Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

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Das Grillenzirpen der SPD – und das doppelte Spiel der FAZ

Grillenzirpen und Nebelhörner – visualisiert von Microsoft Copilot

Manchmal hilft die Natur bei der Beschreibung des Politischen. Grillen zum Beispiel. Sie zirpen. Unermüdlich. Und ganz gleich, was ringsum passiert – das Zirpen bleibt gleich. Es hat keinen Bezug zur Wirklichkeit, sondern scheint eine Art akustischer Selbstberuhigung zu sein. Und damit wären wir bei der SPD.

Denn wer, wie CDU-General Carsten Linnemann, derzeit unablässig verkündet, Deutschland stehe „vor einem Herbst der Reformen“ – und wer darin radikale Eingriffe ins soziale Gefüge sieht: Kürzungen, Repressionen, Entlastungen für Vermögende, Bürokratisierung statt Hilfe – der muss sich fragen: Warum hört man von der SPD dazu nichts außer dem vertrauten Zirpen?

In seinem FAZ-Meinungsnewsletter vom 7. August greint Daniel Deckers über das angeblich gebrochene Versprechen eines „Reformherbstes“. Als verhinderten Reformminister ohne Amt zeichnet er Linnemann, das Bild eines Getriebenen, dem bloß der Koalitionspartner SPD (sic!) den Weg bei seinen grandiosen Reformideen zur Sozialpolitik verstellt. Dass dieser Koalitionspartner längst stillschweigend so gut wie alle rechtlich fragwürdigen, realitätsfernen und unsozialen Narrative der Union mitträgt, bleibt unerwähnt. Stattdessen mimt Deckers den enttäuschten Chronisten einer SPD, die sich „nicht mehr aufraffen“ könne.

Tatsache ist: Es gibt keine Reform, die sich bislang an einer humanen, sozial gerechten Wirklichkeit orientiert hätte. Stattdessen erleben wir den Versuch, im Grunde längst delegitimierte Diskurse noch weiter in Richtung autoritären Sozialabbaus zu verschieben. Was nicht als Leistung „verwertbar“ ist, gilt plötzlich als staatszersetzend. Und währenddessen deckt die FAZ mit ihrer klassenpolitischen Kommentierungsmoral den Mantel der intellektuellen Anständigkeit über ein durch und durch regressives Denken.

Doch was dabei vergessen wird: Nicht jeder gesellschaftspolitische Furor landet automatisch im Gesetzblatt. Spätestens wenn die Ministerialbürokratie prüft, was sich tatsächlich umsetzen ließe, stößt der Klassenkampf von oben auf einen Widerstand, den die FAZ gerne als „Verwaltungshindernis“ verunglimpft: die rechtsstaatliche Prüfung, das Grundgesetz, die Verhältnismäßigkeit, das Sozialstaatsprinzip. Die Frage ist, von welcher Bedeutung dies auf Dauer ist, in einer Zeit, wo an der Rechtstreue von Regierungsmitgliedern gezweifelt werden muss.

Auch Adenauer oder Erhard, bei allem Unterschied, hätten sich bei mancher „sozialpolitischen Idee“ der aktuellen CDU wohl am Kopf gekratzt.

Und die SPD?
Sie zirpt. Leise. Anhaltend und wirkungslos.
Während die Angriffe auf das Soziale längst mit Nebelhörnern geführt werden.

Deckers irrt, wenn er aus einer erstaunlichen Perspektive heraus ausgerechnet der Koalitions-SPD die Bremserrolle, also sozialpolitische Verantwortung, zuschreibt. Das mag in Teilen der Partei und der Fraktion noch leise flackern, das Bollwerk gegen Pläne zur Herabwürdigung der Bedürftigsten in der Koalition ist sie wohl nicht.


Wenn Skepsis zur Verweigerung wird – eine Replik auf Psirams ME/CFS-Serie

Vom Zweifel zur Auflösung – Microsoft Copilot

Wer sich das Etikett des Skeptikers zu eigen macht, verpflichtet sich – so sollte man meinen – zu intellektueller Redlichkeit, methodischer Strenge und erkenntnisoffener Kritik. Doch was, wenn aus Skepsis eine Rhetorik des Nichtwissens wird? Wenn der Zweifel nicht mehr fragt, sondern nur noch zersetzt? Wenn jede Hoffnung als Naivität erscheint – und jeder Forschungsansatz als übergriffig?

Die anonyme Reihe auf dem Psiram-Blog zum Thema ME/CFS, mittlerweile vier Artikel lang (hier der vierte Teil, der den Anstoß zu diesem Kommentar gab), zeigt exemplarisch, wie sich skeptischer Anspruch in erkenntnistheoretischen Nihilismus verkehren kann. Die Texte sind sprachlich versiert, bemüht analytisch – und doch durchzieht sie ein Grundton distanzierter Überlegenheitsattitüde, der an keiner Stelle fragt: Was wäre, wenn hier tatsächlich etwas in Bewegung gerät? Was wäre, wenn ernsthafte Forschung endlich möglich wird, nach vier Jahrzehnten strukturellen Desinteresses?

Stattdessen: Alles wird kleingeredet. Wir wissen nichts. Wir haben nichts. Wir dürfen nichts hoffen. Eine Misstrauensästhetik, verkleidet als Wissenschaftskritik. Der Psiram-Autor präsentiert sich als wohlmeinend abgeklärt – doch unter der Oberfläche wirkt sein Text wie ein intellektuelles Nein-Sagen – elegant formuliert, aber letztlich ohne Perspektive.

Was in dieser Serie völlig ausgeblendet bleibt: Dass es sich bei ME/CFS um eine Erkrankung handelt, die über Jahrzehnte marginalisiert, missverstanden und psychologisiert wurde. Dass das jetzige Forschungsinteresse nicht Ausdruck einer Mode ist, sondern einer überfälligen Korrektur. Dass viele der wissenschaftlichen Sackgassen, die der Autor betont, eben deshalb entstanden sind, weil man sich zuvor weigerte, systematisch und unvoreingenommen zu forschen.

Das ist bedauerlich. Denn ME/CFS ist nicht nur ein medizinisches Thema, sondern auch ein Prüfstein für den Zustand unserer wissenschaftlichen Kultur: Wie gehen wir mit Unsicherheit um? Mit Betroffenen, die lange ignoriert wurden? Mit Forschung, die tastet statt triumphiert? Wer hier reflexhaft abwinkt, entzieht sich einer moralischen wie erkenntnistheoretischen Herausforderung.

ME/CFS betrifft Millionen weltweit, hunderttausende hierzulande – viele davon leben seit Jahren in einem Zustand körperlicher und materieller Not, gesellschaftlicher Unsichtbarkeit und medizinischer Vernachlässigung. Es steht mehr auf dem Spiel als akademischer Diskurs.

Der menschliche Faktor: Forschung und Fürsorge

ME/CFS betrifft Menschen – keine Abstrakta, keine bloßen Forschungsobjekte. Es geht um Lebenswirklichkeit, Leid, verlorene (Lebens-)Zeit. Dass die wissenschaftliche Kultur Jahrzehnte gebraucht hat, um diese Krankheit ernst zu nehmen, ist nicht nur ein medizinischer Fehler, sondern ein humanistisches Versäumnis. Die Autorin Margarete Stokowski, selbst betroffen, brachte es auf den Punkt: Forschung braucht nicht nur Methodik – sondern Haltung. Eine, die auch die Würde der Kranken im Blick behält.
„Wer für Menschenrechte und Empathie eine Speichelprobe braucht, bei dem läuft etwas grundlegend falsch.“
– Margarete Stokowski, Die letzten Tage des Patriarchats

Im gesamten Psiram-Text bleibt dieser Aspekt seltsam ausgespart, als wäre Wissenschaft ein rein kognitives Spiel, losgelöst von Verantwortung. Wenn man den Grundton des Textes nicht als regelrechten Kulturpessimismus liest, bleibt zumindest der Eindruck einer intellektuellen Weltabgewandtheit, die ihre skeptische Pose für Tiefe hält – und dabei das Menschliche aus dem Blick verliert.

Skepsis ist kein Freibrief für Weltabgewandtheit. Und schon gar kein Alibi für Spott, Zynismus oder hohle Rhetorik. Wer Kritik übt, muss auch zeigen, wie es besser geht – oder zumindest anerkennen, dass andere es versuchen.

Denn das Gegenteil von Aufklärung ist nicht Irrationalität – es ist der Zynismus einer scheinbar überlegenen Perspektive. Und dieser tarnt sich gern als Skepsis. Was wir brauchen, ist aber eine aufgeklärte Skepsis, die sich nicht im Zweifel erschöpft, sondern verantwortungsvoll fragt, wohin der Zweifel führen soll.


