Vernunftwahrheit und Offenbarungswahrheit als Elemente eines größeren Wahrheitsbegriffs nach Thomas von Aquin

Einleitung: Der große Sprung – und warum er Sinn ergibt

Zwischen dem antiken Streit über Wahrheit und der scholastischen Philosophie des Mittelalters liegen viele Jahrhunderte. Und doch ist unser Sprung bis ins Mittelalter gerechtfertigt, den wir hier vom ersten zum zweiten Teil unserer kleinen Serie wagen: Denn nach der Antike herrschte zunächst der nüchterne Pragmatismus der römischen Welt und danach wurde die Frage nach Wahrheit und Erkenntnis weitgehend theologisch überformt. Die aufkommende christliche Weltdeutung setzte transzendente Wahrheit als gegeben voraus. Sie war nicht mehr Gegenstand von Diskurs, sondern Ergebnis von Offenbarung. Philosophische Relativismusdebatten hatten in dieser Ordnung keinen Platz. Erst mit der Wiederentdeckung des Aristoteles entstand erneut ein Spannungsfeld: zwischen Glaube und Vernunft, Dogma und Logik, Offenbarung und Beobachtung. In diesem Konflikt formiert sich ein neues Nachdenken über Wahrheit – und damit ein neues Kapitel der Relativismusgeschichte. Eine, die insofern fruchtbar war, als sie die ein erster Einbruch in die christliche Ultradogmatik war.

Die Scholastik – Versuch einer Synthese

Die Scholastik war kein homogener Denkstil, sondern eine intellektuelle Bewegung, die im 12. und 13. Jahrhundert versuchte, antikes Wissen mit christlicher Lehre zu versöhnen. Zentraler Akteur: Thomas von Aquin. In seinem Werk findet sich ein bemerkenswerter Versuch, Vernunft und Glaube miteinander zu versöhnen. Die von Aristoteles geprägte Logik und Naturbetrachtung sollte nicht länger als Bedrohung, sondern als Stütze des Glaubens verstanden werden.

Thomas entwickelte die Idee zweier Wahrheitsbereiche: der Vernunftwahrheiten, etwa über die Natur, und der Offenbarungswahrheiten, wie die Trinität oder die Auferstehung. Beide sollten sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Die Scholastik wollte also keinen Relativismus, sondern eine geordnete Vielheit von Wahrheiten unter einem letzten Wahrheitsbegriff.

Albertus Magnus: Lehrer der Erfahrung

Ein weiterer zentraler Denker war Albertus Magnus, Lehrer des Thomas von Aquin. Albert betonte als einer der ersten mittelalterlichen Philosophen die Bedeutung von Beobachtung und Experiment. Für ihn war die Natur keine bloße Illustration heiliger Schriften, sondern ein Untersuchungsgegenstand eigener Art. Sein systematisches Interesse an Naturphänomenen, seine botanischen und zoologischen Studien, seine physikalischen Experimente: all das markiert einen bemerkenswert wissenschaftsnahen Ansatz für seine Zeit.

Zugleich war Albert ein Brückenbauer: Er übersetzte, kommentierte und systematisierte das Werk des Aristoteles, bemühte sich aber darum, dessen Philosophie nicht einfach in den Dienst der Theologie zu stellen. Vielmehr verstand er Naturwissenschaft als eigenständige Erkenntnisform, die sich mit der Offenbarung nicht notwendigerweise überschneiden muss. Das war ein vorsichtiger, aber klarer Schritt zur Entflechtung von Glaube und Wissen.

Der doppelte Wahrheitsbegriff – Provokation und Gefahr

Nicht alle Denker blieben so vorsichtig. In der Schule des radikalen Averroismus, etwa bei Siger von Brabant, tauchte eine provokante Idee auf: Es könne zwei Wahrheiten geben – eine theologische und eine philosophische. Was nach Vernunft als wahr gilt, müsse nicht notwendigerweise mit dem Glauben übereinstimmen. Dies war keine Synthese mehr wie beim Aquinaten, sondern ein Pluralismus der Wahrheiten.

Dieser doppelte Wahrheitsbegriff war ein epistemologischer Tabubruch. Denn wenn das, was in der Philosophie als wahr gelten darf, im Glauben falsch sein kann – dann wird Wahrheit selbst kontextabhängig. Und das ist die Kernidee eines Relativismus. Kein Wunder, dass die Kirche reagierte.

Die Verurteilung von 1277 – Wahrheit als Machtfrage

Die Pariser Theologiefakultät verurteilte 1277 219 aristotelische und averroistische Thesen. Offiziell ging es um Irrlehren. Inoffiziell war es ein politischer Akt zur Wahrung epistemischer Deutungshoheit. Der Gedanke, dass es mehrere Wahrheiten geben könnte, war unvereinbar mit dem kirchlichen Wahrheitsmonopol. Relativismus wurde nicht argumentativ widerlegt, sondern institutionell unterdrückt. Doch die Fragen blieben im Raum.

Langfristige Wirkung: Aristotelismus als Einfallstor des Denkens

Trotz der Verurteilungen setzte sich das aristotelische Denken durch. Die Universitäten griffen es auf, die Scholastik entwickelte sich weiter, und aus der Verbindung von Logik, Grammatik und Metaphysik entstand eine intellektuelle Infrastruktur, auf der später die Wissenschaften aufbauen konnten.

Die Scholastik hat den Relativismus nicht hervorgebracht, aber sie hat das epistemologische Denken differenziert. Sie zeigt, dass man um Wahrheit ringen kann, ohne sie zu relativieren – und dass dies manchmal der schwierigere Weg ist.

Brücke zur Gegenwart: Die postmoderne Umkehrung

Heute erleben wir eine seltsame Umkehrung: Was im Mittelalter als Provokation galt, ist heute intellektuelle Gewohnheit. Die Idee, dass jede Wahrheit kontext- und standpunktabhängig sei, wird nicht mehr bekämpft, sondern als Ausdruck pluralistischer Aufgeklärtheit verstanden.

Der „doppelte Wahrheitsbegriff“ ist zur Vielheit von Wahrheiten geworden. Doch je mehr Wahrheit relativiert wird, desto mehr wird sie ausgehöhlt. Was als Toleranz beginnt, endet nicht selten in Beliebigkeit. Die Scholastiker wussten: Ohne gemeinsame Kriterien verlieren wir den Begriff von Erkenntnis selbst.

Fazit: Eine Lektion in intellektueller Balance

Die Scholastik war weder Aufklärung noch Wissenschaft im modernen Sinn. Aber sie war ein historischer Versuch, die Vernunft nicht zu unterdrücken – sondern einzubinden. In diesem Versuch steckt eine Lektion, die bis heute gültig ist: Wahrheit braucht Offenheit, aber auch Ordnung. Wer der Vernunft zu viele Grenzen setzt, macht sie wirkungslos. Doch wer ihr gar keine setzt, verliert sie aus dem Blick.

Der Streit um Aristoteles war kein Nebenschauplatz der Philosophiegeschichte. Er war ein früher Kulminationspunkt der Relativismusdebatte – und ein Vorzeichen kommender Brückenbrände im Kampf um die Wahrheit.