Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

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Von Akupunkturmeridianen und Biophotonen

Wie wissenschaftliche Zombies in den Bibliothekskatalog wandern

Neulich erreichte mich über die GWUP eine Anfrage, die – wäre man nicht so abgehärtet – für ungläubiges Kopfschütteln gesorgt hätte.
Ein Leser war im Wissensportal „Primo“ der TU Berlin auf einen peer-reviewed article gestoßen, der Akupunkturmeridiane als „Interferenzmuster des kohärent ausgesendeten Zellichts“ – also der sogenannten Biophotonen – erklärte. „Wie kann so etwas peer-reviewed sein?“, wollte er wissen.

Klar ist gleich auf den ersten Blick: Akupunkturmeridiane sind medizinische Fiktion, Biophotonen in der Form, wie ihre Protagonisten sie darstellen, ebenso. Ein „wissenschaftlicher“ Ansatz, der das eine mit irgendwelchen Auswirkungen des anderen zu erklären sucht, ist daher per se obsolet – ex falso quodlibet, aus Falschem folgt Beliebiges, wie der Formallogiker weiß. Der zweite Blick führt mitten hinein in ein Grundproblem der heutigen Publikationspraxis – und in den Plot eines wissenschaftlichen Zombies.

Der Artikel stammt aus dem Jahr 2013, erschienen im Journal Frontiers in Optoelectronics, verfasst von einer chinesischen Autorengruppe an einer chinesischen Universität. Obwohl die Prämissen nicht haltbar sind und die Folgerungen aus der Kombination beider zwangsläufig falsch, trägt der Artikel das Siegel „peer-reviewed“.

Wie kann das passieren?
Es gibt zwei Erklärungen. Die freundlichere lautet: Gutgläubige Reviewer und Editorial Boards nehmen exotische Grundannahmen der Autoren als gesetzt hin (Fail der unterschobenen Prämisse), prüfen dann nur auf innere Konsistenz der Schlussfolgerungen oder gar nur auf formale Kriterien, nicht auf die Validität des Fundaments.
Die weniger freundliche: Manche Journals – zumal aus dem weiten „Open Access“-Kosmos – haben geringere methodische Hürden, wenn das Thema ins eigene Profil passt oder aus bestimmten akademischen Netzwerken kommt. Peer-Review ist nicht unfehlbar, und formale Kriterien lassen sich auch mit inhaltlich schwachen Thesen erfüllen.

Das Problem liegt aber nicht bloß beim Erscheinen – sondern vielleicht noch mehr beim Fortleben. Einmal publiziert, bleibt ein solcher Text im wissenschaftlichen Ökosystem: in Zitationsketten, in Suchmaschinen, in Bibliothekskatalogen. Er wird nicht „entsorgt“, auch wenn er längst widerlegt oder inhaltlich wertlos ist. Selbst renommierte Institutionen wie die TU Berlin können nicht verhindern, dass fragwürdige Inhalte in ihren Beständen landen – die reine Herkunft aus einem „anerkannten“ Journal genügt für die Aufnahme. Q.e.d.

Und selbst wenn ein Artikel zurückgezogen wird, ist sein Zombiedasein nicht beendet. Retraction Watch dokumentiert seit Jahren Fälle, in denen längst revidierte oder zurückgezogene Arbeiten weiter zitiert werden, als sei nichts geschehen – und so das Erkenntnismaterial ganzer Fachgebiete kontaminieren. Eine technische Lösung dafür gibt es bislang nicht. Umso größer ist die Verantwortung der Journale, von vornherein keine unhaltbaren Publikationen durch das Peer-Review zu lassen. Ein frommer Wunsch – aber einer, ohne den das Problem nicht kleiner wird.

Hier entsteht der „Zombie“-Effekt: Solche Arbeiten sterben nicht. Sie wandern still und leise weiter, und für Laien – oder auch für Studierende – kann die bloße Präsenz in einer Universitätsdatenbank wie ein Gütesiegel wirken. Wer ohnehin geneigt ist, an Meridiane oder Biophotonen zu glauben, findet hier eine scheinbar wissenschaftliche, gar zitierfähige Bestätigung.

Genau das macht diese Altlasten gefährlich. Es geht nicht nur um aktuelle Fake News oder frische Pseudostudien. Wissenschaftskommunikation muss auch den Bestand kritisch im Blick behalten – gerade die Veröffentlichungen, die schon lange im Umlauf sind und sich unbemerkt festgesetzt haben.
Denn wie bei Zombies gilt: Sie sind schwer totzukriegen. Aber ignorieren darf man sie nicht.


Recent progress of traditional Chinese medical science based on theory of biophoton
Front. Optoelectron. 2014, 7(1): 28–36
DOI 10.1007/s12200-013-0367-1
https://www.researchgate.net/publication/271631415_Recent_progress_of_traditional_Chinese_medical_science_based_on_theory_of_biophoton


Ein Peptid gegen alles? Ein kurioser Einblick in die Welt der Heilsversprechen

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Vor wenigen Tagen fand ich in meinem Blogpostfach eine bemerkenswerte E-Mail. Der Absender: ein offenbar engagierter Mensch aus dem Ausland, der sich selbst als Mittler einer kleinen, vielversprechenden therapeutischen Entdeckung versteht, offenbar im Agentursinne auf der Suche nach einem Geschäftsmodell. Die Botschaft war klar: Ein niedersächsischer Arzt behandle Long Covid und Post-Vac erfolgreich – mit einem „altbekannten, sicheren Peptid“ an nicht mal einer Handvoll Patienten. Ganz ohne Studien, aber angeblich mit verblüffenden Erfolgen. Und mit großem Unverständnis dafür, dass sich niemand dafür interessiere: keine Universitätsklinik, keine Krankenkasse, keine Fachgesellschaft. Stattdessen angeblich Misstrauen, Trägheit, Ignoranz.

Was folgte, war eine Tirade gegen die „Paranoia“ der Patienten, die Inkompetenz der Forschungsstiftungen und die Mutlosigkeit der Ärzteschaft. Und natürlich: gegen die großen Pharmakonzerne, die angeblich verhindern, dass kleine Entdeckungen groß werden. Alles, was fehlte, war das Stichwort „Big Pharma“. (Es fiel aber quasi implizit.)

Das Ganze kulminierte in der Frage, ob ich nicht helfen könne, „drei oder vier weitere Patienten“ für die Behandlung zu gewinnen. Am besten in der Region Göttingen oder Paderborn. Oder notfalls auch anderswo.


Was soll man darauf antworten?

Vielleicht dies: Dass individuelle Heilversuche zwar unter der Voraussetzung lückenloser und dokumentierter Patientenaufklärung durch die ärztliche Therapiefreiheit gedeckt sind – aber noch lange keinen Erkenntnisgewinn darstellen. Dass niemandem geholfen ist, wenn anekdotische Beobachtungen als Beleg für Wirksamkeit verkauft werden. Dass selbst das beste Peptid keine komplexe Multisystemerkrankung wie ME/CFS oder Long Covid „lösen“ kann – jedenfalls nicht ohne eine klare Pathophysiologie, nachvollziehbare Mechanismen und systematisch gewonnene Daten.

Und vor allem gäbe es durchaus Wege, solche Beobachtungen ernsthaft zu prüfen. Es gibt Fachzeitschriften für Fallberichte (Case Reports), es gibt Register für individuelle Heilversuche beim BfArM, es gibt ethisch tragfähige Vorgehensweisen. Wer das alles umgeht – und sich stattdessen beklagt, dass die Welt nicht auf ihn hört –, der darf sich nicht wundern, wenn seine Entdeckung im Schatten bleibt, allenfalls irgendwann dubiosen Geschäftsmodellen in die Hände fällt und vom „dritten Gesundheitsmarkt“ aufgesogen wird, der sich auf Werbeseiten von unterklassigen Periodika abspielt . Es ist nicht die Schuld der Medizin, wenn jemand sich dem wissenschaftlichen Diskurs verweigert.


Fazit: Die Legende vom verkannten Heilsbringer lebt weiter.

Was bleibt, ist die immer gleiche Geschichte: Ein Einzelner mit einer Idee. Eine Welt, die nicht zuhört. Und eine implizite Verschwörung der „offiziellen Stellen“. Das alles klingt heroisch – ist aber meist das Gegenteil von verantwortungsvoll. Denn wer glaubt, allein die Wahrheit gepachtet zu haben, verkennt, wie wichtig belastbare Belege, reproduzierbare Ergebnisse und kollektive Überprüfung für den medizinischen Fortschritt sind.

Der Mailschreiber insistierte noch mehrfach auf seinem Standpunkt. Dabei artikulierte er immer mehr sein Unverständnis, es handele sich doch um einen approbierten Arzt und man habe sich doch mit den Versuchen beim BfArM registrieren lassen!!! Nun, weder das eine noch das andere führt zu Erkenntnisgewinnen im wissenschaftlichen Sinne. Leider war der gute Mann zum Schluss, trotz (oder wegen?) meiner Erklärungsversuche – beleidigt …


Zum Weiterlesen auf diesem Blog – hätte der Anfrager diesen Beitrag gelesen, hätte er vielleicht gemerkt, dass er ausgerechnet bei mir mit seinem Anliegen an der falschen Adresse war:

Warum Pseudomedizin mehr schadet als nur dem Einzelnen

Eine Nachbetrachtung zum Vortrag beim Themenabend Pseudomedizin „Hilft’s nicht, so schadet’s nicht“ der Partei der Humanisten, 20. März 2025

Am 20. März 2025 durfte ich im Rahmen eines Themenabends der Partei der Humanisten (PdH) einen Vortrag über das Schadenspotenzial der Pseudomedizin halten. Die Veranstaltung, deren Mitschnitt inzwischen online abrufbar ist, hatte ein erklärtes Ziel: differenziert, aber deutlich zu klären, warum die allzu oft verharmlosten „alternativen“ Heilverfahren nicht bloß medizinisch fragwürdig, sondern ethisch und auch gesellschaftlich hochproblematisch sind. Und doch blieb – bei aller gebotenen Informationsdichte – eines noch im Raum stehen: die tiefere Bedeutung des Begriffs „Schaden“.

Denn was meinen wir eigentlich, wenn wir von der Gefährlichkeit pseudomedizinischer Verfahren sprechen?

Die unsichtbare Gefahr

Die gängige Unterscheidung zwischen gefährlicher und harmloser Pseudomedizin wirkt auf den ersten Blick vernünftig: Was nicht unmittelbar schadet, könne man doch „laufen lassen“. Doch genau diese Haltung ist Teil des Problems. Denn sie verkennt, dass Schaden auch dort entsteht, wo er nicht physisch messbar ist – etwa durch epistemische Irreführung, kulturelle Normalisierung irrationaler Denkweisen oder strukturelle Fehlallokation von Ressourcen im Gesundheitswesen.

Pseudomedizin ist selten evidente Todesursache – aber oft die Ursache einer falschen Entscheidung. Und damit die Mitursache von Leid, das hätte vermieden werden können.

Vor allem aber ist Pseudomedizin keine isolierte Erscheinung, sondern Teil eines kulturellen Musters: Sie gedeiht dort, wo der Unterschied zwischen Wissen und Meinung, zwischen plausibler Evidenz und persönlichem Gefühl erodiert. Wenn Menschen lernen, auf „eigene Überzeugung“ mehr zu vertrauen als auf gesicherte Erkenntnis, dann ist der Weg zur Wissenschaftsfeindlichkeit, zur Impfskepsis oder zur „gefühlten Wahrheit“ längst beschritten.

Der eigentliche Schaden

Gerade Homöopathie – das Paradebeispiel einer systematisch irrelevanten Methode – hat über Jahrzehnte hinweg ihre Ungefährlichkeit wie einen Persilschein vor sich hergetragen, ja, sich sogar mit ihrer angeblichen besonderen Bedeutung für den Patientenschutz gebrüstet. Und doch untergräbt sie – wie viele andere „sanfte“ Verfahren – genau das Fundament, auf dem verantwortbare Gesundheitsentscheidungen ruhen: das Vertrauen in die Prüfbarkeit von Wissen.

Die Behauptung „Es hilft doch!“ ersetzt die Frage: „Woher wissen wir das?“. Und genau in dieser Verschiebung liegt der eigentliche Schaden. Es geht um mehr als Medizin – es geht um das gesellschaftliche Wahrheitsklima. Um die Bereitschaft, sich kritischen Maßstäben zu stellen. Um die Fähigkeit, zwischen Kausalität und Korrelation, zwischen Empirie und Wunschdenken zu unterscheiden.

Die Gefahr der Pseudomedizin liegt nicht nur im Körper, sondern im Kopf. Nicht nur im Einzelfall, sondern im Diskurs. Und deshalb ist ihre Kritik nicht nur Angelegenheit von medizinischen Detailfragen – sondern eine Frage der soziokulturellen Hygiene.

Aufklärung als Haltung

Wer Wissenschaft gegen Populismus und Beliebigkeit verteidigen will, muss sich auch erkenntnistheoretisch wappnen. Es genügt nicht, auf die Objektivität von „Zahlen, Daten, Fakten“ zu pochen, wenn wir nicht zugleich zeigen können, warum sie gelten dürfen und wie sie zustande kommen.

Der Skeptizismus, den wir brauchen, ist kein kalter Positivismus. Er ist ein ethischer Realismus – offen für Situiertheit, aber verpflichtet auf Wahrheit. Ohne diesen Anspruch verlöre Wissenschaft ihre gesellschaftliche Relevanz. Und Aufklärung ihren Sinn.


Wissenschaft? Spielt keine Rolle.

Wie die Osteopathie-Lobby den Koalitionsvertrag kaperte – und was das über unsere Gesundheitspolitik verrät

Im Lobbygewitter (Microsoft Copilot)

Es gibt Momente, in denen man sich fragt, ob man die letzten zehn Jahre evidenzbasierter Aufklärung komplett umsonst betrieben hat. Einer dieser Momente liegt erst kurz zurück.

Im neuen Koalitionsvertrag der Bundesregierung findet sich eine Passage, die den erfahrenen Pseudomedizinkritiker aufschreckt. Die Osteopathie soll berufsgesetzlich geregelt, die sogenannte „Integrative Medizin“ gestärkt werden – als gesundheitspolitische Zielsetzung. Wer den Text unbedarft liest, könnte meinen, hier ginge es um einen sachlich begründeten Ausbau bewährter Therapiestrukturen. Wer sich jedoch mit der Evidenzlage auskennt, erkennt etwas anderes: eine glatte politische Kapitulation vor Lobbyinteressen.