Warum Pseudomedizin mehr schadet als nur dem Einzelnen

Eine Nachbetrachtung zum Vortrag beim Themenabend Pseudomedizin „Hilft’s nicht, so schadet’s nicht“ der Partei der Humanisten, 20. März 2025

Am 20. März 2025 durfte ich im Rahmen eines Themenabends der Partei der Humanisten (PdH) einen Vortrag über das Schadenspotenzial der Pseudomedizin halten. Die Veranstaltung, deren Mitschnitt inzwischen online abrufbar ist, hatte ein erklärtes Ziel: differenziert, aber deutlich zu klären, warum die allzu oft verharmlosten „alternativen“ Heilverfahren nicht bloß medizinisch fragwürdig, sondern ethisch und auch gesellschaftlich hochproblematisch sind. Und doch blieb – bei aller gebotenen Informationsdichte – eines noch im Raum stehen: die tiefere Bedeutung des Begriffs „Schaden“.

Denn was meinen wir eigentlich, wenn wir von der Gefährlichkeit pseudomedizinischer Verfahren sprechen?

Die unsichtbare Gefahr

Die gängige Unterscheidung zwischen gefährlicher und harmloser Pseudomedizin wirkt auf den ersten Blick vernünftig: Was nicht unmittelbar schadet, könne man doch „laufen lassen“. Doch genau diese Haltung ist Teil des Problems. Denn sie verkennt, dass Schaden auch dort entsteht, wo er nicht physisch messbar ist – etwa durch epistemische Irreführung, kulturelle Normalisierung irrationaler Denkweisen oder strukturelle Fehlallokation von Ressourcen im Gesundheitswesen.

Pseudomedizin ist selten evidente Todesursache – aber oft die Ursache einer falschen Entscheidung. Und damit die Mitursache von Leid, das hätte vermieden werden können.

Vor allem aber ist Pseudomedizin keine isolierte Erscheinung, sondern Teil eines kulturellen Musters: Sie gedeiht dort, wo der Unterschied zwischen Wissen und Meinung, zwischen plausibler Evidenz und persönlichem Gefühl erodiert. Wenn Menschen lernen, auf „eigene Überzeugung“ mehr zu vertrauen als auf gesicherte Erkenntnis, dann ist der Weg zur Wissenschaftsfeindlichkeit, zur Impfskepsis oder zur „gefühlten Wahrheit“ längst beschritten.

Der eigentliche Schaden

Gerade Homöopathie – das Paradebeispiel einer systematisch irrelevanten Methode – hat über Jahrzehnte hinweg ihre Ungefährlichkeit wie einen Persilschein vor sich hergetragen, ja, sich sogar mit ihrer angeblichen besonderen Bedeutung für den Patientenschutz gebrüstet. Und doch untergräbt sie – wie viele andere „sanfte“ Verfahren – genau das Fundament, auf dem verantwortbare Gesundheitsentscheidungen ruhen: das Vertrauen in die Prüfbarkeit von Wissen.

Die Behauptung „Es hilft doch!“ ersetzt die Frage: „Woher wissen wir das?“. Und genau in dieser Verschiebung liegt der eigentliche Schaden. Es geht um mehr als Medizin – es geht um das gesellschaftliche Wahrheitsklima. Um die Bereitschaft, sich kritischen Maßstäben zu stellen. Um die Fähigkeit, zwischen Kausalität und Korrelation, zwischen Empirie und Wunschdenken zu unterscheiden.

Die Gefahr der Pseudomedizin liegt nicht nur im Körper, sondern im Kopf. Nicht nur im Einzelfall, sondern im Diskurs. Und deshalb ist ihre Kritik nicht nur Angelegenheit von medizinischen Detailfragen – sondern eine Frage der soziokulturellen Hygiene.

Aufklärung als Haltung

Wer Wissenschaft gegen Populismus und Beliebigkeit verteidigen will, muss sich auch erkenntnistheoretisch wappnen. Es genügt nicht, auf die Objektivität von „Zahlen, Daten, Fakten“ zu pochen, wenn wir nicht zugleich zeigen können, warum sie gelten dürfen und wie sie zustande kommen.

Der Skeptizismus, den wir brauchen, ist kein kalter Positivismus. Er ist ein ethischer Realismus – offen für Situiertheit, aber verpflichtet auf Wahrheit. Ohne diesen Anspruch verlöre Wissenschaft ihre gesellschaftliche Relevanz. Und Aufklärung ihren Sinn.


Die Wurzeln des Relativismus IV – Das 20. Jahrhundert bis zur Postmoderne

Zwischen Wahrheitssuche und Wahrheitsverachtung

Es bleibt noch die Lücke zu schließen von Nietzsche über den Historismus und den Pragmatismus bis zum Durchbruch der radikalen Postmodernen in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Zu berichten gibt es genug.

Der Wiener Kreis – Wissenschaft als logische Konstruktion

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich mit dem Wiener Kreis eine Gruppe von Philosophen, Mathematikern und Wissenschaftstheoretikern, die versuchte, der Philosophie eine neue Grundlage zu geben. Ihre Antwort auf metaphysische Spekulation und erkenntnistheoretische Beliebigkeit war der logische Empirismus: Aussagen sollten nur dann als sinnvoll gelten, wenn sie entweder logisch beweisbar oder empirisch verifizierbar sind.

Rudolf Carnap, Moritz Schlick und andere wollten mit Hilfe der formalen Logik und einer streng empirischen Wissenschaftssprache eine objektive Erkenntnisbasis schaffen. Die Wahrheit sollte so weit wie möglich unabhängig vom Subjekt formuliert werden – intersubjektiv überprüfbar, rational prüfbar, frei von metaphysischer Überhöhung.

Diese Idee stellte eine der stärksten Gegenbewegungen zum Relativismus dar. Und doch bereitete der Wiener Kreis – paradoxerweise – auch ungewollt den Weg zur Kritik: Der Anspruch auf vollständige Verifizierbarkeit aller sinnvollen Aussagen erwies sich als zu streng, wie Karl Popper später betonte.

Karl Popper und die Falsifikation

Poppers Kritik an der Verifikationsthese war bahnbrechend: Wissenschaft, so Popper, könne nie endgültig verifizieren, sondern nur falsifizieren. Eine Theorie ist umso wissenschaftlicher, je mehr sie sich riskanten Tests aussetzt und prinzipiell widerlegbar ist.

Damit brachte Popper eine neue Klarheit in die Diskussion: Objektive Wahrheit bleibt das Ziel, aber der Zugang erfolgt durch vorläufige Annäherung – durch Theorien, die sich in kritischer Auseinandersetzung bewähren müssen.

Poppers Philosophie ist keine Einladung zum Relativismus, sondern im Gegenteil: ein Plädoyer für die Widerlegbarkeit als epistemisches Ethos. Doch auch hier schleicht sich ein Relativitätsmoment ein: Unsere Wahrheiten sind immer hypothetisch, nie absolut sicher – und das öffnet späteren Theorien, die aus dieser Vorläufigkeit ein Beliebigkeitsprinzip machen, eine Hintertür.

Die Dialektik der Aufklärung – Misstrauen gegenüber der Vernunft

Adorno und Horkheimer veröffentlichten 1947 ihre berühmte Dialektik der Aufklärung – eine Analyse, die mit dem Rationalitätsbegriff der Moderne hart ins Gericht geht. Ihr Grundgedanke: Die Aufklärung, angetreten, um die Menschheit von Mythen zu befreien, habe sich in ein System der Kontrolle und Herrschaft verkehrt. Instrumentelle Vernunft diene nicht mehr der Emanzipation, sondern der Effizienz, der Berechnung, der Machtsicherung.

Dieser Gedanke nährt ein tiefes Misstrauen gegen die Möglichkeit einer neutralen, objektiven Wahrheit. Auch wenn Adorno und Horkheimer nie explizit relativistisch argumentierten, stellten sie doch die zentralen erkenntnistheoretischen Grundannahmen der Aufklärung infrage. Das Subjekt, das erkennt, ist bei ihnen immer schon ein Teil der Machtverhältnisse – eine Sichtweise, die Michel Foucault später radikal ausformulieren wird.

Thomas Kuhn und das Paradigma

Mit Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) kam ein weiteres Element ins Spiel, das den Glauben an linearen Fortschritt und objektive Wahrheit erschütterte. Kuhns These: Wissenschaft entwickelt sich nicht kontinuierlich, sondern in Paradigmenwechseln – und diese sind nicht nur durch rationale Gründe erklärbar, sondern auch durch soziologische, psychologische und institutionelle Faktoren.

Wahrheit wird so zu einem Produkt des jeweiligen Paradigmas. Was als wahr gilt, hängt von der wissenschaftlichen „Weltsicht“ ab, innerhalb derer geforscht wird. Auch Kuhn wollte keinen Relativismus vertreten – er sah seine Theorie als Beschreibung wissenschaftlicher Praxis. Doch seine Ideen wurden später von postmodernen Denkern als Beleg dafür aufgegriffen, dass Wahrheit nur ein Konstrukt der jeweiligen Zeit sei.

