Grenzen der Vernunft.
In gewisser Weise war Kant die erste große Immunantwort der Philosophie gegen den erkenntnistheoretischen Relativismus. Doch seine Rettung war nicht von Dauer.
Der Relativismus nimmt Fahrt auf (19.–20. Jahrhundert)
Nietzsche: Wahrheit als Illusion des Nützlichen
Mit Friedrich Nietzsche betritt ein Denker die Bühne, der das Wahrheitskonzept selbst frontal angreift. Seine berühmte Formel – „Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen“ – ist nicht bloß Provokation, sondern Ausdruck eines radikalen Perspektivismus:
Wahrheiten seien keine Abbilder der Wirklichkeit, sondern kulturell erzeugte Illusionen, entstanden aus Machtverhältnissen, biologischer Nützlichkeit und sprachlicher Konvention. Wahrheit – so Nietzsche – sei letztlich eine „Art von Irrtum, ohne die eine bestimmte Gattung von Lebewesen nicht leben könnte“.
Damit sprengt Nietzsche den letzten Rest des klassischen Wahrheitsideals. Für ihn ist Philosophie keine Suche nach objektiver Erkenntnis mehr, sondern ein Akt schöpferischer Interpretation. Wer interpretiert, herrscht – und umgekehrt.
Diese Idee wurde später zum Grundstein postmoderner und dekonstruktivistischer Theorien. Nietzsche ist so gesehen der prophetische Vater eines „starken Relativismus“, auch wenn er ihn selbst nie systematisch ausbuchstabiert hat. Trotzdem ist Nietzsches Werk nicht bloße Literatur oder philosophische Skurrilität – sondern wirkt bis heute auf die Epistemologie.
Historismus: Wahrheit im historischen Kontext
Parallel dazu entwickelt sich im 19. Jahrhundert der Historismus (u. a. Wilhelm Dilthey, Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband). Hier liegt der Fokus nicht auf subjektiver Interpretation, sondern auf der Einsicht:
Alle Erkenntnis ist geschichtlich bedingt.
Wissenschaftliche Begriffe, Methoden und Kategorien seien nicht zeitlos gültig, sondern Ausdruck einer bestimmten kulturellen Epoche. Wahrheit wird somit kontingent, also abhängig von den historischen Bedingungen ihres Entstehens. Ersichtlich nähern wir uns hier den aus der Retrospektive entwickelten Thesen Foucaults, Derridas und Lyotards. Dilthey und Co. entwickelten sich jedoch nicht in deren radikale Leugnung objektiver Wahrheiten, sondern legten den Grundstein für die geisteswissenschaftliche Hermeneutik (Gadamer, Habermas) und den dort entwickelten Unterschied zwischen Erklären und Verstehen als epistemologische Alternative zur Naturwissenschaft.
Der Historismus will allerdings nicht beliebig sein – er sucht die Wahrheit in der Tiefe historischer Kontexte, nicht in ewigen Prinzipien. Doch die Folge ist dieselbe: Der Glaube an eine universell gültige Erkenntnis wird weiter ausgehöhlt.
Pragmatismus: Wahrheit als das, was funktioniert
In den USA entwickelt sich um die Jahrhundertwende eine weitere erkenntnistheoretische Richtung, der Pragmatismus. Seine Hauptvertreter – Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey – wollten den Wahrheitsbegriff praktisch erden:
„Wahr ist das, was sich im praktischen Leben bewährt.“
Das bedeutet: Eine Aussage ist dann wahr, wenn sie funktioniert, wenn sie uns hilft, Probleme zu lösen, Orientierung zu finden oder erfolgreich zu handeln.
Was hier zunächst wie eine nützliche Operationalisierung klingt, birgt – bei unreflektierter Anwendung – die Gefahr: Wahrheit wird zur Funktion. Damit kann alles, was „wirkt“, auch als „wahr“ gelten – ein Einfallstor für Subjektivismus und instrumentelles Denken. Außerdem können wir meist gar nicht sicher sagen, was in einer Kausalkette wirklich „gewirkt“ hat – das hat uns schon Hume gelehrt. Ersichtlich wurde hier der Grundstein für viele heutige „Wirkungs- und Evidenzdiskurse“ gelegt – bis hin zu Pseudowissenschaften, die auf „Wirksamkeit“ pochen, ohne epistemische Substanz zu bieten. Diese problematische Gleichsetzung von „etwas wirkt“ mit „es ist wirksam“ hat Johannes Köbberling in seinem Buch Wirkung ohne Wirksamkeit treffend benannt – eine Differenz, die in der Pseudomedizin systematisch ignoriert wird.
Peirce selbst war sich dieser Gefahr bewusst. Er betonte die langfristige Übereinstimmung im rationalen Diskurs als Kriterium für Wahrheit – eine Idee, die Karl Popper später wieder aufnehmen sollte. Doch im Alltag wurde aus dem Pragmatismus oft eine Einladung zur Relativierung epistemischer Maßstäbe.