Von Studienlage keine Spur – aber die Verbände waren fleißig

Der IGeL-Monitor urteilt seit Jahren vernichtend über die Osteopathie. Systematische Reviews zeigen bestenfalls Placebo-Effekte. Aus der Studienlage ist keine belastbare Gesamtevidenz ableitbar, vor allem, weil sowohl die Indikationen als auch die Interventionen keinem einigermaßen verbindlichen Kanon folgen, sondern weitgehend heterogen sind. Was die Frage aufwirft: Handelt es sich überhaupt um eine „Methode“, also etwas irgendwie Geschlossenes, oder nur um Epigonentum in der Nachfolge A.T. Stills, angepasst an heutige Gegebenheiten? Und dennoch: Die Koalitionäre übernahmen ihre Formulierungen offenbar direkt aus den Stellungnahmen osteopathischer Berufsverbände. Und dass sich der Deutsche Ärztetag 2024 klar gegen die Homöopathie – und damit implizit gegen die pseudomedizinische Aufweichung ärztlicher Versorgung – positioniert hat, stört offenbar nicht weiter.

Diese Verbände, eng vernetzt mit der Hochschule Fresenius, fordern seit Jahren lautstark die gesetzliche Anerkennung ihrer Angebote und vor allem den direkten Patientenzugang durch eine berufsgesetzliche Regelung – nicht etwa, weil sie evidenzbasiert wären, sondern weil es wirtschaftlich und strategisch attraktiv ist. Ein Berufsrecht verleiht Legitimität. Und Legitimität verkauft sich.

Die Politik? Offenbar komplett ahnungslos

Dass genau dieser Wunsch es nun in den Koalitionsvertrag geschafft hat, spricht für sich. Es spricht für den Erfolg jahrelanger Wühlarbeit – und für das Versagen einer Politik, die offenbar nicht einmal mehr erkennt, dass sie instrumentalisiert wird.

Was sind das für Leute?

Hier wird es persönlich – und politisch brisant. Es handelt sich nicht um Laien oder fachfremde Kulturpolitiker. Es handelt sich um teils gar um Mediziner, die zu Fachpolitikern geworden sind. Und die sich dabei offenbar von den Grundlagen ihrer eigenen Profession verabschiedet haben.

Statt sich auf Studienlage, Fachgesellschaften und ärztliche Positionen zu verlassen, folgen sie einem diffusen Gemisch aus Patientenwünschen, Imagepflege und Lobbydruck. Wissenschaftliche Redlichkeit? Versorgungssteuerung auf Basis von Evidenz? Fehlanzeige.

Ein Etikettenschwindel mit amtlichem Siegel

Was in den Vertrag geschrieben wurde, ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Es ist nicht die Aufwertung eines Berufsstandes, sondern die politische Beglaubigung eines Etikettenschwindels. Es ist die Einladung an alle Anbieter pseudomedizinischer Verfahren, sich über Charmeoffensiven und Nähe zu den richtigen Gremien ein Stück Gesetzgebung zu sichern.

Man mag geneigt sein, das Ganze als Randnotiz abzutun. Doch genau hier beginnt der Kulturkampf um die medizinische Versorgung der Zukunft. Und es ist höchste Zeit, dass sich die Wissenschaft dazu nicht länger höflich raushält. Und die Politik mit einem Restmaß von Vernunft agiert.


Signifikanz – und sonst nichts?

Warum Signifikanz keine Wahrheit schafft

Copilot kennt das Problem!

Die vertraute Zahl, die zu viel verspricht

Wer medizinische Studien liest, stößt immer wieder auf dieselbe Botschaft: Ein Ergebnis war „signifikant“ – meist im Sinne von p < 0,05, der üblichen „Signifikanzgrenze“ in der medizinischen Forschung. In der Laienpresse (und oft genug auch in Fachkreisen) wird daraus: Die Therapie wirkt. Für viele Studienautoren scheint der Signifikanzwert einem Wahrheitszertifikat gleichzukommen. Doch dieses Verständnis ist grundfalsch – und brandgefährlich. Denn es verleitet nicht nur Laien zu Fehlschlüssen, sondern wiegt auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer falschen Sicherheit. Gerade in der evidenzbasierten Medizin (EBM), die sich einer empirisch gestützten, nachvollziehbaren Behandlung verschrieben hat, ist diese Verzerrung folgenschwer.

Was ein p-Wert wirklich bedeutet

Ein p-Wert von 0,05 bedeutet nicht: Die Hypothese ist mit 95 % Wahrscheinlichkeit wahr. Sondern: Wenn es in Wahrheit gar keinen Effekt gäbe (was in der Regel der sogenannten Nullhypothese eines Studienprojekts entspricht), wäre ein so extremes oder extremeres Ergebnis trotzdem in 5 % der Fälle zu erwarten. Es handelt sich also um eine bedingte Wahrscheinlichkeit – bedingt auf die Annahme, dass kein Effekt existiert. Andersherum: Selbst wenn es keinen realen Effekt beim Untersuchungsgegenstand gäbe, würde trotzdem eine von 20 Studien ein positives Ergebnis aufweisen, das nur auf Zufall beruht.

Das heißt: Der p-Wert misst nicht die Wahrscheinlichkeit der Hypothese, sondern die Wahrscheinlichkeit der Daten in einer konkreten Studie unter einer Annahme. Das ist ein kategorial anderer Sachverhalt. Wer das verwechselt, verkennt die Grundlagen statistischen Denkens.

Warum die Verwechslung so hartnäckig ist

Zum einen liegt es an der Alltagssprache: „signifikant“ bedeutet dort so viel wie „bedeutsam“. In der Statistik hingegen ist es eine technische Schwelle, willkürlich gesetzt und ohne Bezug zur klinischen Relevanz. Zum anderen besteht ein starker Wunsch nach Klarheit: Wirkt es oder nicht? Eine einfache p < 0,05-Grenze suggeriert genau das – ein Ergebnis ist „drin“ oder „draußen“. Doch genau diese Dichotomie führt in die Irre.

Bemerkenswert ist dabei, wie willkürlich diese Schwelle ist: Die 5-Prozent-Grenze wurde historisch eher pragmatisch als wissenschaftlich festgelegt. In Bereichen wie der Hochpräzisionsfertigung oder der chemischen Industrie gelten Toleranzen im Bereich von Tausendsteln bis Millionsteln. In der Medizin hingegen soll ein Irrtumsrisiko von 5 % als ausreichend gelten, um Therapien zu empfehlen oder abzulehnen. Die „Sicherheit“ ist also relativ – und stark kontextabhängig.

Die Pseudomedizin nutzt das aus

Gerade Anbieter von Verfahren ohne wissenschaftlich belegte Wirkprinzipien – Homöopathie, Akupunktur, Nahrungsergänzung – lieben den Signifikanzwert. Sobald irgendeine Studie ein p < 0,05 liefert (oft durch fragwürdiges Studiendesign oder statistischen Zufall), wird das als Beweis für Wirksamkeit verkauft. Das Publikum versteht: „Es ist wissenschaftlich erwiesen.“ Dass das Ergebnis vielleicht statistisch, aber nicht klinisch relevant war, bleibt unerwähnt. Ebenso die Frage, ob der Effekt reproduzierbar ist oder ob der Studienaufbau überhaupt valide Aussagen ermöglicht.

Aber auch die wissenschaftsbasierte Medizin ist nicht frei von Illusionen

In vielen klinischen Studien herrscht ein ähnlicher Schematismus. Statistik wird an spezialisierte Teammitglieder ausgelagert, deren Output kaum jemand im Team wirklich versteht. Der p-Wert wird zur Währung der Aussagekraft erhoben, obwohl er bestenfalls ein Indikator ist – und zwar einer mit erheblichen Schwächen. Effektstärken, Konfidenzintervalle, Plausibilität und Kontext treten in den Hintergrund.

Hinzu kommt: Der p-Wert bezieht sich immer nur auf die konkrete Studie mit ihren spezifischen Gegebenheiten, Limitationen und Freiheitsgraden. Bereits geringfügige Änderungen im Studiendesign, der Stichprobenwahl oder der Auswertung können den Wert stark verändern. Steven Novella spricht in diesem Zusammenhang von der hohen Empfindlichkeit des p-Werts gegenüber kleinen Änderungen der analytischen „Freiheitsgrade“ – ein Problem, das sich gerade bei Replikationen oft zeigt.

David Sackett, einer der Väter der evidenzbasierten Medizin, hat sich übrigens 1997 klar gegen eine „Kochbuchmedizin“ ausgesprochen. In seinem berühmten Essay kommt Statistik praktisch nicht vor. Sein Verständnis von EBM war: die beste verfügbare Evidenz in Verbindung mit klinischer Erfahrung und Patientenbedürfnissen. Statistik war für ihn kein Ersatz für Nachdenken, sondern ein Hilfsmittel zur Orientierung.

Fazit: Bescheidene Statistik statt großer Geste

Der p-Wert ist kein Wahrheitswert. Wer ihn so behandelt, verstellt den Blick auf das, was Medizin wirklich leisten soll: helfen, wo Hilfe notwendig ist, und unterscheiden, wo Therapie nur vortäuscht. Die Pseudomedizin nutzt den Signifikanzmythos, um sich ein wissenschaftliches Gewand zu geben. Aber auch in der konventionellen Forschung ist der Statistikfetischismus ein Problem. Es ist Zeit, das zu erkennen – und dem p-Wert seinen Platz zuzuweisen: als Werkzeug, nicht als Orakel.

Am Ende steht deshalb nicht der Ruf nach einem Ersatz für Statistik, sondern nach einer gesamtwissenschaftlichen Betrachtung medizinischer Forschungsergebnisse. Dazu gehören: die Plausibilität der zu prüfenden Hypothese, das Design der konkreten Studie, die Gründlichkeit ihrer Methodik und die Validität der Interpretation. Nur im Zusammenspiel dieser Faktoren lässt sich beurteilen, ob ein statistisch signifikantes Ergebnis auch klinisch bedeutsam und wissenschaftlich belastbar ist.

Deshalb lautet die richtige Antwort an den, der als nächster mit einer „signifikanten“ Studie zu Homöopathie, Akupunktur und Co. triumphierend um die Ecke kommt, ganz einfach: „Ja und?“.


Literatur:

Regina Nuzzo: Wenn Forscher durch den Signifikanztest fallen
https://www.spektrum.de/news/statistik-wenn-forscher-durch-den-signifikanztest-fallen/1224727

Originalveröffentlichung:
Nuzzo, R. Scientific method: Statistical errors. Nature 506, 150–152 (2014). https://doi.org/10.1038/506150a


Von der anekdotischen Evidenz zur wissenschaftlichen Bescheidenheit

Dogma und Wissenschaft (Symbolbild)

Die Falle der anekdotischen Evidenz: Warum „Mir hat es geholfen“ kein Beweis ist

Es gibt zwei Standardreaktionen, die Kritiker wissenschaftlich unhaltbarer Methoden wie Homöopathie oder anderer Formen der Pseudomedizin regelmäßig zu hören bekommen. Die eine ist das altbekannte

„Wer heilt, hat Recht“,

die andere:

„Mir hat es aber geholfen“.

Letzteres ist das Paradebeispiel für anekdotische Evidenz – eine subjektive Erfahrung, die als Beweis für die Wirksamkeit einer Behandlung herangezogen wird. Doch warum ist diese Art der Argumentation fehlerhaft? Warum klingen Anekdoten zwar überzeugend, haben aber in der wissenschaftlichen Methodik keinen Platz?

Korrelation ist nicht Kausalität

Nur weil sich nach einer Behandlung eine Verbesserung einstellt, bedeutet das nicht, dass die Behandlung die Ursache dafür war. Der Mensch neigt infolge evolutionärer Anlagen (die schon vielfach erklärt wurden) dazu, Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind. Dies ist bei nicht trivialen Sachverhalten ein fundamentaler kognitiver Fehlschluss. In vielen (den meisten?) Fällen bessern sich Beschwerden einfach von selbst (Spontanremission), oder andere Faktoren wie Lebensstilveränderungen oder der natürliche Krankheitsverlauf spielen eine Rolle.

Der Placebo-Effekt

Ein weiterer Faktor, der anekdotische Evidenz entwertet, ist der Placebo-Effekt. Dieser ist gut dokumentiert und kann dazu führen, dass Menschen subjektiv eine Verbesserung ihrer Symptome wahrnehmen, selbst wenn die verabreichte Behandlung keinerlei spezifische Wirkung besitzt. Besonders stark wirkt dieser Effekt in Bereichen wie Schmerzempfinden oder allgemeinem Wohlbefinden, wo Suggestion eine große Rolle spielt.

Der Selektionsbias

Anekdotische Evidenz ist extrem selektiv. Niemand hört von denjenigen, bei denen die gleiche Methode nicht funktioniert hat, weil Menschen, die keinen Effekt erfahren haben, schlicht nicht berichten. Viele, bei denen die Therapie nicht gewirkt hat, können auch gar nicht mehr berichten. Dann gibt es noch die Menschen, die die entsprechende Methode nicht angewandt haben und auch wieder gesund wurden. Und natürlich auch die, die ebenfalls auf die Methode verzichtet haben und nicht wieder gesund geworden sind.

Methode angewandt – erfolgreichMethode angewandt – nicht erfolgreich
Methode nicht angewandt – erfolgreichMethode nicht angewandt – nicht erfolgreich

Das ergibt eine Matrix mit vier Möglichkeiten. Wenn aber nun ständig über Heilerfolge einer Methode berichtet wird, dann heißt das, dass diese Fälle sich nur im Feld oben links in der Matrix sammeln. Es fehlt jede Aussage, wie viele Fälle auf die anderen Möglichkeiten entfallen. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung: Es entsteht der Eindruck, eine Therapie wäre besonders wirksam, weil nur positive Erfahrungsberichte kursieren. Dabei ist es ohne Weiteres möglich, dass die Zahl der Anwender, die nicht von der Methode profitiert haben, ein Vielfaches der Zahl der Erfolgreichen beträgt. Anekdotische Evidenz bedeutet also unter anderem das Risiko, dass wir hochgradig unvollständigen Informationen aufsitzen.