Paul Feyerabend – Anything goes?

Feyerabends Against Method (1975) war der wohl heftigste Frontalangriff auf das wissenschaftliche Selbstverständnis seit Nietzsche. Sein berühmter Satz „Anything goes“ wurde oft missverstanden: Feyerabend wollte nicht Anarchie, sondern warnte vor der Verabsolutierung einer einzigen Methode. Wissenschaft, so seine These, sei immer auch historisch gewachsen, geprägt von Machtverhältnissen, Interessen, Zufällen.

Dabei wollte Feyerabend nicht die Wahrheit abschaffen, sondern zeigen: Erkenntniswege sind vielfältig. Er war ein Gegner von Dogmatismus – nicht von Rationalität an sich. Doch viele Leser entnahmen seiner Kritik einen Freifahrtschein für Beliebigkeit. Und so wurde Against Method zu einem der Gründungsdokumente des postmodernen Denkens – wenn auch wider Willen.

Die Postmoderne: Von der Kritik zur Verachtung der Wahrheit

In den 1960er und 70er Jahren vollzieht sich dann ein Wandel: Die produktive Kritik an erkenntnistheoretischen Grenzen schlägt bei vielen Denkern in eine prinzipielle Infragestellung von Wahrheit um. Mit Foucault, Derrida, Lyotard und Butler beginnt die Zeit des starken Relativismus: Wahrheit wird als diskursive Konstruktion entlarvt, Objektivität als Herrschaftsinstrument enttarnt, wissenschaftliche Rationalität als kulturell überformt dekonstruiert. Diese wichtige Periode behandele ich im Detail in meiner neunteiligen Serie zum Erkenntnisrelativismus in der Moderne.

Diese Entwicklung hat tiefgreifende Konsequenzen – nicht nur in der Philosophie, sondern in Bildung, Gesellschaft und Wissenschaft. Wahrheit wird nicht mehr gesucht, sondern „verhandelt“. Es zählt nicht mehr, was stimmt – sondern, wer Deutungshoheit hat.


Epilog: Was auf dem Spiel steht

Wenn ich diese Serie über die Wurzeln des Relativismus schreibe, dann nicht, weil ich der Vergangenheit eine bloße historische Ehrenrunde gönnen will. Sondern weil mir immer deutlicher wird, worum es eigentlich geht: um das große Ringen des menschlichen Geistes mit sich selbst. Um Wahrheit – und um die Frage, ob und wie wir sie erkennen können.

Was sich über Jahrtausende zur Frage entfaltet hat, was wir wissen können und was Erkenntnis ist, stellt keinen bloßen Streit zwischen Meinungen dar, sondern einen geistigen Lehrweg. Einen, der zeigt: Erkenntnis ist nicht einfach da – sie entsteht, wächst, scheitert, steht wieder auf. Sie lebt von Reibung, von These und Antithese, von kritischer Prüfung, Rückschritt und Fortschritt. Und vor allem: Sie lebt davon, dass Menschen sich der Mühe unterziehen, über Wahrheit nachzudenken, anstatt sie entweder zu verordnen oder gleich ganz abzuschaffen.

Damit ist ein Punkt erreicht, an dem das erkenntnistheoretische Projekt der Moderne – die Suche nach gesichertem Wissen – ernsthaft in Gefahr gerät. Genau deshalb ist es so wichtig, die Geschichte dieses Projekts zu kennen – mit all ihren Brüchen, Fortschritten und Umwegen, wobei einmal die relativistischen Ideen fruchtbar waren, weil sie Dogmatismus entgegentraten und dann wieder die Positionen des Objektivismus, weil sie dem Einbruch von unreflektierter Beliebigkeit in den Erkenntnisprozess Grenzen setzten. Es ist auch das Ziel dieser kleinen historischen Serie, beiden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Dass ich mich in der ersten Artikelserie dezidiert gegen den Relativismus der Postmoderne gewandt habe, hat seinen Grund darin, dass dieser die Teilnahme am diskursiven Wechselspiel aufgekündigt hat. Er tritt nicht als zweifelnde Position auf, sondern als Usurpator, der selbst unhinterfragbare Gültigkeit beansprucht. Gerade wenn man die Geschichte kennt, die diese kleine Serie beschreibt, muss das inakzeptabel erscheinen.

Die Geschichte der Erkenntnistheorie ist daher mehr als ein Spezialdiskurs – sie ist ein kollektiver Erfahrungsprozess, wie wir mit uns und der Welt in Beziehung treten. Was wir heute als wissenschaftliche Methode, als kritisches Denken oder als rationale Debattenkultur begreifen, ist das Ergebnis eben jenes jahrhundertelangen Ringens – und damit zu wertvoll, um leichtfertig preisgegeben zu werden.

Radikaler Relativismus – wie ihn Teile der Postmoderne vertreten – bricht dieses Ringen ab. Er setzt sich ans Ende einer Entwicklung, die er weder zu würdigen noch fortzusetzen weiß. In der Behauptung, dass es keine objektive Erkenntnis mehr geben könne, steckt eine stille Verachtung für das, was Generationen gedacht, erprobt und errungen haben. Erkenntnis wird da zum Machtspiel, Wahrheit zur Behauptung, Wissenschaft zur Kulisse.

Dem möchte ich mich entschieden entgegenstellen. Nicht, weil ich naiv an eine „absolute“ Wahrheit glaube, sondern weil ich weiß, dass die Suche nach Wahrheit – in all ihrer Begrenztheit – zu den größten zivilisatorischen Errungenschaften gehört, die wir haben. Sie ist ein Bollwerk gegen Willkür, Manipulation und ideologische Erstarrung.

Die Wahrheit ist keine Murmel, die wir im Spiel verlieren oder gewinnen. Das Streben nach ihr ist eine Haltung – ein Ethos, das sich durch Zweifel und Disziplin hindurch behauptet. Und das wir heute nötiger brauchen denn je.


Die Wurzeln des Relativismus I – Ein Blick in die Antike

Der Reiz des Relativismus

Warum hat der Relativismus einen so dauerhaften Reiz? Vielleicht, weil er dem subjektiven Empfinden des Menschen entgegenkommt. Wer kennt nicht das Gefühl: „Meine Wahrheit ist nicht deine Wahrheit“? Die Vorstellung, dass es keine objektive Wahrheit gebe, sondern jede Erkenntnis relativ zu Perspektive, Kultur oder Sprache sei, fasziniert und beunruhigt gleichermaßen. Dass diese Idee keineswegs neu ist, sondern ihre Wurzeln tief in der Antike hat, ist weniger bekannt.

Der Relativismus hat gedanliche Wurzeln bis zurück ihn die Antike (Microsoft Copilot)

Protagoras und der Homo-Mensura-Satz

Protagoras von Abdera (5. Jh. v. Chr.) formulierte mit seinem berühmten Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ einen frühen epistemischen Relativismus. Was mir erscheint, das ist für mich wahr; was dir erscheint, ist für dich wahr. Wahrheit wird zur Privatangelegenheit.

Diese Position ist jedoch nicht mit der eines modernen Humanismus zu verwechseln. Während dieser sich auf den Menschen auf ethischer Grundlage als vernunftbegabtes Wesen und Träger universeller Werte zentriert, meint Protagoras den Menschen als einzelnes, subjektives Erkenntnissubjekt.

Der Homo-Mensura-Satz ist keine Ethik, sondern eine erkenntnistheoretische Behauptung: Alle Erkenntnis ist relativ zur Wahrnehmung des Einzelnen. Der moderne Humanismus dagegen beruht auf der Idee einer überindividuellen Vernunftfähigkeit des Menschen. Protagoras relativiert Wahrheit; der Humanismus versucht, sie zu begründen. Die oberflächliche Ähnlichkeit der beiden Ansätze – der Mensch im Mittelpunkt – ist also trügerisch.

Platons Fundamentalkritik

Platon greift Protagoras in seinem Dialog Theaitetos frontal an. Sein Hauptargument: Der Satz „Alle Meinungen sind wahr“ widerspricht sich selbst. Wenn auch die Meinung wahr ist, dass nicht alle Meinungen wahr sind, dann hebt sich die Aussage selbst auf.

Platon kritisiert den Relativismus aber nicht nur logisch, sondern auch politisch. Wenn jede Meinung gleich wahr ist, wird rationale Debatte unmöglich. Wissenschaft und Politik geraten in die Beliebigkeit. Diese Argumente sind bis heute zentral in der Kritik am erkenntnistheoretischen Relativismus.

