Der Reiz des Relativismus

Warum hat der Relativismus einen so dauerhaften Reiz? Vielleicht, weil er dem subjektiven Empfinden des Menschen entgegenkommt. Wer kennt nicht das Gefühl: „Meine Wahrheit ist nicht deine Wahrheit“? Die Vorstellung, dass es keine objektive Wahrheit gebe, sondern jede Erkenntnis relativ zu Perspektive, Kultur oder Sprache sei, fasziniert und beunruhigt gleichermaßen. Dass diese Idee keineswegs neu ist, sondern ihre Wurzeln tief in der Antike hat, ist weniger bekannt.

Der Relativismus hat gedanliche Wurzeln bis zurück ihn die Antike (Microsoft Copilot)

Protagoras und der Homo-Mensura-Satz

Protagoras von Abdera (5. Jh. v. Chr.) formulierte mit seinem berühmten Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ einen frühen epistemischen Relativismus. Was mir erscheint, das ist für mich wahr; was dir erscheint, ist für dich wahr. Wahrheit wird zur Privatangelegenheit.

Diese Position ist jedoch nicht mit der eines modernen Humanismus zu verwechseln. Während dieser sich auf den Menschen auf ethischer Grundlage als vernunftbegabtes Wesen und Träger universeller Werte zentriert, meint Protagoras den Menschen als einzelnes, subjektives Erkenntnissubjekt.

Der Homo-Mensura-Satz ist keine Ethik, sondern eine erkenntnistheoretische Behauptung: Alle Erkenntnis ist relativ zur Wahrnehmung des Einzelnen. Der moderne Humanismus dagegen beruht auf der Idee einer überindividuellen Vernunftfähigkeit des Menschen. Protagoras relativiert Wahrheit; der Humanismus versucht, sie zu begründen. Die oberflächliche Ähnlichkeit der beiden Ansätze – der Mensch im Mittelpunkt – ist also trügerisch.

Platons Fundamentalkritik

Platon greift Protagoras in seinem Dialog Theaitetos frontal an. Sein Hauptargument: Der Satz „Alle Meinungen sind wahr“ widerspricht sich selbst. Wenn auch die Meinung wahr ist, dass nicht alle Meinungen wahr sind, dann hebt sich die Aussage selbst auf.

Platon kritisiert den Relativismus aber nicht nur logisch, sondern auch politisch. Wenn jede Meinung gleich wahr ist, wird rationale Debatte unmöglich. Wissenschaft und Politik geraten in die Beliebigkeit. Diese Argumente sind bis heute zentral in der Kritik am erkenntnistheoretischen Relativismus.

Wir finden in Platons Argumentation im Theaitetos gegen den Relativismus des Protagoras einem Gedanken, der fast 2.500 Jahre später von Paul Boghossian in Fear of Knowledge wieder aufgegriffen wird: Der Anspruch, dass ‚alle Wahrheit relativ sei‘, widerspricht sich selbst – denn auch diese Aussage müsste dann relativ sein und könnte keine Geltung über sich hinaus beanspruchen. Diese klassische Figur der Selbstwiderlegung ist bis heute eines der stärksten Argumente gegen erkenntnistheoretischen Relativismus.

Die Sophisten als erste postmoderne Denker?

Die Sophisten wie Gorgias oder Thrasymachos vertraten oft Positionen, die an moderne Dekonstruktionen erinnern. Gorgias‘ radikale Dreifachthese lautete:

  • Es gibt nichts.
  • Wenn es etwas gibt, kann man es nicht erkennen.
  • Und selbst wenn man es erkennen kann, kann man es nicht mitteilen.

Diese Position, die Sprache, Erkenntnis und Wirklichkeit voneinander trennt, findet sich ähnlich in Derridas Sprachskepsis oder Foucaults Machtbegriff. Der Gedanke, dass Wahrheit konstruiert sei, hat hier seinen historischen Vorläufer.

Die antiken Skeptiker: Wahrheit als unerreichbares Ideal

Anders als die Sophisten bezweifelten die pyrrhonischen Skeptiker nicht die Existenz von Wahrheit, sondern unsere Möglichkeit, sie zu erkennen. Sie propagierten „Epoché“ – das Urteilsenthalten –, weil jeder Aussage eine gleich starke Gegenposition entgegengesetzt werden könne (Isosthenie). Ihr Einfluss reicht bis zu Descartes‘ methodischem Zweifel und zur modernen erkenntnistheoretischen Skepsis.

Aristoteles: Ein alternatives Fundament

Aristoteles stellte dem Relativismus ein rationales Fundament entgegen. Mit seinem Satz vom Widerspruch – dass eine Aussage nicht zugleich wahr und falsch sein kann – legte er die Grundlage für logisches Denken und empirische Wissenschaft und trat relativistischen Gedanken direkt entgegen. Seine Philosophie betont die Möglichkeit objektiver Erkenntnis durch Vernunft und Erfahrung.

Fazit: Die Antike als Spiegel der Gegenwart

Die Relativismus-Debatte ist so alt wie die Philosophie selbst. Schon die Antike kannte die Argumente, die heute in Diskussionen um „alternative Fakten“ und „gefühlte Wahrheiten“ wiederkehren. Protagoras, Gorgias und die Skeptiker auf der einen Seite, Platon und Aristoteles auf der anderen, markieren die großen Linien eines Streits, der bis heute andauert.

Wer den modernen Relativismus verstehen will, sollte wissen, woher er kommt.