Reproduzierbarkeit als wissenschaftliches Kriterium

Wissenschaft funktioniert nicht auf der Basis einzelner Berichte, sondern durch systematische Untersuchung. Eine Therapie muss in kontrollierten Studien – unter bestmöglichem Ausschluss von Zufall und Verzerrung – immer wieder die gleichen positiven Ergebnisse zeigen, bevor sie als wirksam gelten kann. Der einzelne Patient mag subjektiv empfinden, dass es egal ist, warum ihm etwas geholfen hat. Für die medizinische Wissenschaft ist das aber keine Option, ebenso wenig wie für den gewissenhaften Therapeuten. Denn nur reproduzierbare Ergebnisse ermöglichen es, verlässliche und sichere Behandlungen zu entwickeln und prognostisch Medizin zu betreiben.

Warum sich Menschen trotzdem auf Anekdoten verlassen

Die Überzeugungskraft anekdotischer Evidenz hat tiefe psychologische Ursachen. Menschen vertrauen persönlichen Erfahrungen oder denen von Bekannten mehr als abstrakten Studien. Geschichten und individuelle Berichte erzeugen eine emotionale Resonanz, während statistische Analysen oft als „kalt“ empfunden werden. Diese kognitive Verzerrung verstärkt die Neigung, Anekdoten als Beweis zu akzeptieren.

Fazit: Subjektive Wahrnehmung ist kein objektiver Beweis

Wenn es um medizinische Wirksamkeit geht, darf subjektive Erfahrung nicht über wissenschaftliche Belege gestellt werden. Es ist verständlich, dass Patienten nach Lösungen suchen und sich an das klammern, was scheinbar funktioniert. Doch das Problem beginnt, wenn aus individuellen Erfahrungen allgemeingültige Schlüsse gezogen werden und unwirksame oder gar schädliche Methoden für wissenschaftlich valide gehalten werden. Wer an der Wahrheit interessiert ist, sollte sich nicht mit dem „Mir hat es geholfen“ zufriedengeben, sondern hinterfragen, ob es dafür auch eine belastbare Erklärung gibt.

David Hume und die Kausalität

Der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) hat in seiner A Treatise of Human Nature (1739–1740) und später in seiner Enquiry Concerning Human Understanding (1748) argumentiert, dass Kausalität nichts ist, was wir direkt beobachten können. Stattdessen sei unser Kausalitätsverständnis eine psychologische Gewohnheit: Wenn zwei Ereignisse regelmäßig in einer bestimmten Reihenfolge auftreten (z. B. Einnahme eines Mittels → Besserung der Beschwerden), neigen wir dazu, daraus eine ursächliche Verbindung, eine Kausalität abzuleiten – selbst dann, wenn keine objektive Notwendigkeit dafür besteht. Dies ist der Fehlschluss von einer allein zeitlich wahrgenommenen (und wahrnehmbaren) Korrelation auf Kausalität. Wir wissen heute, dass dieser kognitionspsychologische Effekt vermutlich evolutionär in uns angelegt ist, weil er in Urzeiten Selektionsvorteile versprach. In einer komplexen Welt wie der heutigen führt er uns aber in der Mehrzahl der Fälle aufs falsche Gleis.

Post hoc ergo propter hoc: Danach, also deswegen.

Der König der Fehlschlüsse. Nur weil etwas nach etwas anderem passiert, bedeutet das nicht, dass es auch dadurch verursacht wurde. Hume hätte sich vermutlich sehr dafür interessiert, wie sich dieser Irrtum besonders in der Pseudomedizin hartnäckig hält.

Die Frage ist zudem, ob wir nach Hume überhaupt Kausalität erkennen können. Sicherlich doch durch anschauliche Evidenz – wenn jemandem ein Blumentopf auf den Kopf fällt und er blutet danach, dann ist Kausalität nicht nur wahrscheinlich. (Aber kann es nicht ein harmloser Plastikblumentopf gewesen sein und der Passant hatte vorher schon Nasenbluten … ? Wer will das aus der Perspektive der anderen Straßenseite wirklich beurteilen … ? Wir wollen es nicht auf die Spitze treiben, aber doch zeigen, wie problematisch auch die scheinbar sichere Wahrnehmung von Kausalität sein kann.)

Redlicherweise müsste man den Menschen sagen, dass placebokontrollierte prospektive klinische Studien (RCT) zwar der Goldstandard in der medizinischen Forschung sind, aber letztlich eine Kausalität im engeren Sinne auch nicht „beweisen“ können. Wirft man aber eben nicht mit Begriffen wie „Beweis“ oder „Studien zeigen …“ um sich, sondern ist sich der Tatsache bewusst, dass uns endgültiges Wissen zumeist verwehrt bleibt, gerät man beim Publikum in Misskredit, weil dieses nur das biblische „Deine Rede sei ja, ja oder nein, nein“ zu kennen scheint …

Absolute Gewissheit bleibt uns in den meisten Fällen verwehrt. Hume hat uns die radikale Skepsis gelehrt – wir sehen nur zeitliche Abfolgen von Ereignissen, aber die Notwendigkeit dieser Verbindung existiert nicht objektiv in der Welt, sondern nur in unseren Köpfen.

Nur: Das Ringen um wissenschaftliche Ehrlichkeit kollidiert oft mit der Erwartung des Publikums nach eindeutigen Antworten. „Studien zeigen…“ wird dann zu einer Art Ersatz für absolute Wahrheit, obwohl sich Wissenschaft ja gerade durch ständige Korrekturen und die Offenheit für bessere Erklärungen auszeichnet.

Der Pharmakologe Wolfgang Hopff gab in seinem Buch „Homöopathie kritisch betrachtet“ für evidente Kausalität das Beispiel eines hochwirksamen harntreibenden Mittels, das nicht nur im zeitlichen Zusammenhang mit der Einnahme, sondern auch der therapeutischen Prognose entsprechend seine Wirkung zeigt. Dies ist ein gutes Beispiel, weil es zeigt, dass wir manche Kausalitäten intuitiv für evident halten – aber wo genau ziehen wir die Grenze? Und wann wird aus berechtigter Skepsis auf der Basis kritischen Denkens ein Rückfall in radikalen Relativismus? Den Einwand „es könnte ja auch anders sein“ auf jede, buchstäblich jede Feststellung?

Das Induktionsproblem – das Ende allen sicheren Wissens?

Jeden Morgen geht die Sonne auf, darauf kann man sich verlassen. Das war in vielen Kulturen, vor allem in denen, die sich als aufgeklärt verstanden, selbstverständlich – evident eben, nicht weiter hinterfragbar. Das Induktionsproblem, dessen Erhellung wir auch Hume verdanken, sagt nun, zur Widerlegung einer solchen angeblich nicht hinterfragbaren Evidenz braucht es nur ein einziges Folgeereignis, das der bisherigen Erfahrung widerspricht. Und das können wir nicht ausschließen.

In diesem Sinne ist das Induktionsproblem gewissermaßen die Abrissbirne für jede naive (sic!) Vorstellung von sicherem Wissen.

Was die Sache mit dem Sonnenaufgang angeht, so wissen wir heute, dass es eben nicht ewig und unhinterfragbar so weitergehen wird. Ein Beispiel dafür, dass Gewissheiten (sic!) abhängig vom aktuellen Wissen sind und eine Bestätigung der Vorbehalte, die das Induktionsproblem aufwirft. Aber: Hat das Sonnenaufgangsbeispiel für uns hier und heute wirklich praktische Bedeutung? Oder ist es vernachlässigbar, ohne einen Kategorienfehler zu begehen?

Das Beispiel illustriert, dass absolute Beweise in einem streng logischen Sinn oft gar nicht nötig sind, weil der Grad der Sicherheit ausreicht, um vernünftig zu handeln. Und im Grunde ist der Anspruch der Wissenschaft ja gar nicht mehr, als die Grundlage für vernünftiges Handeln zu liefern.

Karl Poppers Antwort auf das Induktionsproblem

Das Induktionsproblem ist ungelöst und verhindert nach wie vor, dass wir eine ungetrübte und mit der Realität komplett deckungsgleiche Vorstellung von „Wahrheit“ erlangen können. Man hört in der Wissenschaftsphilosophie gelegentlich davon, es sei „gelöst“ worden – nach meiner bescheidenen Ansicht ist das nicht der Fall. Aber was tun? Wie kann sich die Wissenschaft zum Induktionsproblem stellen?

Die Wissenschaftsphilosophie von Karl Popper, die er ein seinem epochalen Werk „Logik der Forschung“ niedergelegt hat, gibt eine Antwort: Sie versucht nicht, das Induktionsproblem zu ignorieren oder zu verleugnen, sondern sie gibt dadurch eine Antwort, dass sie sich vom Ziel der Wissenschaft als Wahrheitsfindung zugunsten einer beständigen Wahrheitssuche verabschiedet und die Fehlbarkeit menschlichen Wissens zum Prinzip erhebt.

Die Limitierung, die das Induktionsproblem der „sicheren Erkenntnis“ setzt, war wohl für Karl Popper ein entscheidender Beweggrund dafür, sich von der Methode der „Verifizierung“ (Versuch der Bestätigung) von Ergebnissen abzuwenden und stattdessen auf „Falsifizierung“ (Versuch der Widerlegung) zu setzen. Dabei betont er die Vorläufigkeit allen Wissens, setzt aber auch einem Rückfall in pessimistischen Relativismus Schranken, indem er den Erkenntniswert von Forschung nach Wahrscheinlichkeit bewertet. Am besten kommt sein Prinzip der Falsifikation in diesem Zitat zum Ausdruck:

Wann immer wir nämlich glauben, die Lösung eines Problems gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen.”
(Logik der Forschung, 11. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen 2005, Seite XX).

Nun ist das keine leichte Kost, wenn auch viele Menschen durchaus eine Vorstellung von Karl Popper und seinem Werk haben. Ich glaube, selbst wenn man das einem breiten Publikum vermitteln könnte, würde man auf psychologische Barrieren stoßen. Ich denke sogar, dass es Hochschullehrer gibt, die eine solche Wissenschaftsphilosophie lehren, sich aber intrinsisch dies nicht wirklich zu eigen machen.

Popper hat die Wissenschaft nicht mehr als Ansammlung von bewiesenen Wahrheiten, sondern als System zur systematischen Widerlegung falscher Annahmen verstanden. Er forderte als Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Hypothese, dass sie potenziell widerlegbar (formuliert) sein muss, weil sie sonst gegen Falsifizierung von vornherein immun wäre. Wissenschaft produziert also nicht endgültiges Wissen, sondern entfernt beständig Irrtümer und nähert sich damit der Wahrheit an – aber das reicht vielen Menschen nicht, weil es ihrem Bedürfnis nach Gewissheit widerspricht. Der Satz

„Wir irren uns empor“,

geprägt vom Physiker und Philosophen Gerhard Vollmer, trifft es also nicht ganz, denn wir fügen ja im Erkenntnisprozess (hoffentlich) nicht neue Irrtümer hinzu, sondern beseitigen alte. Gleichwohl ist diese Sentenz sehr griffig, wenn es gilt, das Prinzip Wissenschaft zu erklären.

Wissenschaft vs. Dogma

Der Wissenschaft ist also eine Bescheidenheit inhärent insofern, als sie langsam Wissen schafft, aber nicht goldglänzende endgültige Wahrheiten präsentiert. In den Augen nicht in wissenschaftlichem Denken Geschulter – und das ist leider wohl die Mehrheit der Bevölkerung – ist dies ein Mangel, ein Malus – obwohl gerade dies der Bonus der Wissenschaft ist. Es gibt in diesem Punkt eine Art psychologische Abwehrhaltung: Wenn Wissen nur vorläufig ist, dann gibt es keine absolute Sicherheit – und das ist für viele unerträglich. Deshalb greifen manche lieber auf einfache Wahrheiten zurück, egal ob in Form dogmatischer Wissenschaftsauffassungen oder eben Pseudowissenschaften. Letztlich könnte man sagen: Die Wissenschaft ist sich ihrer eigenen Unsicherheit bewusst – die Pseudowissenschaft hat dieses Problem nicht, weil sie ihre Wahrheiten zementiert. Über falsche Dogmen aufzuklären und die Kriterien kritischen Denkens zu vermitteln, kann ein mühsames Geschäft sein.

Sokrates, ein früher Skeptiker

Sokrates‘ von Platon überlieferte Sentenz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist ja fast schon das Motto der modernen Wissenschaftsphilosophie. Allerdings – die Wissenschaft weiß viel, sehr viel inzwischen und beschreibt die Welt, in der wir leben, mit großer Genauigkeit, die sich in der beständigen Anwendung ihrer Erkenntnisse beweist. Poppers Kriterium für „Wahrheit“, nämlich die vollständige Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Realität, ist, so dürfen wir annehmen, in einem Maße erfüllt, das man sich vor 100 oder 200 Jahren nicht vorstellen konnte. Sokrates’ Einsicht war deshalb revolutionär, weil sie dem menschlichen Hang zum Dogmatismus widersprach. Und genau diese Haltung ist es, die Wissenschaft von Ideologie und Pseudowissenschaft unterscheidet: Sie gesteht ein, dass ihr Wissen immer nur vorläufig ist.

Ironischerweise macht genau das die Wissenschaft für viele Menschen weniger attraktiv als dogmatische Systeme. Der Dogmatiker hat Antworten, die Wissenschaftler haben Fragen. Der Dogmatiker bietet Sicherheit, die Wissenschaftler liefern Wahrscheinlichkeiten. Kein Wunder, dass viele lieber an einfache Wahrheiten glauben als an eine Welt voller Unsicherheiten.

Es ist schon faszinierend – und irgendwie auch frustrierend –, dass genau die Demut der Wissenschaft, die sie so mächtig macht, sie für viele Menschen weniger überzeugend erscheinen lässt.

Vollends gescheitert bin ich vor kurzem bei einem Erklärungsversuch in kleiner, durchaus wohlwollender Runde mit dem Hinweis, dass wir – laut Popper – unter Umständen hier und da mal eine „letzte Wahrheit“ erreichen – wir aber das gar nicht sicher wissen können. Das wurde als eine Art von Selbstzerstörung von Poppers Wissenschaftsmodell angesehen. Finde ich nicht – ich halte das für ein hervorragendes Beispiel für das Bewusstsein der Begrenztheit einer ständig fragenden Wissenschaft und für die oft missverstandene Natur wissenschaftlicher Erkenntnis. Popper hat nicht gesagt, dass wir niemals eine endgültige Wahrheit finden könnten. Er sagte nur, dass wir dies nicht sicher wissen können. Das ist kein Paradox, sondern schlicht die Einsicht in die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit.