Wir finden in Platons Argumentation im Theaitetos gegen den Relativismus des Protagoras einem Gedanken, der fast 2.500 Jahre später von Paul Boghossian in Fear of Knowledge wieder aufgegriffen wird: Der Anspruch, dass ‚alle Wahrheit relativ sei‘, widerspricht sich selbst – denn auch diese Aussage müsste dann relativ sein und könnte keine Geltung über sich hinaus beanspruchen. Diese klassische Figur der Selbstwiderlegung ist bis heute eines der stärksten Argumente gegen erkenntnistheoretischen Relativismus.

Die Sophisten als erste postmoderne Denker?

Die Sophisten wie Gorgias oder Thrasymachos vertraten oft Positionen, die an moderne Dekonstruktionen erinnern. Gorgias‘ radikale Dreifachthese lautete:

  • Es gibt nichts.
  • Wenn es etwas gibt, kann man es nicht erkennen.
  • Und selbst wenn man es erkennen kann, kann man es nicht mitteilen.

Diese Position, die Sprache, Erkenntnis und Wirklichkeit voneinander trennt, findet sich ähnlich in Derridas Sprachskepsis oder Foucaults Machtbegriff. Der Gedanke, dass Wahrheit konstruiert sei, hat hier seinen historischen Vorläufer.

Die antiken Skeptiker: Wahrheit als unerreichbares Ideal

Anders als die Sophisten bezweifelten die pyrrhonischen Skeptiker nicht die Existenz von Wahrheit, sondern unsere Möglichkeit, sie zu erkennen. Sie propagierten „Epoché“ – das Urteilsenthalten –, weil jeder Aussage eine gleich starke Gegenposition entgegengesetzt werden könne (Isosthenie). Ihr Einfluss reicht bis zu Descartes‘ methodischem Zweifel und zur modernen erkenntnistheoretischen Skepsis.

Aristoteles: Ein alternatives Fundament

Aristoteles stellte dem Relativismus ein rationales Fundament entgegen. Mit seinem Satz vom Widerspruch – dass eine Aussage nicht zugleich wahr und falsch sein kann – legte er die Grundlage für logisches Denken und empirische Wissenschaft und trat relativistischen Gedanken direkt entgegen. Seine Philosophie betont die Möglichkeit objektiver Erkenntnis durch Vernunft und Erfahrung.

Fazit: Die Antike als Spiegel der Gegenwart

Die Relativismus-Debatte ist so alt wie die Philosophie selbst. Schon die Antike kannte die Argumente, die heute in Diskussionen um „alternative Fakten“ und „gefühlte Wahrheiten“ wiederkehren. Protagoras, Gorgias und die Skeptiker auf der einen Seite, Platon und Aristoteles auf der anderen, markieren die großen Linien eines Streits, der bis heute andauert.

Wer den modernen Relativismus verstehen will, sollte wissen, woher er kommt.


Wenn der Common Sense verlorenzugehen droht

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Wer mich kennt, weiß: Ich bin selten schlecht gelaunt und schwer unterzukriegen. Aber inzwischen mache ich mir ernsthafte Sorgen um das, was man den common sense nennt – jenes fragile Netz aus Vernunft, Vertrauen und Verständigungsfähigkeit, das unsere freiheitliche Demokratie zusammenhält.

Ich gehe sogar so weit, das, was mich (wie ich glaube) auszeichnet, die Differenzierung, mal ein Stück weit beiseite zu lassen. Schwarzweiß ist ja eigentlich auch ganz schön. Und es macht das Bild meist auch übersichtlicher, wenn auch die Farbnuancen fehlen.

Bitte sehr, hier kommt meine Vier-Gruppen-Skizze, ein vereinfachter, aber meines Erachtens treffender soziologischer Brennspiegel der Gegenwart. Wer spürt nicht, dass praktisch wir alle, gleich welcher Gruppe oder Schicht wir angehören, in einem dysfunktionalen Spannungsverhältnis zueinander befinden. Dessen Symptom, das Auseinanderfallen, das zunehmende gegenseitige Nichtverstehen, kann vieles erklären.

Gruppe 1: Die Uninformierten und Verunsicherten

Sie sind nicht dumm, aber schutzlos – sie haben keine epistemischen Werkzeuge, um sich in der Flut von Information und Desinformation zu orientieren. Viele waren früher mal anschlussfähig an seriösen Journalismus, heute bleibt ihnen oft nur noch eine emotionale Echokammer, gespeist aus Frust, Gerücht und Bauchgefühl. Für sie wird Aufklärung zur Zumutung, weil sie das Vertrauen in eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit längst verloren haben.

Gruppe 2: Die Intellektuellen im Lagerdenken

Diese Gruppe trägt eine besondere Verantwortung – und kommt ihr allzu oft nicht nach. Statt nüchterne Analyse zu liefern, fabriziert sie moralisch überformte Weltbilder und Diskursblasen. Das ist tragisch: Denn gerade diese Gruppe hätte die Fähigkeit, den Kitt für die Gesellschaft zu liefern. Doch man verwechselt Haltung mit Erkenntnis und ersetzt Argumente durch Empörung.

Gruppe 3: Die Profiteure des Verfalls

Ob gesichtsfeldeingeschränkte Politiker, ideologische Demagogen, überfixierte Narzissten des Wirtschaftslebens oder pseudowissenschaftliche Geschäftemacher – diese Gruppe braucht nur das Feld zu bestellen, das andere brachliegen lassen. Sie gedeihen prächtig in der Unübersichtlichkeit und leben davon, dass es keine gemeinsamen Kriterien für Wahrheit oder Falschheit mehr zu geben scheint. Für sie ist der Zerfall des common sense ein Geschäftsmodell.

Gruppe 4: Die Aufklärer ohne Bühne

Das ist die am stärksten unterschätzte Gruppe – oft verstreut, nicht gut organisiert, vielfach wenig medienaffin, aber redlich, kundig und wach. Skeptiker, Wissenschaftsjournalisten, Philosophen, kritische Lehrer, einzelne politische Akteure mit Gewissen. Ihre größte Schwäche: Sie kommunizieren oft für sich selbst. Ihre größte Stärke: Sie stehen für Prinzipien – ohne Lautstärke, aber mit Substanz. Noch sind sie leise – aber vielleicht ist gerade das ihre Chance. Ihre größte Stärke: Sie haben Prinzipien und lassen sich nicht kaufen. Aber sie machen bei weitem nicht ein Viertel des Ganzen aus, sie sind nur die vierte Gruppe.

Fazit

Eine düstere Einschätzung, ja – und gerade deshalb ist es so wichtig, sich über die Lage klar zu werden. Und sich zu entscheiden, wo man seinen Platz sieht. Denn: Wenn niemand mehr den common sense verteidigt, bleibt nur noch das Spektakel der Lager. Und das ist der Anfang vom Ende vernunftbasierter Öffentlichkeit.


Nachsatz

Ich bin als Skeptiker Mitglied der GWUP und fühle ich mich der vierten Gruppe zugehörig. Ziel eines rationalen kritischen Skeptizismus, wie ich ihn verstehe und die GWUP ihn vertritt, ist nicht, sich einem Lager anzudienen – sondern aufzuklären, zu erklären, zu kritisieren, zu prüfen. Das ist kein bequemer Weg. Aber der einzig redliche. Es fällt nicht leicht, rundum von allen Lagern deshalb angegriffen zu werden, weil man aus guten Gründen keinem angehört. Denn das ist unvereinbar mit der Verpflichtung auf die Grundsätze der Aufklärung und des Humanismus, bei der die Parteinahme für oder gegen etwas oder jemanden – wenn überhaupt – nicht am Anfang, sondern am Ende ernsthafter redlicher Prüfung steht. Und dafür steht seit jeher auch dieser Blog.


Der Feind des Skeptikers ist das Lagerdenken

Die neuen Fronten im vermeintlich aufgeklärten Diskurs

Die aufgeklärte Weltanschauung, zu der sich viele bekennen, lebt von einem Ideal: dass Argumente mehr zählen als Zugehörigkeiten, dass Aufklärung mehr bedeutet als Gesinnung, und dass Skeptizismus nicht bloß ein Label, sondern eine Methode ist. Doch im Schatten aktueller Debatten offenbart sich ein paradoxes Bild: Ausgerechnet jene, die sich selbst als besonders aufgeklärt, kritisch und menschlich empfinden, agieren zunehmend im Modus von Tribalisierung, Kontaktschuld und moralischer Höherbewertung der eigenen Blase. Die Folge: ein Verlust des rationalen Diskurses, wie ihn die skeptische Bewegung immer vertreten hat.

Skeptizismus ist kein Lager, sondern eine Methode

Skeptizismus bedeutet, Annahmen zu prüfen, Argumente zu hinterfragen und Begründungen zu verlangen – unabhängig davon, aus welchem Lager sie stammen. Er lebt von methodischer Distanz, von intellektueller Redlichkeit, vom Mut zur Selbstkorrektur. Wer sich einem „Lager“ zuordnet, definiert die Wahrheit entlang gruppendynamischer Zugehörigkeiten. Damit ist er kein Skeptiker mehr, sondern Aktivist mit Weltbild.

In vielen progressiv-aufgeklärten Milieus hat sich ein Muster etabliert: Wer nicht aktiv Teil der eigenen Deutungsgemeinschaft ist, wird als Gegenspieler markiert. Die Logik folgt einfachen Mustern: Du warst bei jener Konferenz? Dann bist du „rechtsnah“. Du hast dich nicht öffentlich distanziert? Dann bist du Komplize. Wer sich nicht empört, gilt als indifferent. Wer differenziert, als Verdächtiger.

Die GWUP als Projekt rationaler Aufklärung – und ihr Missverständnis bei den neuen Moralisten

Die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) hat sich nie als politisches Lager verstanden. Ihr Anliegen war stets: Wahrheitssuche jenseits ideologischer Vorgaben. Dass sich Menschen aus dem linken oder liberalen Spektrum hier zu Hause fühlen, ist naheliegend – aber nie Voraussetzung. Genau das ist heute für einige Grund zur Anklage: Eine Organisation, die nicht moralisch gelabelt ist, ist verdächtig.

Die Infantilisierung des Diskurses: Wenn Moral Realität ersetzt

Wir erleben eine Verflachung, in der nur noch gilt, wer etwas sagt – nicht was. Eine Referenz auf kritisches Denken wird ersetzt durch Empörungsgesten und Gruppensolidarität. Dabei fühlt sich das neue Lagerdenken selbst als Aufklärung, obwohl es in Wahrheit deren Gegenteil ist: es ist die Übernahme moralischer Gewissheiten ohne Prüfung.

Ein rationaler Humanismus braucht keine Fraktionsdisziplin

Die Ethik eines aufgeklärten Humanismus verlangt keine Fraktionszugehörigkeit, sondern Verantwortlichkeit für das eigene Urteil. Wer – aus welcher Richtung auch immer – die Methode der kritischen Prüfung aufgibt und durch moralische Zugehörigkeitsrhetorik ersetzt, verabschiedet sich aus dem skeptischen Projekt. Wer Skepsis durch Haltung ersetzt, hat beides verloren: die Redlichkeit und die Aufklärung.

Ein Aufruf zur Nüchternheit

Es ist nicht an der Zeit, sich gegenseitig zu belehren. Es ist an der Zeit, innezuhalten und sich zu fragen: Was war das Ziel skeptischer Arbeit? War es Selbstvergewisserung in der eigenen Gruppe – oder der schwierige, aber notwendige Gang durch die Mühlen der Argumente, Differenzen, Widersprüche? Wer letzteres bejaht, ist willkommen. Die anderen können gerne weiter mit sich selbst diskutieren.


Der Feind des Skeptikers ist das Lagerdenken. Wer sich ihm unterwirft, soll sich bitte nicht einreden, er sei ein Skeptiker.


Trust it, this is science!

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Peter Teuschel erinnerte vor einiger Zeit daran, wozu sich die AutorInnen des „Erdblogs“ damals (2017)zusammengefunden hatten: um dem erwartbaren Gegenwind für Ratio und Wissenschaft, den ein „unexpected POTUS“ namens Trump jenseits des Atlantiks mit einiger Sicherheit mit sich bringen würde, halb präventiv, halb kurativ etwas entgegenzusetzen. Auf unseren vergleichsweise begrenzten, aber für die Menschen sehr relevanten Gebieten der Medizin und der Psychologie.

Der genannte POTUS ist nun schon eine ganze Weile überstanden. Ist es deshalb an der Zeit, durchzuatmen, den Staub von den Kleidern zu klopfen und mit einem „wir sind noch einmal davongekommen“ zur Tagesordnung überzugehen? (Das wurde geschrieben, als man sich eine Wiederkehr von Trump auf den Thron kaum bis nicht vorstellen konnte.)

Ersichtlich nicht. Eher sind viele Tendenzen, von denen das Zerrbild eines Präsidenten namens Trump nur ein Teil war, zu einer neuen Qualität von Irrationalität und Faktenleugnung, zu einer post-postfaktischen Situation emergiert. Neue Qualitäten der Irrationalität, der Negation von Fakten, der Vergötzung der eigenen Meinung als sehr bewusst zur Schau getragener „Gegenpol“ zum Reich der Fakten sind entstanden und fast alle haben eine gesellschaftlich-politische Dimension bekommen.

Die Pandemie—Situation hat deutlich werden lassen, wie recht Popper mit seiner Diagnose hatte, der Mensch sei noch längst nicht aus der geschlossenen, der kollektivistischen Gesellschaft in die offene, individuelle übergetreten, die ihn sowohl mit Freiheit wie mit Verantwortung konfrontiert, ja, ihm diese abverlangt. Verschwörungstheorien werden zu Ersatzreligionen, haben eine Sinnlücke zu füllen, mit der viele Individuen überfordert sind. Fakten und Ratio mit ihren oft unausweichlichen Implikationen bleiben bei einem vermeintlichen Kampf gegen angebliche übermächtige globale Kräfte auf der Strecke und werden nur als aufoktroyierte Zwänge gesehen. Die Aufklärung gerät unter die Räder. Antiaufklärerische Tendenzen beginnen, sich in der Politik zu etablieren, flankiert von einer gewissen Hilflosigkeit, die auch in Kommunikationsproblemen ihren Ausdruck fand.

Wie ein Brennglas hat die Pandemie gezeigt, welche grotesken Zerrbilder fanatische Irrationalität erzeugen kann. Proponenten der Impfgegnerschaft sind auf der Bildfläche erschienen, die sich nicht einmal mehr die Mühe scheinwissenschaftlicher Tarnung ihrer Argumentationen machen, bei denen man sich ernstlich nach den Mechanismen fragt, die solche Karikaturen der Fakten hervorbringen, wie sie dann von einem buchstäblich gläubigen Publikum tatsächlich breit rezipiert und weitergetragen werden. Andere traten mit der Autorität von akademischen Titeln auf den Plan und forderten – gleich, ob damit nun Expertise verbunden war oder nicht, damit Glaubwürdigkeit ein. Viele Menschen meinten, Pseudo-Gurus ihrer unverbrüchlichen Gefolgschaft versichern zu müssen, was teils groteske Formen annahm. Vertrauen, in einer wissensbasierten Gesellschaft unverzichtbar, wird nicht mehr den wirklichen Experten, sondern den Opponenten derselben entgegengebracht. Aufklärung geriet an Grenzen, wiewohl sie dadurch nicht in Frage gestellt wird. Nicht einmal die normative Kraft des Faktischen konnte eine Vielzahl Irregeleiteter überzeugen. Keine tausenden von Toten auf den Straßen, keine genmanipulierten Zombies in den U-Bahnen der Republik, keine offensichtliche Gedankenkontrollen durch verimpfte Chips von Gates, Soros und Co. – und gleichwohl …

Die post-postfaktischen Gruppen werden kleiner, aber auch lauter und radikaler, sie wenden sich längst beliebigen Themen zu und scheren sich gar nicht mehr um die verbrannte Erde, die sie woanders hinterlassen haben. Und zu diesem weiten Feld der verbrannten Erde gehören auch die Themenbereiche, deren wir uns in der Hoffnung auf künftig bessere Zeiten vor gut fünf Jahren angenommen hatten: die der Medizin und der Psychologie.

Scheinbar dagegen stehen Untersuchungen, die von einem unter der Pandemie gewachsenen Vertrauen in die Wissenschaft berichten – und der Ansicht vieler, dass die Politik sich stärker nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten auszurichten habe. Ich gestehe, dass meine (völlig unmaßgebliche) „persönliche Erfahrung“ konträr zu diesen Ergebnissen steht, aber ich bin nicht verblendet genug, um nicht zu wissen, dass dies auch der Innensicht meiner kritisch-skeptischen „Blase“ geschuldet sein mag.


Aber nehmen wir einmal diese vergleichsweise große Zustimmung zur „Wissenschaft“. Im September 2019, also vor Ausbruch der Pandemie, gaben 46 Prozent der Befragten an, sie hätten Vertrauen in die Wissenschaft. Kurz nach Beginn der Pandemie, im April 2020, zeigte das Barometer einen Wert von 73 Prozent. Der sank zwar bis November 2020 auf 61 Prozent ab, was aber immer noch mehr war als die Zustimmungsrate vor der Pandemie.