Die Vorstellung, dass Wissenschaft sich selbst zerstört, wenn sie ihre eigenen Grenzen anerkennt, beruht auf einem Missverständnis. Wissenschaft ist kein Glaubenssystem, das absolute Gewissheiten liefern muss. Sie ist ein Werkzeug zur Annäherung an die Wahrheit, mit dem Bewusstsein, dass jede Erkenntnis revidierbar ist.

Jedoch: Menschen sehnen sich nach Gewissheiten. Und wenn jemand sagt: „Vielleicht haben wir hier eine letzte Wahrheit gefunden, aber wir können nicht wissen, ob das so ist“, dann empfinden das viele als Schwäche – obwohl es in Wirklichkeit eine große intellektuelle Stärke ist. Das Problem ist, dass viele Leute eine intuitive Vorstellung von „Wahrheit“ als etwas Absolutem haben. Sie erwarten von Wissenschaft, dass sie ihnen endgültige Antworten liefert. Dabei ist Wissenschaft eher ein ständiges Ringen um bessere Modelle der Realität – mit der Möglichkeit, dass diese Modelle unvollständig oder gar falsch sein können. Wer bringt diese Erkenntnis in die Schulen und die Allgemeinbildung?

Erkenntniskriterium Wahrscheinlichkeit

Zur Verdeutlichung, dass ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad aus der falsifizierenden Untersuchung von Gegebenheiten meist völlig ausreicht, ein Beispiel, das Hume vermutlich gefallen hätte: „Alle Menschen müssen sterben.“ Ist das „bewiesen“? Nein, denn es leben ja noch jede Menge! Aber: Lassen sich darauf vernünftige Zweifel an der Ausgangsthese ableiten? Nein. Nicht nur wegen des Induktionsprinzips, sondern auch wegen unseres gut gesicherten Wissens über die Physiologie von Lebewesen, das uns zeigt, warum unumkehrbare Alterungsprozesse einsetzen, die irgendwann das Ende dessen herbeiführen, was wir Leben nennen. Das sind schlüssige „Belege“, die für sichere Erkenntnis ausreichen, aber keine „Beweise“.

Hume hätte dieses Beispiel sicher geschätzt – es passt zu seinem Skeptizismus gegenüber dem Erkennen von Kausalität, aber auch zu seinem Pragmatismus. Selbst in Bereichen, in denen wir uns sicher sind (wie der Sterblichkeit des Menschen), bleibt die Erkenntnis eine induktive Verallgemeinerung – aber eben eine, an der zu zweifeln irrational wäre.

Vernunftgesteuerter vs. „zersetzender“ Skeptizismus

Genau diese Denkweise wäre für viele nützlich, die in Wissenschaftsdiskussionen entweder nach absoluter Sicherheit verlangen oder skeptischen Missbrauch betreiben („Man kann nie 100 % sicher sein, also könnte es ja auch anders sein!“). Letzteres zeigt den Unterschied zwischen gesunder Skepsis und Zersetzungs-Skeptizismus.

Diesen „Zersetzungs-Skeptizismus“ konnte man sehr gut in der Pandemie beobachten. Unter den „Impfkritikern“ waren manche, die ich immer als „Hundertprozenter“ bezeichnet habe. Akademisch ausgebildete Menschen, die den Einsatz von Impfstoffen nur dann als vertretbar ansehen wollten, wenn es sowohl hinsichtlich der Wirkungen als auch der Nebenwirkungen „hundertprozentige“ Sicherheit gebe. Diese Leute stellen sich auf den Standpunkt, dass jede noch so kleine Unsicherheit oder jede verbleibende offene Frage die gesamte Erkenntnis zum Einsturz bringen müsse. Dabei ignorieren sie, dass Wissenschaft immer mit Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten arbeitet – und dass Entscheidungen im echten Leben fast nie auf absoluter Sicherheit beruhen.

Clemens Arvay war da ein typisches Beispiel: Er stellte wissenschaftliche Standards infrage, indem er genau jene Unfehlbarkeit forderte, die Wissenschaft gar nicht leisten kann – und auch nicht leisten muss. Ironischerweise ist es genau dieser Dogmatismus, der ihn von einer echten wissenschaftlichen Haltung entfernt hat.

Dies scheint mir nicht so sehr ein intellektuelles Problem zu sein, sondern eher eine tief verwurzelte psychologische Haltung: Viele Menschen fühlen sich von Unsicherheiten bedroht und greifen deshalb zu Absolutismen – sei es in Richtung Wissenschaftsverweigerung oder blinder Wissenschaftsgläubigkeit. Ersichtlich gilt dies auch für Menschen, die mit den wissenschaftsphilosophischen Grundlagen eigentlich vertraut sein müssten. Sie werden beherrscht von einer tiefen, menschlichen Sehnsucht nach Gewissheit – und dem Widerstand gegen die Zumutung, dass es sie nicht in letzter Konsequenz gibt.

„Der andere könnte auch Recht haben“

Da fällt mir noch ein Beispiel für falschen Relativismus von Erkenntnisfähigkeit ein. Es gab einmal ein Positionspapier zur Homöopathie-Debatte unter Führung des inzwischen verstorbenen Prof. Peter Matthiessen, einem Vertreter eines vorgeblichen „Pluralismus in der Medizin“. Das war ein Generalangriff auf die wissenschaftliche Methode selbst, ein Beispiel für nahezu hemmungslosen Relativismus, das gekrönt wurde mit einer Berufung auf Hans-Georg Gadamers „Der andere könnte auch Recht haben“ und damit ins Moralisierende abglitt.

Das ist ein Paradebeispiel für die gezielte Fehlanwendung geisteswissenschaftlicher Konzepte, um eine wissenschaftlich unhaltbare Position zu stützen. Gadamers „Der andere könnte auch Recht haben“ ist ja im hermeneutischen Kontext zu verstehen – also im Sinne eines Verständigungsprozesses in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wo verschiedene Perspektiven miteinander in Dialog treten müssen, um ein tieferes Verständnis zu ermöglichen. Das auf die Naturwissenschaften zu übertragen, wo es nicht um Perspektiven, sondern um überprüfbare Fakten und Hypothesen geht, ist entweder eine eklatante Fehlinterpretation oder eine bewusste Strategie zur Relativierung unliebsamer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Gadamer selbst hat mit hinreichender Klarheit herausgestellt, dass es ihm nicht um die Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften geht.

Dass Popper diesen Satz ebenfalls gebraucht hat, zeigt nur umso deutlicher, wie aus dem Kontext gerissene Zitate instrumentalisiert werden können. Bei Popper ging es um eine methodische Selbstdisziplin, um ein gesundes Maß an Zweifel an den eigenen Ergebnissen, bevor man sie als gesicherte Erkenntnis präsentiert. Daraus einen Generalangriff auf die Wissenschaft abzuleiten, ist grotesk.

Diese Art des methodischen Relativismus ist besonders perfide, weil sie für Laien oft überzeugend klingt: „Ja, aber selbst die Wissenschaft sagt doch, dass sie sich irren kann!“ – was dann so verdreht wird, dass jede Beliebigkeit oder sogar bewusste Ignoranz plötzlich als gleichwertig zur wissenschaftlichen Erkenntnis erscheinen soll.

Das Missbrauchen geisteswissenschaftlicher Konzepte zur Unterminierung der Naturwissenschaft ist leider ein beliebtes Muster. Besonders in der Esoterik-Szene oder bei postmodernen Wissenschaftskritikern sieht man das oft: Da werden dann Kuhns Paradigmenwechsel oder Feyerabends Anything goes völlig entstellt, um den Eindruck zu erwecken, als sei Wissenschaft nur ein weiteres narratives Konstrukt unter vielen.

Matthiessen hat das mit dem Pluralismus in der Medizin in genau diese Richtung gelenkt – als ob es einfach verschiedene, gleichwertige „Erkenntniswege“ gäbe, die man parallel akzeptieren müsste. Das ist der Trick: Eine Position als offen und pluralistisch darstellen, während man in Wahrheit wissenschaftliche Standards verwässert und für Beliebigkeit öffnet. Eine intellektuelle Todsünde.

Fazit: Die Grenzen und Stärken wissenschaftlicher Erkenntnis

Die Diskussion um anekdotische Evidenz und wissenschaftliche Methodik zeigt deutlich, dass subjektive Erfahrungen allein nicht ausreichen, um objektive Wahrheiten zu etablieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse basieren auf systematischen Untersuchungen, Reproduzierbarkeit und der ständigen Überprüfung bestehender Theorien. Während persönliche Anekdoten emotional überzeugend sein können, bieten sie keine verlässliche Grundlage für allgemeingültige Aussagen.

David Hume und Karl Popper haben uns gelehrt, dass absolute Gewissheit in der Wissenschaft selten erreicht wird. Stattdessen ist die Wissenschaft ein fortwährender Prozess des Hinterfragens und Verfeinerns unseres Wissens. Diese Bescheidenheit ist keine Schwäche, sondern eine Stärke, die es ermöglicht, sich kontinuierlich der Wahrheit anzunähern und nicht scheinbaren Gewissheiten aufzusitzen.

Es ist wichtig, dass wir uns dieser Grenzen bewusst sind und gleichzeitig die immense Bedeutung wissenschaftlicher Methoden anerkennen. Nur durch kritisches Denken und die Bereitschaft, unsere Überzeugungen zu hinterfragen, können wir fundierte und verlässliche Erkenntnisse gewinnen. Dazu gehört eine gewisse Demut. Wissenschaft ist kein starres System, sondern ein dynamischer Prozess, der uns hilft, die Welt besser zu verstehen und fundierte Entscheidungen zu treffen.


Vertrauen in die Wissenschaft – und das heißt?

Die Wissenschaft ist in der Vertrauenskrise – so könnte man meinen, wenn man sich die Diskussionen um Pandemien, Klimawandel oder alternative Heilmethoden ansieht. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Umfragen und Studien, die das „Vertrauen in die Wissenschaft“ messen. Die jüngste dieser Untersuchungen, erschienen in Nature Human Behaviour1, hat mit großem Aufwand das Vertrauen in Wissenschaft und Wissenschaftler in 68 Ländern erhoben. Deutschland rangiert dabei mit einem Wert von 3,49 unterhalb des gewichteten Medians von 3,62 (bei einer gemessenen Bandbreite von 4,2 bis 3,5 mit einer Standardabweichung zwischen 0.008 and 0.133) – ein Befund, der dem eher pessimistisch eingestellten Skeptiker spontan akzeptabel erscheint – bis man sich ansieht, welche Länder deutlich höhere Werte auch über dem Median erreichen. Deutschland wird dabei von Nationen glatt in den Schatten gestellt, denen man es beim besten Willen und ganz unvoreingenommen nicht zutrauen würde – ganz zu schweigen von den beiden führenden Nationen, die auch noch statistische „Ausreißer“ nach oben sind: Ägypten und Indien. Hier stellen sich Fragen nach der Repräsentativität und vor allem der Aussagekraft der Studie (Link zur Studiengrafik).

Stellen wir uns deshalb doch einmal die Frage: Was genau bedeutet „Vertrauen in die Wissenschaft“ denn eigentlich? Und was lässt sich aus einer solchen Zahl ableiten?

Eine Zahl ohne Kontext bleibt inhaltsleer

Eine auf diesem Blog früher schon einmal erörterte Untersuchung (Leseempfehlung), veröffentlicht im Journal of Experimental Social Psychology2, wirft erhebliche Zweifel an der isolierten Aussagekraft solcher Vertrauensmessungen auf. Die Studie zeigte, dass ein blindes Vertrauen in Wissenschaft ohne zumindest grundlegendes Verständnis der wissenschaftlichen Methodik oder ein Mindestmaß an Reflexionsfähigkeit eher problematisch als hilfreich ist. Menschen, die ein hohes Vertrauen in „die Wissenschaft“ angaben, waren paradoxerweise oft anfälliger für Pseudowissenschaften und Desinformation. Das klingt kontraintuitiv, macht aber Sinn: Wer ohne kritisches Hinterfragen alles glaubt, was im Namen und unter dem Anschein von Wissenschaft daherkommt, kann genauso leicht falschen oder verzerrten wissenschaftlichen Aussagen aufsitzen wie seriöser Forschung folgen.

Der begleitende Kommentar zur Studie auf Journalist’s Resource3 beschreibt dieses Phänomen anschaulich: Vertrauen ohne Wissen sei wie ein Auto ohne Bremsen. Es fehle an einer reflektierenden Instanz, die zwischen solider Wissenschaft und Pseudowissenschaft unterscheidet.

Die neue Vertrauensstudie: Mehr Umfang, aber auch mehr Erkenntnis?

Die Nature-Studie liefert nun eine beeindruckende Datenmenge. Doch stellt sich die Frage: Was genau sagen diese Zahlen aus? Wenn etwa ein Land ein besonders hohes Vertrauen in die Wissenschaft zeigt – bedeutet das, dass dort wissenschaftliche Erkenntnisse besonders gut verstanden und reflektiert werden? Oder ist es schlicht ein Ausdruck von sozioökonomischen Faktoren, Bildungsstrukturen oder gar politischer Propaganda?

Ein hohes Vertrauen in Wissenschaft ist nur dann ein Fortschritt, wenn es mit einem gewissen Maß an Urteilskompetenz einhergeht. Fehlt diese, bleibt es eine leere Größe – oder schlimmer: Es öffnet Tür und Tor für Missbrauch. Wenn Menschen zwar „der Wissenschaft“ vertrauen, aber gleichzeitig nicht zwischen fundierter Forschung und ideologisch motivierter Verzerrung unterscheiden können, dann wird Wissenschaftsvertrauen zur leichten Beute für Populismus und Manipulation.

Wissenschaftsvertrauen braucht Wissenschaftskompetenz

Anstatt nur zu messen, wie viele Menschen „der Wissenschaft“ vertrauen, sollten künftige Studien untersuchen, wie dieses Vertrauen sich mit Verständnis wissenschaftlicher Methoden, Skepsis gegenüber unhaltbaren Behauptungen und der Fähigkeit zur kritischen Reflexion verbindet. Vertrauen allein kann ebenso gut ein Zeichen von unkritischer Autoritätshörigkeit sein wie von fundiertem Wissen.

Der wahre Schlüssel liegt also nicht in einem abstrakten Vertrauensindex, sondern in der Fähigkeit zur informierten Urteilsbildung. Und die lässt sich nicht einfach per Umfrage messen.

Wieder mal die Sache mit dem kritischen Denken.


1 Cologna, V., Mede, N.G., Berger, S. et al. Trust in scientists and their role in society across 68 countries. Nat Hum Behav (2025). https://doi.org/10.1038/s41562-024-02090-5
https://www.nature.com/articles/s41562-024-02090-5

2 Thomas C. O’Brien, Ryan Palmer, Dolores Albarracin: Misplaced trust: When trust in science fosters belief in pseudoscience and the benefits of critical evaluation. Journal of Experimental Social Psychology, Vol. 96/2021, 104184, ISSN 0022-1031.

3 The Journalist’s Resource: Trusting science leaves people vulnerable to believing pseudoscience, new research finds.

Wissenschaftliche Integrität – quo vadis?

Spreu und Weizen – wer macht sich ans Sortieren?

Ich bin ja nur ein kleiner Blogger, der allerdings auch selbst schon wissenschaftlich veröffentlicht und ein Auge auf Tendenzen im Wissenschaftsbetrieb hat. Letzteres ist nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig. Warum – dazu stelle ich heute einmal einen wichtigen Teilaspekt vor, die wissenschaftliche Publikationspraxis. Da sehe ich allerlei Düsternis.

Ich erspare mir hier, die – immer noch nicht ausgestandene – Geschichte um die Studie Frass et al. (2020) auszubreiten, bei der nicht nur ein unsinniges und unplausibles Forschungsthema behandelt, sondern mit großer Expertise akribisch herausgearbeitet wurde, dass die Ergebniss nicht auf realen Daten beruhen können. Jede Intervention beim veröffentlichenden Journal, dem Oncologist, blieb bislang erfolglos, ja, führte sogar zu einer Verhärtung der Fronten, weil sich das Journal nun auch noch selbst hinter die Studie stellte. Mehr dazu beim Humanistischen Pressedienst hier und zur Kritik an der Studie im Detail beim Informationsnetzwerk Homöopathie hier.

Ein krasser Fall – ein Einzelfall? Nun da lege ich mich nicht endgültig fest, es ist eben ein Fall, der aufgefallen ist. Was unwahrscheinlich genug war.

Was aber sehenden Auges selbst bei renommiertesten Wissenschaftsorganisationen geschieht, darauf bin ich vor einigen Tagen aufmerksam geworden. Und das verschiebt nach meiner Ansicht die ganze Problematik noch einmal um ein gehöriges Stück. Was ist geschehen?

Cochrane auf Irrwegen

Hilda Bastian, Gründungsmitglied von Cochrane, beschreibt in ihrem Blogbeitrag vom 24. Januar 2025 einen Vorfall innerhalb der Cochrane Collaboration bezüglich eines Reviews zu Bewegungstherapien bei Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Dieser Review, dessen letzte vollständige Aktualisierung im Jahr 2015 stattfand, empfahl Bewegungstherapie als Behandlung für ME/CFS. Seitdem hat sich das Verständnis der Erkrankung jedoch erheblich weiterentwickelt, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Post-Exertional Malaise (PEM) als Leitsymptom. Internationale Leitlinien, darunter die des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) im Vereinigten Königreich und der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA, raten inzwischen von standardisierten Bewegungstherapien für ME/CFS-Patienten ab.

Aufgrund anhaltender Kritik von Patientenvertretern und Wissenschaftlern initiierte Cochrane eine vollständige Überarbeitung des Reviews und setzte eine unabhängige Beratungsgruppe (Independent Advisory Group, IAG) ein, der auch Bastian angehörte. Im März 2020 wurde bekannt gegeben, dass das ursprüngliche Autorenteam zurückgetreten war und ein neues Team zusammengestellt werden sollte. Im Dezember 2024 jedoch erhielt die IAG eine kurze Mitteilung, dass die geplante Aktualisierung des Reviews abgesagt wurde. Öffentliche Berichte der IAG wurden ohne Vorankündigung von der Cochrane-Website entfernt. Kurz darauf veröffentlichte Cochrane eine neue „Version“ des Reviews mit einem redaktionellen Hinweis, der die Absage der Aktualisierung bekannt gab und gleichzeitig die veralteten Empfehlungen bestätigte.

Diese Ereignisse haben zu erheblichem Unmut in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und bei Patientenvertretern geführt. Die Entscheidung, die Überarbeitung abzubrechen und den veralteten Review erneut zu veröffentlichen, wird als inakzeptable Fehlentscheidung angesehen, die das Vertrauen in Cochrane untergräbt. Angesichts der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und der potenziellen Schäden, die durch ungeeignete aktivierende Bewegungstherapien bei ME/CFS-Patienten entstehen können, ist diese Entwicklung besorgniserregend. Ein gültiges, gar mit aktuellem Datum versehenes Paper in der Publikation, das eine längst als falsch und schädlich erkannte Therapieoption befürwortet? Mit dem Namen der renommiertesten Autorität in der evidenzbasierten Medizin? Was erlaube Cochrane, um einmal Giovanni Trappatoni zu paraphrasieren!

Für die ME/CFS-Forschungsgemeinschaft in Deutschland um die führende Expertin Prof. Carmen Scheibenbogen (Charité), ist es von großer Bedeutung, diese Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich ist entscheidend, dass klinische Leitlinien und Empfehlungen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft basieren und die Bedürfnisse und Sicherheit der Patienten im Vordergrund stehen. Es ist unerlässlich, dass wissenschaftliche Gesellschaften transparent agieren und Kritik ernst nehmen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Fachwelt zu bewahren.

Eine besorgniserregende Entwicklung

Dass das Publikationssystem strukturelle Schwächen hat, ist nichts Neues – wirtschaftliche Interessen, Publikationsdruck und Intransparenz sind als Problemursachen bekannt. Aber dieser Vorgang bei Cochrane (und letztlich auch der ersterwähnte bei The Oncologist) geht über diese bekannten Probleme hinaus: eine offenbar zunehmende Gleichgültigkeit oder sogar aktive Verteidigung wissenschaftlich fragwürdiger Inhalte durch etablierte Journale und Organisationen. Und ausgerechnet die Cochrane Collaboration, die weltweit als Gralshüter der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin gilt, handelt dem zuwider?

In der Tat ist der Fall, den Hilda Bastian schildert, besonders alarmierend, weil Cochrane nach eigenem Selbstverständnis den „Goldstandard“ der evidenzbasierten Medizin verkörpert. Dass eine längst überfällige Revision eines problematischen Reviews per ordera mufti nicht nur sabotiert, sondern die überholte Version aktiv erneut veröffentlicht wird, ist eine Form institutionalisierter mangelnder Fehlerkultur: Man hält an einer überholten, deshalb potenziell schädlichen Empfehlung fest, statt wissenschaftliche Korrektheit walten zu lassen. Das ist nicht nur intellektuell unehrlich, sondern kann in diesem Fall auch gesundheitliche Folgen für ME/CFS-Patienten haben.

Obwohl anders gelagert, kommt einem dabei der Fall Peter Gøtzsche vor einigen Jahren in den Sinn. Gøtzsche veröffentliche damals als Gründungsmitglied und leitender Mitarbeiter von Cochrane auf eigene Faust eine harsche Kritik an einem Review von Cochrane, das sich mit dem HPV-Impfstoff Gardasil befasste. Worauf er nicht nur seinen Job bei Cochrane (Leiter des Nordic Cochrane Centre) verlor, sondern gleich auch noch aus der Organisation ausgeschlossen wurde. Diese spezielle Sache wurde aufgearbeitet, mit dem Ergebnis, dass Gøtzsche nur so etwa zu 5 Prozent Recht hatte. Hinzu kam, dass er sich zusätzlich dadurch diskreditierte, dass er einen ausgesprochenen Impfgegner mit ins Boot genommen hatte. Aber die institutionellen Mechanismen, die ihn schon vorher bei Cochrane zum Außenseiter machten, sind nie wirklich beleuchtet wurden. War die Sache mit dem HPV-Review Grund oder nur eine willkommene Gelegenheit, Gøtzsche loszuwerden? Cochrane hatte Zusagen auf Klärung, die auf Drängen der wissenschaftlichen Community gemacht wurden, nie eingehalten.

Zweifellos war Gøtzsche seit jeher ein Opponent, der vor allem die zunehmende Kooperation von Cochrane mit der pharmazeutischen Industrie kritisierte. Der offizielle Grund, ihn vor die Tür zu setzen, war laut Cochrane „bad behaviour“, also schlechtes Benehmen … Na. Ich habe mich seinerzeit mit dieser Geschichte intensiv beschäftigt und auch dazu geschrieben, aber nicht veröffentlicht. Heute finde ich keine deutschsprachige Quelle, die nach meiner Einschätzung die Facetten des Konfliktes einigermaßen neutral wiedergibt, deshalb biete ich hier keinen deutschsprachigen Link an. Wer mehr erfahren will, den verweise ich auf den Blog „Skeptical Raptor“ des geschätzen US-Bloggerkollegen Michael Simpson.

Liegt darin eine generelle Tendenz? Namlich die, dass Institutionen sich gegen Kritik verteidigen oder sie ignorieren, anstatt wissenschaftliche Debatten offen zu führen? Und das ist die eigentliche Gefahr: Wenn sich Journale und Organisationen primär selbst schützen, statt als Korrektiv für Wissenschaftsfehler zu dienen, dann untergraben sie ihre eigene Glaubwürdigkeit.

Die Kombination aus wirtschaftlichen Zwängen, Publikationsdruck und mangelnder Fehlerkultur könnte langfristig die wissenschaftliche Integrität aushebeln. Es wird immer mehr darum gehen, Kritik abzuwehren oder zu ignorieren, anstatt sich ihr konstruktiv zu stellen. Und das ist eine schiefe Ebene, die – wenn nicht gegengesteuert wird – fatale Folgen haben kann.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Welche Mechanismen müssten sich ändern, damit sich wissenschaftliche Journale nicht nur dem Peer-Review-Prozess verpflichtet fühlen, sondern auch einer echten Fehlerkultur?

Wer bin ich, für dieses Riesenproblem eine Lösung anbieten zu wollen. Aber einige DInge liegen schlicht auf der Hand, sind in kritischen Kreisen längst Konsens, sind aber trotzdem weit von einer Verwirklichung entfernt.

Ganz elementar sind zwei Dinge. Das sind zunächst die heutigen Selektionsmechanismen der Journale. An Einreichungen zur Veröffentlichung mangelt es nicht, was auch auch dadurch belegt wird, dass selbst mit dem wissenschaftlichen (oder auch unwissenschaftlichen) Bodensatz noch Geschäfte gemacht werden, indem sich Journale etablieren, die nach außen hin ein seriöses Bild abgeben, aber nichts anderes tun als ein peer review nur vorzutäuschen (oder ganz darauf zu verzichten) und gegen klingende Münze jedem „Wissenschaftler“ die Gelegenheit zu einer Journalveröffentlichung zu geben.

Bei den seriösen Journalen wäre zunächst die offensichtliche Fixierung auf spektakuläre Ergebnisse zu nennen. Diese führt nicht nur zu einer Verzerrung des wissenschaftlichen Diskurses (Publication Bias), sondern untergräbt auch das Selbstkorrektiv der Wissenschaft. Replikationsstudien, die essenziell für die Validierung von Erkenntnissen sind, haben es schwer, veröffentlicht zu werden.

Das Peer Review In der aktuellen Form ist oft intransparent und unzureichend – manche Reviewer leisten hervorragende Arbeit, andere überfliegen das Paper nur. Es wäre essenziell, dass nicht nur die Namen der Reviewer, sondern auch ihr konkreter Prüfbereich klar ist. Wer hat sich mit der Methodik befasst? Wer mit der statistischen Auswertung? Wer mit der Plausibilität der Hypothese? Und ja, faire Bezahlung für Peer Reviews wäre ein wichtiger Schritt.

Darüber könnte man lange schreiben. Ich will aber mal etwas riskieren in diesem Beitrag: Ich werde Sciene Fiction-Autor. Warum nicht?

Visionen

Meine Vision: Ein weltumspannendes Rechenzentrum, in das jeder Forschende seine Ergebnisse ablegen kann – kostenlos, getragen von der wissenschaftlichen Community mit Rückendeckung der staatlichen und halbstaatlichen Forschungsinstitute. Aber nicht ohne Hürden – ein mehrstufiges Beurteilungsverfahren bis hin zu einem genauen Review durch menschliche Mitarbeiter wäre durch eine entsprechend leistungsfähige und spezialisierte KI zu leisten. Die auch die Diskussionen der Community moderieren und im Sinne einer unvoreingenommenen Fehlerkultur handeln könnte …

Das wäre jedenfalls eine Lösung, die das Problem an der Wurzel packt. Denn solange Verlage die Wissenschaft als Geschäftsmodell betreiben, wird sich an den grundlegenden Problemen wenig ändern. Ein von der Wissenschaftscommunity selbst kontrolliertes System, das KI-gestützte Qualitätskontrolle mit menschlicher Expertise kombiniert, könnte Transparenz, Fehlerkultur und Effizienz drastisch verbessern. Und das alles werden wir in Zukunft noch weit mehr brauchen als ohnehin schon.

Natürlich bleibt die Frage, ob und wie sich so etwas realisieren ließe – insbesondere angesichts des Widerstands kommerzieller Verlage und der politischen Trägheit. Aber die Alternative ist ein weiteres Abrutschen in eine wissenschaftliche Publikationslandschaft, die mehr von Prestige und wirtschaftlichen Interessen als von Wahrheitsfindung geleitet wird. Man sieht, ich gehöre nicht zu denen, die bei Visionen die Einschaltung eine Arztes empfehlen. Sondern ein Nachdenken, wie man einer solchen Idee praktisch näher kommen könnte.