Gut und schön. Reine Zahlen allerdings, die vielleicht einer vorsichtigen Hinterfragung bedürfen. Denn was heißt schon „Zustimmung zur Wissenschaft“? Ist das wirklich durchweg mehr als ein Lippenbekenntnis? Sind die Menschen, die sich so äußern, überhaupt bereit und in der Lage, dies auch auf konkrete Fragen des eigenen Lebens, auf die Alltagserfahrung, in unserem Interessenbereich auf die Gesundheitskompetenz konkret anzuwenden? Was verstehen die Menschen überhaupt unter „der Wissenschaft“? Ich habe da schon so meine Zweifel aus etlichen Jahren mit vielen Diskussionen rund um dieses Thema.

Es gibt eine interessante Studie, die sich in erster Linie mit dem „Vertrauen“ befasst und die man bei der Bewertung dieser doch deutlich positiven Zustimmungswerte „pro Wissenschaft“ mit betrachten sollte. Die eben erwähnte Fragestellung, was die Menschen überhaupt unter „Wissenschaft“ verstehen, spielt hier stark hinein. Die Autoren kommen nämlich zu dem Ergebnis, dass „blindes“ Vertrauen in „die Wissenschaft“, ein unsicherer Boden sein kann. Sie zeigen auf, dass Vertrauen ohne eine gewisse Urteilsfähigkeit bzw. Kompetenz in der Sache wenig wert ist.

„Wer nichts weiß, muss alles glauben“, wussten schon die Science Busters. Und ja, „nur“ Vertrauen, das kann dazu führen, dass auch „offensichtlicher Quatsch“ als „Wissenschaft“ geglaubt und dieser Glaube sich selbst gegenüber mit „Vertrauen“ gerechtfertigt wird. Die Pandemie hat uns das vor Augen geführt – wie viele Leute setzen die Äußerungen von Leuten wie Wodarg, Bhakdi, Schiffmann mit „Wissenschaft“ gleich? Viele, sage ich mal. Dass Leute mit dem Ruf des Wissenschaftlers sich derart in den Wald der unbewiesenen Behauptungen verirren können, ist kein grundsätzlich neues Phänomen, aber eines, das in der Pandemie das Narrativ des „Vertrauens in die Wissenschaft“ schon einigermaßen verbiegt.

Die genannte Studie näherte sich dem Problem, indem die Forscher in vier getrennten Tests die Rezeption pseudowissenschaftlicher Botschaften (ein neues Virus sei als Biowaffe geschaffen worden, Verschwörungserzählungen zu Covid-19 und die angeblich nachgewiesene krebserregende Wirkung von genetisch veränderten Organismen) bei Personengruppen evaluierten, die grundsätzlich positiv, aber unterschiedlich differenziert zu Wissenschaft eingestellt waren.

Teilnehmer, bei denen ein eher allgemeines Vertrauen (!) in die Wissenschaft festgestellt wurde, akzeptierten falsche Behauptungen umso eher, wenn diese wissenschaftliche Referenzen enthielten und sich einer wissenschaftlichen Terminologie bedienten (die sogenannte Wissenschaftsmimikry). Wir sehen das Glatteis, auf das man sich mit dem Abfragen einer reinen „Zustimmung zur Wissenschaft“ begibt.

Zweitens macht es einen Unterschied, ob die kritische Haltung der Probanden sich recht konkret im Wissen um die Bedeutung einer kritischen Bewertung von Aussagen manifestierte – dies verringerte den „Glauben“ an falsche Behauptungen – oder eher in einem allgemeinen Vertrauen (!) in die Wissenschaft – dies führte interessanterweise keineswegs zu einer verminderten Akzeptanz von pseudowissenschaftlichen Behauptungen. Was eine Bestätigung des ersten, eher allgemeinen Ergebnisses darstellt.

In Summa konstatierten die Autoren, dass „Vertrauen in die Wissenschaft“ allein die Menschen geradezu anfällig für pseudowissenschaftliche Behauptungen machen kann. Es scheint bereits eine wissenschaftliche Terminologie oder eine lange Referenzliste auszureichen, um Menschen, die sich selbst für Anhänger der Wissenschaft halten, unkritisch werden zu lassen.


Eine der Mitautorinnen stellte in einem Interview zur Studie fest:

„Die Lösung für die Leugnung des Klimawandels, für irrationale Ängste vor Genfood oder für das Zögern beim Impfen ist nicht, Vertrauen in die Wissenschaft zu predigen. (Was auf einen reinen Appell im Sinne von „Trust me, I’m a scientist“ hinauslaufen würde.) Das Vertrauen in die Wissenschaft spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die wissenschaftliche Bildung zu verbessern und vertrauenswürdige von nicht vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden. Vertrauen in die Wissenschaft behebt jedoch nicht alle Übel und kann zu Anfälligkeit für Pseudowissenschaft führen, wenn Vertrauen bedeutet, nicht kritisch zu sein.“

Und hier kommen nehmen mir die Autoren sozusagen die Worte aus dem Mund: sie sehen eine nachhaltigere Lösung zur Eindämmung von Fehlinformationen darin, so früh wie möglich wissenschaftliche Grundkompetenz („methodologische Kompetenz“) zu vermitteln. Also bereits in der Schule, und m.E. nicht erst in der gymnasialen Oberstufe: Was ist Wissenschaft? Was ist Wissenschaft nicht? Was für einen Anspruch stellt sie selbst an sich – und welchen nicht? Und später: was ist die wissenschaftliche Methodik und auf welchen Prämissen beruht sie? Was ist ihre Bedeutung für unser Leben? Was sind die Kriterien, an denen man aussagefähige wissenschaftliche Erkenntnisse identifiziert?

Bildung ist die Währung und das Menschheitskapital der Zukunft und vor allem das Lebenselixier demokratischer Strukturen auf humanistischem Boden. Es ist jämmerlich, welchen Stellenwert dieser einzigartige und herausragende Gesichtspunkt in der angeblichen „Bildungsrepublik Deutschland“ (Angela Merkel) einnimmt, ideell wie materiell. Musste auch mal gesagt werden.

Wir halten fest: Die Sache mit dem Vertrauen (der „Zustimmung“) ist ein wahrlich schlüpfriger Boden, solange sie nicht von kritisch-skeptischen Grundkompetenzen flankiert wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich mein – wie gesagt, unmaßgebliches – Bauchgefühl vielleicht noch einigermaßen mit dem Befund, immerhin die Mehrheit äußere „Zustimmung zur Wissenschaft“, in einen gewissen Einklang bringen.


Alternatives Fakt-Checking

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

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Es ist wirklich nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig, als Kritiker von Pseudomedizin und Impfgegnerschaft ständig mit Unterstellungen konfrontiert zu werden, man sei eh nur Knecht der Pharmaindustrie, gekaufte Mietfeder, würde unwissenschaftlich argumentieren und handeln, habe andere sinistre Motive und sei generell ein hinterhältiger, gewaltbereiter und schlechter Mensch, weil …

So etwas kommt nicht etwa nur aus den Schmuddelecken des Internets. So etwas kommt von Leuten aus der pseudomedizinischen Szene, bei denen völlig klar ist, dass sie es besser wissen. Dort wird von Menschen, die zweifellos einen Überblick über die Fakten haben, ungehemmt wider besseres Wissen die Lächerlichkeit von den bezahlten Pharmaknechten verbreitet, was schon mal so weit ging, dass führende Köpfe der wissenschaftlichen Pseudomedizinkritik als „Testimonials“, also bezahlte Werbegesichter, der bösen Pharmaindustrie hingestellt wurden.

Wozu so etwas führen kann, zeigt ein Beispiel aus dem scheinbar weit entfernten Australien. Dort gibt es die Familie Riley, deren wenige Monate alter Sohn vor ein paar Jahren an Keuchhusten verstarb – als er noch nicht geimpft werden konnte. Dies geschah in einer australischen Community mit den geringsten Impfraten landesweit.

Die Familie richtete eine Art Gedenkseite für ihren kleinen Riley ein, auf der sie fürs Impfen und die Aufklärung darüber wirbt. Die Seite wurde vielfach positiv angenommen. Jedoch…

Der Blog „Debunking Denialism“ berichtet:
„Online hat die Familie viel Unterstützung erhalten, aber auch viel Hass. Letzteres ist im Laufe der Zeit immer extremer geworden. Sie wurden sogar beschuldigt, Lockvögel für die Pharmaindustrie zu sein, dass sie nur Krisen herbeireden sollten und sogar, dass sie sogar ihren eigenen Sohn Riley ermordet hätten und dies mit der Impfpropaganda vertuschen wollten.

Uns wurde gesagt, dass unser Kind eine Puppe gewesen sei und dass wir Schauspieler für „Big Pharma“ wären. Uns wurde gesagt, dass unser Sohn nie existiert hat, oder dass Rileys Tod von den Gesundheitsbehörden inszeniert wurde, um die Impfbereitschaft zu fördern. Uns wurde sogar vorgeworfen, unser Kind ermordet und den Keuchhusten nur vorgeschoben zu haben, um damit durchzukommen“, berichtete das Ehepaar.