Die Journale sind aber natürlich nur ein Teil des Systems – die Wissenschaftler selbst sind oft gezwungen, mitzuspielen. Sei es durch den Publikationsdruck, der sie dazu bringt, möglichst viele „interessante“ Ergebnisse zu produzieren (statt solide, aber unspektakuläre Forschung zu betreiben), oder durch ideologische Scheuklappen, die dazu führen, dass sie eigene Fehler nicht erkennen (oder nicht zugeben wollen). Nicht zu vergessen die Verschwendung von Ressourcen bei problembewussten Wissenschaftlern, die oft viel Zeit aufwenden, die genannten Tendenzen zu bekämpfen. Wobei zusätzliche Aspekte wie Papermills („Wissenschaft auf Bestellung“) noch gar nicht angesprochen sind.

Wenn sich Leichtfertigkeit und Laissez-faire auf allen Ebenen ausbreitet – von Forschern über Peer Reviewer bis zu den Journals –, dann haben wir ein echtes Problem mit der wissenschaftlichen Integrität. Und wenn Institutionen wie Cochrane und bislang sehr renommierte Journale wie The Oncologist, die eigentlich für höchste Standards stehen sollten, sich dem auch noch anpassen, dann ist das ein echtes Warnsignal.

Aber was zum … schreibe ich hier … ich bin doch nur ein kleiner Blogger. Der aber seit gut zehn Jahren die Augen aufhält.


Schüßler-Salze, Bachblüten, Homöopathie – ja was denn nun?

Heute war ich beim Podcast „Grams‘ Sprechstunde“ bei der sehr geschätzten Dr. Natalie Grams zu Gast – zu meiner Freude schon zum dritten Mal. Heute ging es – nach Zuhörerwunsch – um Schüßler-Salze und Bach-Blüten, ihre Einordnung aus medizinwissenschaftlicher Perspektive und vor allem um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede untereinander und im Verhältnis zur Homöopathie. Ja, mir ist durchaus bekannt, dass beide „Medizinen“ in den Apotheken gut nachgefragt sind und über die Theke gehen. Ohne dass dort hinreichende Klarheit geschaffen wird. Deshalb!

Bild von Mohamed Hassan auf Pixabay

Und das in einer halben Stunde …? Wir haben es versucht. Mir ist dabei klar geworden, dass ich dazu auch einmal etwas aufschreiben muss. Also dann!


Was vermutlich zunächst überrascht, denn dies vermitteln einem weder die Bekannten mit den „guten Erfahrungen“ noch erfährt man (in der Regel) dazu etwas in der Apotheke: Weder Bach-Blüten noch Schüßler-Salze kann man als Homöopathie bezeichnen und jedenfalls klassische und genuine Homöopathen (die, die noch halbwegs nach Hahnemanns Lehre arbeiten und noch nicht vollends ins Reich der Fantasie abgedriftet sind) werden das auch weit von sich weisen.

Beiden fehlen die tragenden Aspekte von Hahnemanns Homöopathie. Schüßler und Bach berufen sich weder auf Ähnlichkeitsprinzip noch auf rituelle Potenzierung (also die Kombination von Verdünnen und Schütteln und die damit einhergehende „Wirkungsverstärkung“). Bach immerhin setzt auf „Schwingungen“ und ist damit nicht so weit weg von Hahnemanns „geistiger Arzneikraft“ – Schüßler braucht die nur an einer einzigen Stelle seiner Lehre (wir kommen darauf zurück) – und verstand das damals durchaus nicht als esoterisch.

Oha!?

Ja, tatsächlich. Und es kommt noch toller.

Denn Schüßler-Salze gelten als Arzneimittel, woraus folgt, dass sie ausschließlich in der Apotheke erhältlich sind. Bach-Blüten dagegen sind rechtlich als Lebensmittel eingestuft!

Bitte???

Wilhelm Schüßlers „Biochemische Methode“

Ja, tatsächlich. Nach der EU-Arzneimittelrichtlinie ist Homöopathie alles, was nach homöopathischen Prinzipien hergestellt ist. Offensichtlich wird das weit ausgelegt – nur, weil die Schüßler-Salze als D6- und D12-Dilutionen (also Verdünnungen) angeboten werden, sind sie – was offenbar sogar Apothekerkammern manchmal nicht wissen – im Auge des Gesetzes Homöopathie. Der Begriff „Potenzen“ im homöopathischen Sinne ist aber ja gar nicht angebracht! Denn hier bei den Salzen sind es ja tatsächlich nur Verdünnungen, wie es Schüßler umfangreich beschrieb und begründete – und Schüßler bezweckte damit auch etwas ganz anderes als die Freisetzung einer „immer stärker werdenden geistigen Arzneikraft“, was der Sinn der eigentlichen homöopathischen „Potenzierung“ ist. Er sagte auch ganz klar, seine Methode sei „keine homöopathische“.

Man mag also durchaus an der Berechtigung zweifeln, den Schüßler-Salzen als „nach homöopathischen Grundsätzen hergestellten“ Mitteln die Arzneimitteleigenschaft zuzugestehen. Gleichwohl ist eine D6 – bis auf drei von Schüßlers 12 Mitteln die Regel – schon eine Verdünnung von 1 zu einer Million und damit die Grenze, an der die natürlichen Verunreinigungen in selbst für Laborzwecke aufgereinigten Lösungsmitteln (im Falle Schüßlers durch Verreibungsschritte mit Milchzucker) den Rest des Urstoffes übersteigt. Interessanterweise gab es den eigentlich daraus folgenden Einwand, es müssten daher stets auch (alle) anderen Mineralstoffe in etwa D6 bis D8 in seinen Salzen stecken, eingebracht durch das Lösungs- bzw. Verreibungsmittel, schon zu Schüßlers Zeiten. Er bemüht sich in seinem Büchlein wortreich, das als irrelevant hinzustellen, was es aber durchaus nicht ist.

Mit seiner von ihm selbst als „Biochemie“ bezeichneten Heilweise entfernte er sich unterm Strich also maximal von homöopathischen Grundsätzen. Obwohl er als Homöopath begonnen hatte (ein wenig zwangsweise, denn seine ärztliche Zulassung nach einem abgebrochenen Studium war einigermaßen dubios und er erhielt sie nur für eine homöopathische Praxis). Dann aber begann er, sich von der Homöopathie zu lösen – sie war ihm zu kompliziert. Eigentlich wollte er nur „weniger Mittel“ haben. Als er dann aber das Ähnlichkeitsprinzip verneinte und sich für Hahnemanns Potenzierungsidee (Wirkungszunahme durch Rituale während des Verdünnens) nicht die Bohne interessierte, wurden die Homöopathen einigermaßen ungehalten und kritisierten ihn scharf. Sie waren nicht bereit, Schüßlers „Biochemie“ als Homöopathie anzuerkennen. Die Sache eskalierte ordentlich und endete damit, dass Schüßler aus dem Zentralverein homöopathischer Ärzte austrat. Er war – nicht nur in diesem Fall – als ein streitlustiger Herr bekannt, der keine Gelegenheit ausließ, auf seinen Kritikern herumzuhacken.

Gleichwohl kann man aus vielen seiner Äußerungen entnehmen, dass er seine Methode als eine Art Bindeglied zwischen Homöopathie (die er nicht etwa gänzlich verwarf) und der sich gerade entwickelnden wissenschaftlichen Medizin ansah. Ursprünglich bezeichnete Schüßler seine Methode ja auch als eine „abgekürzte Homöopathie“ – er empfand sich wohl tatsächlich gleichzeitig in der Nachfolge Hahnemanns und als Jünger Rudolf Virchows, des Entdeckers der Zellularpathologie. Der wird sich gefreut haben …

Was die wissenschaftliche Beleglage angeht: es gibt überhaupt keine wissenschaftlichen Studien zu Schüßler-Salzen und ihrer Wirksamkeit. Keine einzige. Nichts zu finden in den medizinischen Datenbanken. Da müssen wir schon mal zurückgehen bis ins Jahr 1904, als das Preußische Ministerium für Medizinal-Angelegenheiten eine Begutachtung von Schüßlers Methode beauftragte. Die fiel ziemlich verheerend aus und der Gutachter hatte kein Problem damit, anzudeuten, dass es sich hier entweder um einen Scharlatan oder einen „Schwachsinnigen“ handeln müsse. So stand es drin. Wir wollen da nicht urteilen, skurrile Methoden gab es damals wie Sand am Meer, zumal seit 1869 in den Ländern des Deutschen Bundes und ab 1871 dann im Deutschen Reich die „Kurierfreiheit“ galt, also jedermann ungehindert „Heilkunde“ ausüben konnte. Ärzten schien man allerdings durchaus auf die Finger geschaut zu haben.

Interessant ist für uns vor allem, wie populär die Methode noch heutzutage ist. Wozu vielleicht auch beiträgt, dass heute die Bezeichnung „Biochemie“ eine Nähe zur wissenschaftlichen Biochemie suggeriert, was aber wieder eine Sache für sich ist. Zu Schüßlers Zeiten steckte das, was heute als Biochemie bezeichnet wird, gerade mal in den Kinderschuhen und nannte sich „physiologische Chemie“. Durch den Namenswandel dieser Disziplin geriet Schüßlers „Biochemie“ irgendwie in deren Nähe, obwohl er sich in seinem Büchlein von der „Biochemischen Heilweise“ selbst wiederum von der „physiologischen Chemie“ abgrenzte. Was wohl nur dem Wunsch geschuldet war, etwas Eigenes, Originales geschaffen zu haben. Näheres gleich, erstmal kurz zu Edward Bach, dessen Namen die bekannten Mittelchen tragen, die haben also mit Blüten an Bächen nur vielleicht rein zufällig mal was zu tun.

Edward Bachs Blütenessenzen

Bach kam auch von der Homöopathie. So richtig überzeugt davon scheint er aber nie gewesen zu sein. Er suchte wohl zeitlebens nach der „einen“ Krankheitsursache und einem „universellen“ Heilmittel (Schwurbelalarm!) und neigte dabei Mystizismus und Pseudopsychologie zu. Nachdem er ein Jahr lang zu Nosoden (homöopathische Zubereitungen aus pathogenem Material) „geforscht“ hatte, eröffnete er eine Landarztpraxis. Aber auch die schloss er ziemlich bald wieder (offenbar konnte er sich das erlauben) und machte sich künftig nur noch auf die Suche nach seiner universellen Heilmethode. Seine Überzeugung, dass alle (!) Krankheiten nur Folge psychologischer Befindlichkeiten und Zustände seien, hatte er da bereits gefasst. Von der Homöopathie war er da schon weit weg.

Das „universelle Heilmittel“ – und zwar nicht gegen die Krankheiten, sondern gegen die „eine Ursache“, die Störung des seelischen Gleichgewichts – fand er in den „Schwingungen“ von Blütenessenzen. Wie kam er nun darauf? Nun, rein „intuitiv“, oder anders ausgedrückt: er hat sich das mit erheblicher Fantasie so ausgedacht. Wozu passt, dass er selbst nie auch nur auf die Idee kam, einen Wirkungsnachweis für seine Mittelchen zu führen,

Wie kam er nun auf die Zuordnung von Pflanzen zu Zuständen von Psyche und Gemüt und von da aus zu Krankheitsbildern? Wie seine damalige Assistentin berichtete (und er selbst auch in seinem Buch „Zwölf Heiler“ beschrieb) spürte er bei der „Begegnung“ mit Pflanzen selbst ganz deutlich die Art von Verstimmung, gegen die diese geeignet sein würden. Im Zweifel legte er sich ein Blütenblatt oder ein anderes kleines Stück der Pflanze auf die Zunge und damit war dann die Forschung abgeschlossen. Mehr Esoterik geht allenfalls noch in der Anthroposophie.

Bach stellte seine Pflanzen in einem Wasserkübel entweder eine Weile in die Sonne oder – im Falle von eher holzigen und festen Pflanzenteilen – kochte er sie schlicht ab. Anfänglich sammelte er den Morgentau von den Blüten, das erwies sich für ein größer angelegtes Geschäftsmodell allerdings als schwierig … Und Achtung! Was finden wir hier wieder im Hintergrund mitschwingen? Das Wassergedächtnis …

Die Sache mit den Tautropfen ist schon länger passé …
Bild von Gabi auf Pixabay

Er verdünnte diesen Pflanzensud (der letztlich qualitativ und quantitativ undefinierbare Stoffe zum Inhalt hatte) zur Hälfte mit Cognac oder Brandy. Tja … es sei aber angemerkt, dass er damit keinen medizinischen Zweck verfolgte, sondern wohl nur eine Art Keimfreimachen. Irgendwas mit Potenzen gabs bei ihm nicht, vor allem keine definierten Potenzstufen. Und das ist der Punkt, der ihn aus der Definition von Homöopathie herausfallen ließ. Daran ändert auch nichts die Anweisung, diese dann als „Bach Stockbottles“ vertriebenen Lösungen zur Einnahme nochmal mit einigen Tropfen auf ein Glas Wasser zu verdünnen. So ist man ohnehin auf jeden Fall schon in der Größenordnung jenseits jeder physiologischen Wirksamkeits-Wahrscheinlichkeit angekommen. Aber das ist ja egal, es geht ja nur um die Schwingungen!

stux, Pixabay (Lizenz CC0)

Eine andere Sache ist, dass es Menschen gibt, die sich an die Sache mit den paar Tropfen nicht halten – und bei wiederholter gering oder gar nicht verdünnter Einnahme oder gar dem Konsum ganzer Stockbottles eine gewisse Menge Alkohol zu sich nehmen. Der Alkoholanteil von Bachblütenessenzen liegt etwa bei 27 Volumenprozent. Nicht schlecht! Oktoberfestbier hat etwa sechs Volumenprozent. Ein Fall eines bösen Alkoholiker-Rückfalls dadurch ist tatsächlich dokumentiert.

Für Kinder – insbesondere Säuglinge und Kleinkinder – würde ich persönlich allein wegen des Alkoholgehaltes Bach-Blüten gar nicht in Erwägung ziehen (abgesehen davon, dass ich das ohnehin nicht tun würde). Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA empfiehlt schon lange, Neugeborenen und Kindern bis zu 2 Jahren überhaupt keine „pflanzlichen“ Mittel auf alkoholischer Basis zu verabreichen sowie dies bei Älteren zu minimieren. Es gibt eine Absichtserklärung der EU-Kommission, dazu auf Sicht eine europäische Harmonisierung mit dem Endziel anzustreben, Alkohol generell aus Medikationen für Kinder und Heranwachsende zu verbannen. Warum, glaubt ihr wohl, ist vor einigen Jahren das jahrzehntelang „beliebteste Erkältungsmittel Deutschlands“, Meditonsin-Tropfen, plötzlich auch als Globuli auf den Markt gekommen?