Das alles nicht punktuell, sondern ganz offenbar als Teil einer in Australien großangelegten zentral orchestrierten Anti-Impf-Kampagne.

Zu dieser Kampagne gehören sogenannte „Fact Checker“, die eine direkt gegen die Familie Riley gerichtete Seite im Netz unterhalten. Diese Seite geriert sich als Wächter der Wahrheit, verbreitet nicht nur die genannten unsäglichen Scheußlichkeiten gegen die Rileys. Sondern stellt die Rileys zudem als Menschen dar, die sich angeblich gegen Kritik immunisieren mit ihrer „Story“ und postuliert, dass dem im Interesse der Wahrheit und Redlichkeit entgegengetreten werden müsse:

Aus irgendeinem Grund sind sie (die Rileys) der Meinung, dass sie gegen Kritik immun sein sollten. Sie denken, dass es in Ordnung ist, öffentlich für die Einschränkung der Rechte von Menschen einzutreten, und sie haben öffentlich eingestanden, dass sie es für akzeptabel halten, andere Kinder deshalb zu bestrafen (to punish), weil sie selbst eine Erfahrung unter völlig anderen Umständen gemacht haben.“

Und was dergleichen Atemberaubendes mehr ist. Wer interessiert ist, findet noch mehr in diesem Beitrag auf Debunking Denialism.

Manchmal will mir scheinen, von dergleichen sind wir nicht weit weg. In Schweden wurde im letzten Jahr so eine Pseudo-Faktencheck-Seite debunked, die sich nicht primär, aber auch auf die Verbreitung pseudomedizinischen Unsinns bezog. Die Seite hatte schnell eine gewisse Reichweite erlangt. Hier ein Screenshot mit einem „Bericht“ über die HPV-Impfung, mit der Schlagzeile „Faktiskt.se deckt auf – Zusammenhang zwischen HPV-Impfung und Zervikalkrebs“ – man glaubt es kaum, hier wird unverfroren das glatte Gegenteil der Tatsachen behauptet und der Artikel ist mehrere zehntausend Mal gelesen worden…

Der Beitrag auf der Pseudofaktencheck-Seite behauptete, die „Wahrheit“ über die HPV-Impfung sei, dass sie Zervikalkrebs auslöse und nicht davor schütze.

Beim Auf-den-Kopf-stellen von Fakten ist die Szene auch bei uns ohnehin schon bemerkenswert rührig, mit zunehmender Tendenz. Auf welche Weise das teilweise geschieht, wird dadurch illustriert, dass die Verteidiger der Pseudomedizin und die Streiter gegen das Impfen mehr und mehr bemüht sind, nicht nur einen Wahrheits-, sondern auch noch einen Moralanspruch für ihre Position zu behaupten. Darin liegt ein gefährliches Potenzial, insofern als dass die beklagenswerte Voreingenommenheit weiter Teile der Öffentlichkeit gegen Wissenschaft, wissenschaftliche Medizin und die damit verbundenen „Feindbilder“ auch noch scheinmoralisch unterfüttert und gefestigt wird. Dass derartige scheinmoralische Positionen nur durch das Negativum der Diskreditierung von Persönlichkeiten der skeptischen Szene erreicht werden können, scheint dabei ein vernachlässigbarer bis begrüßenswerter Nebeneffekt zu sein.

Natürlich kann man das als letzte Verteidigungslinie einer jeder argumentativen Basis verlustig gegangenen Front ansehen. Man darf aber die Wirkung auf das Publikum ebensowenig außer Acht lassen wie den Umstand, dass es sich schlicht um Diffamierung von aus eigenem Antrieb kritisch engagierter Menschen handelt. Ein drastisches Beispiel dafür, wie der Weg von einer irgendwie noch als solche wahrnehmbaren Gegenkritik über bereits nicht mehr akzeptable ad-hominem-Angriffe bis hin zu einem scheinmoralischen Standpunkt, ja einer Selbstüberhöhung, führt, ist in der aktuellen Wochenendausgabe der TAZ in einem – dies sei offen eingestanden, unerwartet – kritischen und sich klar positionierenden Artikel nachzulesen. Der, wie nicht anders zu erwarten, in den sozialen Medien teils haarsträubende Kommentare nach sich zieht.


Man wird also ein Augenmerk auf Versuche der Pseudomedizin richten müssen, ihrerseits mehr als bisher schon in eine scheinbar aufklärerische Rolle mit einer pseudomoralischen Verbrämung zu schlüpfen. Die Blaupause hierfür gibt es längst, wie ich einleitend gezeigt habe.

Und damit sich der Kreis schließt: Eigentlich sind wir schon so weit. Nicht nur in Australien treten Verbreiter pseudowissenschaftlichen Unsinns mit dem wortwörtlichen Anspruch auf, als „Faktenchecker“ die wahren Aufklärer zu sein, siehe z.B. hier.

Aufklärung tut not, mehr denn je. Dabei fühlen sich die kritischen Skeptiker jedenfalls meines Umfeldes einer sachbezogenen, von persönlichen Angriffen und Unterstellungen freien Argumentation verpflichtet, ungeachtet dessen, ob dies umgekehrt auch der Fall ist.


Bildnachweise: Pixabay / Screenshot faktiskt.se via Debunking Denalism

Eigenverantwortung in Gesundheitsfragen – Freiheitsrecht oder Missbrauchspotenzial?

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Bei Verfechtern einer „eigenverantwortlichen Impfentscheidung“ wie auch bei solchen, die Homöopathie „unter die Leute bringen“ wollen, beobachte ich seit einiger Zeit gleichermaßen eine diskreditierende Strategie gegenüber den jeweiligen Kritikern, mit der diesen Absichten zu einer „Beschneidung von Freiheitsrechten“, einer „Einschränkung der Therapiefreiheit“ und gar eine Nichtachtung demokratischer Regeln vorgeworfen wird. Gleichzeitig werden – hierzu spiegelbildlich – gegenüber der eigenen Klientel „bürgerliche Freiheitsrechte“, „Therapiefreiheit“ und „Patientenautonomie“ als emotionale Ankerpunkte gesetzt. Im Grunde reicht darauf die Entgegnung: Wer sich auf Autonomie und Wahlrechte der Patientenschaft beruft und gleichzeitig die für deren Wahrnehmung wesentlichen Informationen unterdrückt und verfälscht, gleich ob aus Unkenntnis oder aus Ignoranz, hat sein eigenes Argument schon ad absurdum geführt. Und ja: Beide genannten Fraktionen betreiben Faktenleugnung und Desinformation, dass sich die Balken biegen.

I.

Hier geht es mir aber um etwas anderes. Warum „wirken“ diese auf persönliche Freiheitsrechte, auf demokratische Prinzipien und ihren Erhalt abzielenden Argumentationen so sehr, dass sich so viele Menschen sich in diesen Kontexten tatsächlich auf sie berufen? Woher dieser Mentalitätswandel, von der tiefen Dankbarkeit bei der Einführung der Impfungen gegen Masern und Polio, die damals die Gesellschaft durchdrang bis zur heutigen Einstellung, die häufig unter Missachtung der objektiven Fakten den Vorrang der Individualität gegen jede Vernunft und auch gegen jede Solidarität als absoluten Wert hochhält?

Natürlich liegt ein Teil der Faktenresistenz beim Impfthema darin begründet, dass schlicht und einfach die drastischen Folgen epidemisch auftretender Kinderkrankheiten nicht mehr augenfällig sind. Aus den Augen – aus dem Sinn, so ist es nun einmal. Im Falle der Homöopathie ist es nicht so viel anders. Die Fälle, in denen die Homöopathie eine notwendige Behandlung verzögert oder gar verhindert, werden statistisch nicht erfasst und gelangen auch aus anderen Gründen in aller Regel nicht zur Kenntnis einer breiten Öffentlichkeit. Nicht im Auge – nicht im Sinn, müsste man hier sagen. Und die heutige medizinische Versorgung in einem – trotz aller Verbesserungsbedarfe – besten Gesundheitssysteme der Welt bildet für so manchen Anhänger von „sanft, natürlich und unwirksam“ letztlich eine hochwillkommene Rückversicherung.

Das Suggerieren, eine „eigenverantwortliche Impfentscheidung“ sei das Nonplusultra der modernen, selbstbewussten und demokratisch-freiheitlichen Familie, ist der Hauptaspekt der Impfgegnerschaft zur Beeinflussung ihrer potenziellen Klientel. So versteht es beispielsweise der Verein „Ärzte für individuelle Impfentscheidung“, die epidemiologischen Erkenntnisse der Wissenschaft auf der Grundlage von Millionen von Impfungen, die zu den öffentlichen Impfempfehlungen führen, auf eine individuelle Problematik des Einzelfalles herunterzubrechen und daraus die absolute Notwendigkeit einer Einzelfallentscheidung von medizinischen Laien – den Eltern – abzuleiten. Niemand leugnet, dass jede Impfung eine Einzelentscheidung ist – natürlich, aber eben auf der breiten Basis der vorliegenden epidemiologischen Daten und unter Beurteilung der Impffähigkeit des Kindes. Aber nicht in dem Sinne, Risiken und Nutzen von Impfungen in jedem Einzelfall abzuwägen – das ist blanker Unsinn und würde – ernstgenommen – mehr Unsicherheiten in sich bergen als die Verlässlichkeit der vorhandenen epidemiologischen Daten. Jede Wette: Kein Fachepidemiologe würde eine solche Form der „eigenverantwortlichen Impfentscheidung“ für seine Kinder andenken. Aber – der Appell im eingangs geschilderten Sinne scheint Wirkung zu zeigen.

Die Homöopathie, obwohl es ihr ja nicht um die Verhinderung einer Maßnahme, sondern um die Förderung ihrer Methode durch die Schaffung eines größtmöglichen Marktes geht, argumentiert im Grunde genauso. Wir erleben derzeit in der laufenden Werbekampagne der Deutschen Homöopathie Union (DHU), dem deutschen Marktführer für homöopathische Mittel, einen ebensolchen lautstarken Appell an persönliche Einstellungen und Erfahrungen der geneigten Kundschaft vor der Folie der Eigenverantwortlichkeit für Gesundheitsbelange [1] , ausdrücklich wird diese Kampagne als „Eintreten für die Therapiefreiheit“ deklariert. Ebenso agiert die organisierte Homöopathielobby im Vorfeld des in Kürze stattfindenden Deutschen Ärztetages, der – angeregt vom Münsteraner Memorandum Homöopathie – über die Abschaffung oder Beibehaltung der „ärztlichen Zusatzbezeichnung Homöopathie“ beraten wird. „Therapiefreiheit“ wird beschworen (wer wollte die abschaffen?), auch in der simplifizierten Variante von „Die Leute wollen es aber“! Genauso wie bei den Impfgegnern wird dabei die wissenschaftliche Faktenlage ausgeblendet – in diesem Falle, dass Homöopathie niemals einen Wirkungsnachweis erbringen konnte und naturwissenschaftlich unplausibel ist, Dies geschieht zugunsten eines Appells an eine scheinbare Patientenautonomie (scheinbar, weil es sie nur unter einer faktenbasierten Information der Patientenschaft geben kann). Die DHU geht so weit, den Kritikern ihrer Kampagne, die auf den Unwert der Homöopathie als medizinische Methode hinweisen, direkte Angriffe auf die Therapiefreiheit zu unterstellen und in deren Kritik eine Verletzung demokratischer Freiheitsrechte zu sehen. [2]

II.

Die Absurdität all dieser Positionen spricht für sich und soll hier auch gar nicht – wiederholter – Gegenstand der Betrachtung sein. Vielmehr wollen wir nach diesen Beispielen auf die grundsätzliche Frage zurückkommen: Woher kommt diese Gewichtung des Freiheitlich-Individuellen, das selbstverständlich ein sehr hoher Wert an sich ist – aber angesichts wissenschaftlicher Fakten, wie in den Fällen der Impfgegnerschaft und der Homöopathie-Propaganda, sehr schnell in einen Aufruf zur Irrationalität umschlägt? Warum verfängt dieser Aspekt und bekommt bei vielen Menschen einen spontan höheren – vielfach emotionalen – Stellenwert als die zum Thema gehörenden wissenschaftlichen Fakten? Warum ist offenbar der Freiraum vorhanden, mit solchen Appellen die Faktenlage völlig in den Hintergrund geraten zu lassen?

In den letzten zwei Jahrzehnten ist auch das öffentliche Gesundheitswesen einem neoliberalen Gedanken zugeneigten Wandel ausgesetzt gewesen. Einerseits fand ein Abbau öffentlicher Gesundheitsdienstleistungen im Sinne eines „schlanken Staates“ statt, andererseits – als „Gegenstück“ – wurde erhöhte „Eigenverantwortung“ der Menschen auch in Gesundheitsfragen propagiert. Auch in dieses Bild gehört die heutige Ausprägung der oft beschworenen „Pluralität“ des Gesundheitswesens, der Selbstverwaltung und Eigenverantwortung der „Player“ im Konzert des öffentlichen Gesundheitswesens und die damit verbundene Scheu, notfalls klar Position für evidenzbasierte, wissenschaftliche Medizin zu beziehen. Gesundheitliche Aufklärung in Sachen Impfen, auch zu pseudomedizinischen Methoden, ist mit dem Austrocknen der Gesundheitsdienste „vor Ort“ ein Mangel geworden. Das gibt Raum einerseits für Verunsicherung der Menschen und andererseits für die Einflüsterungen von der hier in Rede stehenden „Eigenverantwortung“, ohne dass ein Gleichgewicht dazu durch eine wirkliche gesundheitliche Aufklärung vor Ort noch vorhanden ist.

Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist in einem beklagenswerten Zustand. Gerade berichtet das Ärzteblatt darüber, dass selbst die übriggebliebenen Strukturen des ÖGD bei der Nachwuchsgewinnung „chancenlos“ seien. [3] Ein typisch neoliberaler „Erfolg“ der Ideologie vom Ausdünnen öffentlicher Dienstleistungen und der Zuweisung von „Eigenverantwortung“ an den Einzelnen, ob er nun fähig ist, eine solche überhaupt wahrzunehmen oder nicht. Und ja, die Zuweisung von „Eigenverantwortung“ wirkt, hat ihren Effekt auf den modernen Bürger – lockend verpackt in die glänzende Folie der autonomen Wahrnehmung demokratisch-freiheitlicher Bürgerrechte, aber ohne die solide Basis ordentlicher Sachinformation, wie sie beispielsweise ein gut funktionierender Öffentlicher Gesundheitsdienst leisten könnte.

So bleibt es letztlich mehr oder weniger privaten Initiativen überlassen, die notwendige Basisaufklärung wenigstens in Ansätzen zu leisten und den Desinformationskampagnen von interessierter Seite wenigstens hier und da entgegenzutreten. Dafür trifft sie dann, wie aktuell im Falle der DHU-Werbekampagne, der „Bannstrahl“, sie wollten allerlei undemokratisches Teufelszeug durchsetzen, von der Einschränkung der Therapiefreiheit bis zur Missachtung individueller Freiheitsrechte. Vielen Dank dafür.

III.

Dieser Beitrag bezieht keine politische Position, sondern analysiert die Fakten. Gleichwohl könnten die Überlegungen dieses Beitrags – so rudimentär sie sind – zu einem grundsätzlichen Nachdenken darüber anregen, ob und wo sich Gewichte in der Gesundheitspolitik und in der Positionierung der Bevölkerung zu Gesundheitsfragen so verschoben haben, dass Kurskorrekturen notwendig sind.

Es könnte dabei sehr hilfreich sein, für eine Ausrichtung von Gesundheitspolitik die Ottawa-Charta [4] der Weltgesundheitsorganisation zur Hand zu nehmen. Diese fordert für alle Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung für ihre Gesundheit und die Möglichkeit, selbst Entscheidungen in Bezug auf ihre persönliche Gesundheit treffen zu können. Liest man dies richtig, ist dies eben keine Gebrauchsanweisung für eine neoliberale Gesundheitspolitik, die dem Einzelnen kurzerhand die Verantwortung überbürdet, die die öffentliche Hand durch den Rückzug aus elementaren öffentlichen Gesundheitsdiensten freisetzt. Man muss die Ottawa-Charta als Langzeitziel verstehen, dessen Erreichung voraussetzt, dass die Menschen überhaupt erst in die Lage versetzt werden, die angestrebte Eigenverantwortung wahrzunehmen: Durch solide öffentliche Aufklärungskampagnen, durch staatlichen Verbraucherschutz im Gesundheitswesen und die Verbreitung der Evidenzbasierten Medizin, die die wissenschaftlichen Grundlagen aus der klinischen Evidenz zur entscheidenden Grundlage von Therapieentscheidungen macht, die gleichzeitig die ärztliche Kunst des Behandlers und die wohlverstandenen Belange des Patienten berücksichtigen kann, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt erscheint. Desinformation und emotionale Appelle von interessierter Seite statt faktenbasierter Aufklärung an die Adresse einer längst nicht verwirklichten, deshalb manipulationsfähigen Autonomie des Bürgers in Gesundheitsfragen sind ein Missbrauch des Eigenverantwortungsgedankens.


[1] https://homöopathie-natürlich.de/

[2] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2017/10/11/homoeopathie-boom-flaut-ab

[3] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/94844/Oeffentlicher-Gesundheitsdienst-sieht-sich-bei-Nachwuchsgewinnung-chancenlos

[4] http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf


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