Die hauptsächliche Parallele Bachs zu Hahnemann ist also das Setzen auf eine Art „geistigen“, jedenfalls „immateriellen“ Agens als Grundlage einer Wirkung. Ob das nun „Energie“ oder „Schwingung“ oder „feinstofflich“ heißt (Bezeichnungen, die heute auch „modern“ für Hahnemanns „geistige Arzneikraft“ verwendet werden), läuft auf das Gleiche hinaus, Denn diese Begriffe werden entweder nicht im klar definierten physikalischen Sinne verwendet (Energie, Schwingung) oder sind leere Worte (feinstofflich). Und an dieser Stelle wird klar, dass insofern Bach dem guten alten Samuel Hahnemann eigentlich nähersteht als Schüßler (der „Feinstofflichkeit“ nur als Erklärung braucht, wie die Mineralsalze in die Zelle gelangen sollen), obwohl wiederum anders als dessen Salze Bachs Essenzen rechtlich nicht als Homöopathie und damit auch nicht Arzneimittel … alles klar?!?

Ich sag ja, Gemengelage. Gepflegter Irrsinn, möchte man fast sagen.

Para- und Pseudowissenschaft

Beide Methoden balancieren auf der Grenze zwischen Para- und Pseudowissenschaft. Was uns Gelegenheit gibt, auch zu diesen Begriffen einmal Klarheit zu schaffen: Pseudowissenschaft nimmt für sich Wissenschaftlichkeit in Anspruch, ohne dafür die notwendigen Belege beibringen zu können (und meist ohne die „Spielregeln“ der Wissenschaft zu akzeptieren). Eine Pseudowissenschaft in diesem Sinne ist klassischerweise die Homöopathie oder auch die sogenannte „ernsthafte“ Astrologie.

Eine Parawissenschaft dagegen ist der klassische „Schwurbel“, der sich in Spekulationen und kühnen Behauptungen ergeht, aber gar nicht den „Ehrgeiz“ hat, das auf eine Ebene von Wissenschaftlichkeit zu heben – oder Wissenschaft glatt ablehnt. Wahrsagerei und Hellsehen zum Beispiel. So wie auch manches auf dem sogenannten „grauen Gesundheitsmarkt“, der dank eines lahmenden und hinkenden Verbraucherschutzes im Gesundheitswesen hierzulande sozusagen hinter jeder Ecke anzutreffen ist. Bach hatte offensichtlich keinen Ehrgeiz, sich wissenschaftlich zu etablieren, der wäre also ein formvollendeter Parawissenschaftler. Schüßler sah das zwar anders, aber er genügte sich wohl selbst in seinem Bewusstsein, sowohl Jünger von Hahnemann als auch von Virchow zu sein – bei ihm kommt ja auch noch das Fehlen jeglichen Versuches dazu, seine Methode nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu belegen. Andererseits wird er durch die Einbeziehung in den rechtlichen Begriff der homöopathischen Mittel wieder auf eine gewisse Ebene gehoben …

Sicher ist klar geworden, warum ich beide in der Grauzone zwischen Para- und Pseudowissenschaft verorte. Aber das nur zur Klärung nebenbei.

Jetzt aber noch ein wenig Wissenswertes zu den Therapievorschlägen beider Herren.

Schüßler setzte sich dadurch von den Homöopathen ab, indem er das Ähnlichkeitsprinzip durch seine biochemischen Überlegungen ersetzte und eine Wirkungszunahme durch Potenzierung nicht brauchte, nicht einmal irgendwo erwähnte, sondern mit umfangreichen physiologischen Begründungen auf „Verdünnung“ (bzw. auf Verreibung) „bis zur 6. Decimalstufe“) setzte. Schüßler selbst benutzte nie den Begriff „Potenzierung“, er interessierte sich offensichtlich nicht dafür.

Verdünnungen!!!
Quelle: Digitalisat der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf – Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) 

Gleichwohl liest man überall auf Schüßler-Infoseiten von „Potenzierung“, doch ist das ein von der Homöopathie mit einem bestimmten Bedeutungsinhalt geprägter Begriff (Verdünnen unter gleichzeitigem rituellem Schütteln, was eine „Wirkungszunahme der geistigen Arzneikraft“ bewirken soll), der bei Schüßler-Salzen durchaus unangebracht ist. Möchte man hier eine Nähe zur Homöopathie suggerieren? Oder wird das gar nicht mehr reflektiert?

Wichtig zu wissen ist, dass Schüßler mit seinen Salzen gar nicht direkt supplementieren, also Mineralstoffmängel ausgleichen wollte. Nein, obwohl er seine Lehre – anders als Hahnemann – auf gerade einmal 80 Druckseiten niederlegen konnte, war es schon etwas komplizierter. Er stellte sich vor, dass die Aufnahmefähigkeit für die essenziellen Mineralstoffe in den Zellen gestört sei, was zu einem zellulären Mangel führe und damit Krankheitserscheinungen aufrechterhalte. Aufrechterhalte? Ja, denn Auslöser dieser „Störung“ sei gerade die zu behandelnde Krankheit selbst, weil ihr pathogener „Reiz“ dazu führe, dass sich die Zellen sozusagen verausgaben und damit ihren Mineralstoffvorrat verlieren würden. Schüßlers Mittel bezwecken dabei aber nur, auf die Zellen einen gegenteiligen Reiz auszuüben, einen Anstoß, damit sie wieder ordentlich ihre Pflicht tun und die notwendigen Stoffe aus der Nahrung wieder aufnehmen. Er präzisierte dabei sogar, dass dazu die Zellen genau 26 Moleküle des Salzes aufnehmen müssten. Niemand weiß, wie er darauf kam und weshalb er annahm, genau dies werde exakt durch seine D6 – oder D12-Verdünnungen erreicht. An dieser Stelle kommt auf einmal beim so rationalen Schüßler doch wieder die „Feinstofflichkeit“ ins Spiel mit ihren „Schwingungen“ – damit erklärt er nämlich, wie die Moleküle ins Innere der Zellen gelangen sollen. Gar nicht mal so unkompliziert, oder?

Nun, wie dem auch sei. Jedenfalls durchaus folgerichtig schrieb Schüßler, damit dieser „Anstoß“ für die Zellen auch seinen Zweck erreicht, nach der Einnahme seiner Salze eine spezielle Diät vor, die dann die eigentliche Supplementierung (den Mangelausgleich) über die nun „aufnahmebereiten Zellen“ vornehmen solle. Erfährt man das in irgendeiner Apotheke? Weiß man das dort überhaupt? Oder lässt man die Leute in dem Irrglauben, sie würden allen Ernstes einem Mineralstoffmangel entgegenwirken?

Leider wohl ja – Natalie Grams brachte in unserem Gespräch das Beispiel, dass etliche SportlerInnen Magnesiummangel auszugleichen oder vorzubeugen glauben, wenn sie Schüßlers Salz Nr. 7 (Magnesiumphosphat) einnehmen … Und die so beliebte „heiße Sieben“? Genauso wenig wirksam wie alle anderen Stoffe Schüßlers, sie ist wohl irgendwie „populär“ geworden, weil die Nr. 7 das einzige Präparat war, bei dem Schüßler ein Auflösen in Wasser vorgeschrieben hat. Alle anderen Salze sollen schon direkt über die Mundschleimhaut, spätestens über die Schleimhaut der Speiseröhre aufgenommen werden. Schüßler befürchtete, dass seine „26 Moleküle“ im Verdauungstrakt Schaden nehmen oder chemisch ungewollt zu anderen Verbindungen reduziert werden könnten. Auch dazu habe ich bislang in Apotheken noch nie etwas gehört ….

Schüßler hat also ein ganzes Therapiesystem geschaffen, bei dem es – selbst angenommen, es sei richtig – absurd wäre, sich auf die Einnahme der Salze zu beschränken. Zudem muss – Therapie setzt Diagnose voraus – erst einmal festgestellt werden, an welchem „Mangel“ im Schüßler’schen Sinne der Patient oder die Patientin denn eigentlich leiden. Auch dafür hat Schüßler seine spezielle Methode: die Antlitzanalyse. Man soll tatsächlich am Gesicht erkennen können, was Sache ist. Diese großartige Idee wurde übrigens von einem ehemaligen Polizeisekretär namens Kurt Hickethier aufgenommen, der zwei „Genesungsanstalten“ betrieb und die Antlitzanalyse zu einen ausgetüftelten „System“ namens „Sonnerschau“ entwickelte. Und die findet sich noch heute im Diagnostikrepertoire manches Heilpraktikers wieder, durchaus auch ganz unabhängig von Schüßlers System.

Hand aufs Herz, liebe Schüßler-Fans: wann hat zuletzt jemand in der Apotheke durch einen längeren Blick in euer Antlitz gecheckt, ob ihr auch nach dem richtigen Schüßler-Salz verlangt? Na? Obwohl ich schon weiß, dass es so etwas hier und da in Apotheken, die dem „Alternativen“ zugeneigt sind, als „Kundenservice“ durchaus gibt, oft ganz ohne Zusammenhang mit Schüßler-Salzen.

Noch einen obendrauf: Schüßler meinte, die Antlitzanalyse sei rein intuitiv und könne nicht durch Beschreibungen oder Schaubilder erlernt werden. Was Hickethier nicht weiter scherte. So ist das nun mal im Paralleluniversum.


Noch genug Kondition für ein bisschen Bachblütenkunde?

Vielleicht ist schon mal aufgefallen, dass man die Blütenessenzen mit den Stockbottles auch nur in Apotheken bekommt (und bei bestimmten, meist in England beheimateten Versandhändlern). Wie das? Liegt daran, dass der Originallieferant mit Lizenz der Bach-Stiftung, die Firma Nelsons, nur an Apotheken exportiert – kein schlechter Schachzug. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von „Derivaten“, also von Bachs Essenzen „abgeleiteten“ Präparaten, von Alpenblüten bis zu Himalayablüten, die aber nicht die Bezeichnung Bach-Blüten führen dürfen. Die Optik der bekannten Original-Stockbottles mit dem Bach-Schriftzug tut das Übrige in Sachen Kundenbindung.

Werfen wir noch einen Blick auf einen fundamentalen Unterschied zwischen Hahnemann und Bach. Und zwar auf die Hahnemannsche und die Bachsche Ätiologie, also die jeweilige Lehre von der Ursache und der Entstehung von Krankheiten. Hahnemann vermied zeitlebens eine Kategorisierung von „Krankheit“ und lehnte ein Konzept überindividuell gleichförmig auftretender Krankheiten ab – er sprach ja nur davon, dass von „Krankheit“ nicht mehr zu erkennen sei als die außen wahrnehmbare individuelle Symptomatik. Daraus folgt Hahnemanns Postulat einer individuellen „verstimmten geistigen Lebenskraft“, der eine „geistige Arzneikraft“ mit der Auslösung einer auslöschenden „Kunstkrankheit“ entgegenwirken soll. Was dann wiederum die Basis für die vielgepriesene „Individualität“ der homöopathischen Therapie bildet und ebenso die Grundlage für die stetige abstruse Behauptung, die „Schulmedizin“ behandle keine Ursachen, sondern Symptome.

Bei Bach findet sich davon nichts. Dessen „Ätiologie“ zeichnet sich gegenüber Hahnemann (bei dem wir den Stand des Wissens in der ersten Hälfte des 19. Jh. zugrunde legen müssen) immerhin in den 1930er Jahren (!) durch ausufernd subjektive, damit inkonsistente reine Annahmen aus, bei der er gar nicht erst den Versuch unternahm, diese zu validieren (also auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen). Zwar war seine These, alle Krankheiten hätten ihre Ursache in seelischen Verstimmungszuständen („unharmonischen Schwingungen“), damals irgendwie so etwas wie ein Zeitgeistphänomen, wenn nicht gar ein Hype, aber gegenüber Hahnemanns Zeiten war die wissenschaftliche Medizin einschließlich der Ätiologie schon weit entwickelt. Bach scheint das – obwohl studierter Mediziner – gleichgültig gewesen zu sein, typisch Paramediziner.

Die Ausschließlichkeit aber, mit der Bach diese These allein psychische Ursachen für sämtliche Krankheitszustände in Anspruch nahm, diskreditierte seine Ätiologie aber schon damals. Sein nächster Schritt führte nun vollends ins Unbelegt-Subjektive. Schlicht aufgrund seiner „Intuition“ ordnete er „seelische Verstimmungszustände“ einzelnen Pflanzen zu. Und nicht nur das. Als Grundfolie der „Verstimmungszustände“ verwendete er die Archetypenlehre von C.G. Jung eine sehr vom – heute als unwissenschaftlich qualifizierten – Übervater Freud beeinflussten Psychologie (bei der Archetypenlehre z.B. spielt die Lehre vom „Unbewussten“ noch eine wesentliche Rolle). Möglicherweise sah er in dem einer gewissen Mystik (Traumlehre) durchaus zugeneigten Jung so etwas wie einen ideellen Partner …

Gerade der Anspruch, seelische, psychopathologisch einzuordnende Zustände und Befindlichkeiten nach „Archetypen des kollektiven Unbewussten“ mit den Blütenessenzen per „Schwingungsausgleich“ beeinflussen und damit die aus den Verstimmungszuständen erst folgenden Krankheiten kurieren zu wollen, ist das so Bedenkliche an der Pseudomethode Bach-Blüten. Man schaue sich nur einmal die Auswüchse an, die sich inzwischen auch in Apotheken zeigen; Bachblüten-Drops oder Gummibonbons gegen Schulangst … ich erspare uns hier weitere Beispiele. Zu suggerieren, regelrechte psychopathologische Krankheitszustände (teils deutlich über alltägliche Befindlichkeitsstörungen hinaus, die einen Griff zu Medikationen ohnehin gar nicht rechtfertigen) als eigentliche Krankheitsursache beheben zu können, macht die Bach-Blüten zu potenziell sehr kritischen und auch unethischen Mitteln. Hier wird suggeriert, dass es nur geringen Aufwandes bedarf, um wieder „in Ordnung zu kommen“ – fatal bei der ohnehin stark empfundenen Hemmschwelle, fachliche psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das ist der eigentlich wirklich fatale Punkt an der ganzen Bachblütengeschichte.

Man wird festhalten müssen, dass Bach ein Sonderling war, der – bei allen Unterschieden von der Homöopathie mitgeprägt – über den Weg einer esoterisch fundierten Naturverklärung zu seinen völlig subjektiven Thesen kam, die er selbst nie irgendwie empirisch prüfte und die auch in späteren Zeiten rigoroser empirischer Prüfung nicht standhielten. Es gibt trotz Bachs Desinteresse an wissenschaftlichen Belegen einiges an Studien (anders als bei den Schüßler-Salzen), sogar einige systematische Reviews der Studienlage. Erwartungsgemäß kommt keine dieser Arbeiten auch nur in die Nähe eines Belegs für eine medizinisch relevante Wirksamkeit.

Es verwundert auch nicht, dass Bachs mystisch-esoterisch zu verortende „Blütentherapie“ nach seinem Tode erst einmal schnell in Vergessenheit geriet und irgendwann (als sich ein Geschäftsmodell in der „New-Age-Ära“ der 1970er Jahre abzeichnete) recht plötzlich wieder das Tageslicht erblickte. Dass Bach-Blüten rechtlich Lebensmittel sind (und um ein Haar als alkoholische Getränke eingestuft worden wären) wissen die wenigsten Konsumenten. Damit ist die Werbung mit allzu konkreten gesundheitsbezogenen Aussagen sehr beschränkt, es ist nicht mehr möglich als das, was die Health-Claim-Verordnung der EU zulässt (z.B. allgemeine Aussagen zur Stärkung des Immunsystems, was ich auch schon für problematisch halte – und was arzneimittelrechtlich in Bezug auf Homöopathie schon untersagt wurde). Andererseits wirkt dann natürlich wieder der Verkauf in Apotheken vertrauensbildend. Über Inhalt und Qualität der Beratung dort wollen wir nicht spekulieren.

Übrigens wurde für das populärste aller Bach-Mittel, die sogenannten Rescue-Tropfen (Kombination aus fünf Einzelmitteln, die sozusagen als Expressmedikament für und gegen fast alles wirken sollen) vor nicht langer Zeit durch den Europäischen Gerichtshof diese Bezeichnung untersagt. In dem Wort „Rescue“ sahen die Richter eine gesundheitsbezogene Aussage, die die Schwelle der Health-Claim-Verordnung überschreite. Woraufhin Nelsons aus der Not eine Tugend machte, eine Werbekampagne startete und den neuen Begriff „Rescura“ massiv bewarb. So geht das!

Jetzt ist es aber genug …

Jetzt wisst ihr so ungefähr Bescheid, Bach und Schüßler sind im Grunde schöne Beispiele für die Zeitgebundenheit früherer medizinischer Ideen. Wir wollen uns allerdings nicht davon freisprechen, dass möglicherweise das, was wir heute für das Nonplusultra wissenschaftlicher Erkenntnismethoden halten, in den Augen späterer Generationen auch irgendwann mal „zeitgebunden“ erscheinen mag. Ein Kernpunkt heutiger wissenschaftlicher Methodik ist aber, die hemmungslose Subjektivität (man könnte auch sagen: Fantasie), wie sie sowohl bei Schüßler als auch bei Bach zum Ausdruck kommt, systematisch aus der empirischen Untersuchung (natur)wissenschaftlicher Fragen auszuscheiden. Das ist eine große Errungenschaft, die jedes „mir hat es aber geholfen“ obsolet macht – und wesentliche Grundlage moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis insgesamt. (Edit 13.11.2022: präzisiert nach Hinweis im Kommentar von Joseph Kuhn).

Geschichten rund um diese Mineral- und Blüten-Absurditäten gibt es noch weit mehr, zum Beispiel zur Bedeutung beider in der sogenannten alternativen Tiermedizin, aber es ist hier eh zu lang geworden. Merken wir uns einfach: Schüßler-Salze und Bach-Blüten sind ohne Homöopathie in der Vita ihrer Erfinder zwar nicht denkbar, unterscheiden sich aber ungeachtet ihrer unterschiedlichen rechtlichen Einordnung beide gravierend von dieser – und untereinander. Gemeinsam ist allen drei „Therapiemodellen“ die nie nachgewiesene medizinische Wirksamkeit.



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Trust it, this is science!

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Peter Teuschel erinnerte vor einiger Zeit daran, wozu sich die AutorInnen des „Erdblogs“ damals (2017)zusammengefunden hatten: um dem erwartbaren Gegenwind für Ratio und Wissenschaft, den ein „unexpected POTUS“ namens Trump jenseits des Atlantiks mit einiger Sicherheit mit sich bringen würde, halb präventiv, halb kurativ etwas entgegenzusetzen. Auf unseren vergleichsweise begrenzten, aber für die Menschen sehr relevanten Gebieten der Medizin und der Psychologie.

Der genannte POTUS ist nun schon eine ganze Weile überstanden. Ist es deshalb an der Zeit, durchzuatmen, den Staub von den Kleidern zu klopfen und mit einem „wir sind noch einmal davongekommen“ zur Tagesordnung überzugehen? (Das wurde geschrieben, als man sich eine Wiederkehr von Trump auf den Thron kaum bis nicht vorstellen konnte.)

Ersichtlich nicht. Eher sind viele Tendenzen, von denen das Zerrbild eines Präsidenten namens Trump nur ein Teil war, zu einer neuen Qualität von Irrationalität und Faktenleugnung, zu einer post-postfaktischen Situation emergiert. Neue Qualitäten der Irrationalität, der Negation von Fakten, der Vergötzung der eigenen Meinung als sehr bewusst zur Schau getragener „Gegenpol“ zum Reich der Fakten sind entstanden und fast alle haben eine gesellschaftlich-politische Dimension bekommen.

Die Pandemie—Situation hat deutlich werden lassen, wie recht Popper mit seiner Diagnose hatte, der Mensch sei noch längst nicht aus der geschlossenen, der kollektivistischen Gesellschaft in die offene, individuelle übergetreten, die ihn sowohl mit Freiheit wie mit Verantwortung konfrontiert, ja, ihm diese abverlangt. Verschwörungstheorien werden zu Ersatzreligionen, haben eine Sinnlücke zu füllen, mit der viele Individuen überfordert sind. Fakten und Ratio mit ihren oft unausweichlichen Implikationen bleiben bei einem vermeintlichen Kampf gegen angebliche übermächtige globale Kräfte auf der Strecke und werden nur als aufoktroyierte Zwänge gesehen. Die Aufklärung gerät unter die Räder. Antiaufklärerische Tendenzen beginnen, sich in der Politik zu etablieren, flankiert von einer gewissen Hilflosigkeit, die auch in Kommunikationsproblemen ihren Ausdruck fand.

Wie ein Brennglas hat die Pandemie gezeigt, welche grotesken Zerrbilder fanatische Irrationalität erzeugen kann. Proponenten der Impfgegnerschaft sind auf der Bildfläche erschienen, die sich nicht einmal mehr die Mühe scheinwissenschaftlicher Tarnung ihrer Argumentationen machen, bei denen man sich ernstlich nach den Mechanismen fragt, die solche Karikaturen der Fakten hervorbringen, wie sie dann von einem buchstäblich gläubigen Publikum tatsächlich breit rezipiert und weitergetragen werden. Andere traten mit der Autorität von akademischen Titeln auf den Plan und forderten – gleich, ob damit nun Expertise verbunden war oder nicht, damit Glaubwürdigkeit ein. Viele Menschen meinten, Pseudo-Gurus ihrer unverbrüchlichen Gefolgschaft versichern zu müssen, was teils groteske Formen annahm. Vertrauen, in einer wissensbasierten Gesellschaft unverzichtbar, wird nicht mehr den wirklichen Experten, sondern den Opponenten derselben entgegengebracht. Aufklärung geriet an Grenzen, wiewohl sie dadurch nicht in Frage gestellt wird. Nicht einmal die normative Kraft des Faktischen konnte eine Vielzahl Irregeleiteter überzeugen. Keine tausenden von Toten auf den Straßen, keine genmanipulierten Zombies in den U-Bahnen der Republik, keine offensichtliche Gedankenkontrollen durch verimpfte Chips von Gates, Soros und Co. – und gleichwohl …

Die post-postfaktischen Gruppen werden kleiner, aber auch lauter und radikaler, sie wenden sich längst beliebigen Themen zu und scheren sich gar nicht mehr um die verbrannte Erde, die sie woanders hinterlassen haben. Und zu diesem weiten Feld der verbrannten Erde gehören auch die Themenbereiche, deren wir uns in der Hoffnung auf künftig bessere Zeiten vor gut fünf Jahren angenommen hatten: die der Medizin und der Psychologie.

Scheinbar dagegen stehen Untersuchungen, die von einem unter der Pandemie gewachsenen Vertrauen in die Wissenschaft berichten – und der Ansicht vieler, dass die Politik sich stärker nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten auszurichten habe. Ich gestehe, dass meine (völlig unmaßgebliche) „persönliche Erfahrung“ konträr zu diesen Ergebnissen steht, aber ich bin nicht verblendet genug, um nicht zu wissen, dass dies auch der Innensicht meiner kritisch-skeptischen „Blase“ geschuldet sein mag.


Aber nehmen wir einmal diese vergleichsweise große Zustimmung zur „Wissenschaft“. Im September 2019, also vor Ausbruch der Pandemie, gaben 46 Prozent der Befragten an, sie hätten Vertrauen in die Wissenschaft. Kurz nach Beginn der Pandemie, im April 2020, zeigte das Barometer einen Wert von 73 Prozent. Der sank zwar bis November 2020 auf 61 Prozent ab, was aber immer noch mehr war als die Zustimmungsrate vor der Pandemie.

Gut und schön. Reine Zahlen allerdings, die vielleicht einer vorsichtigen Hinterfragung bedürfen. Denn was heißt schon „Zustimmung zur Wissenschaft“? Ist das wirklich durchweg mehr als ein Lippenbekenntnis? Sind die Menschen, die sich so äußern, überhaupt bereit und in der Lage, dies auch auf konkrete Fragen des eigenen Lebens, auf die Alltagserfahrung, in unserem Interessenbereich auf die Gesundheitskompetenz konkret anzuwenden? Was verstehen die Menschen überhaupt unter „der Wissenschaft“? Ich habe da schon so meine Zweifel aus etlichen Jahren mit vielen Diskussionen rund um dieses Thema.

Es gibt eine interessante Studie, die sich in erster Linie mit dem „Vertrauen“ befasst und die man bei der Bewertung dieser doch deutlich positiven Zustimmungswerte „pro Wissenschaft“ mit betrachten sollte. Die eben erwähnte Fragestellung, was die Menschen überhaupt unter „Wissenschaft“ verstehen, spielt hier stark hinein. Die Autoren kommen nämlich zu dem Ergebnis, dass „blindes“ Vertrauen in „die Wissenschaft“, ein unsicherer Boden sein kann. Sie zeigen auf, dass Vertrauen ohne eine gewisse Urteilsfähigkeit bzw. Kompetenz in der Sache wenig wert ist.

„Wer nichts weiß, muss alles glauben“, wussten schon die Science Busters. Und ja, „nur“ Vertrauen, das kann dazu führen, dass auch „offensichtlicher Quatsch“ als „Wissenschaft“ geglaubt und dieser Glaube sich selbst gegenüber mit „Vertrauen“ gerechtfertigt wird. Die Pandemie hat uns das vor Augen geführt – wie viele Leute setzen die Äußerungen von Leuten wie Wodarg, Bhakdi, Schiffmann mit „Wissenschaft“ gleich? Viele, sage ich mal. Dass Leute mit dem Ruf des Wissenschaftlers sich derart in den Wald der unbewiesenen Behauptungen verirren können, ist kein grundsätzlich neues Phänomen, aber eines, das in der Pandemie das Narrativ des „Vertrauens in die Wissenschaft“ schon einigermaßen verbiegt.

Die genannte Studie näherte sich dem Problem, indem die Forscher in vier getrennten Tests die Rezeption pseudowissenschaftlicher Botschaften (ein neues Virus sei als Biowaffe geschaffen worden, Verschwörungserzählungen zu Covid-19 und die angeblich nachgewiesene krebserregende Wirkung von genetisch veränderten Organismen) bei Personengruppen evaluierten, die grundsätzlich positiv, aber unterschiedlich differenziert zu Wissenschaft eingestellt waren.

Teilnehmer, bei denen ein eher allgemeines Vertrauen (!) in die Wissenschaft festgestellt wurde, akzeptierten falsche Behauptungen umso eher, wenn diese wissenschaftliche Referenzen enthielten und sich einer wissenschaftlichen Terminologie bedienten (die sogenannte Wissenschaftsmimikry). Wir sehen das Glatteis, auf das man sich mit dem Abfragen einer reinen „Zustimmung zur Wissenschaft“ begibt.

Zweitens macht es einen Unterschied, ob die kritische Haltung der Probanden sich recht konkret im Wissen um die Bedeutung einer kritischen Bewertung von Aussagen manifestierte – dies verringerte den „Glauben“ an falsche Behauptungen – oder eher in einem allgemeinen Vertrauen (!) in die Wissenschaft – dies führte interessanterweise keineswegs zu einer verminderten Akzeptanz von pseudowissenschaftlichen Behauptungen. Was eine Bestätigung des ersten, eher allgemeinen Ergebnisses darstellt.

In Summa konstatierten die Autoren, dass „Vertrauen in die Wissenschaft“ allein die Menschen geradezu anfällig für pseudowissenschaftliche Behauptungen machen kann. Es scheint bereits eine wissenschaftliche Terminologie oder eine lange Referenzliste auszureichen, um Menschen, die sich selbst für Anhänger der Wissenschaft halten, unkritisch werden zu lassen.


Eine der Mitautorinnen stellte in einem Interview zur Studie fest:

„Die Lösung für die Leugnung des Klimawandels, für irrationale Ängste vor Genfood oder für das Zögern beim Impfen ist nicht, Vertrauen in die Wissenschaft zu predigen. (Was auf einen reinen Appell im Sinne von „Trust me, I’m a scientist“ hinauslaufen würde.) Das Vertrauen in die Wissenschaft spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die wissenschaftliche Bildung zu verbessern und vertrauenswürdige von nicht vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden. Vertrauen in die Wissenschaft behebt jedoch nicht alle Übel und kann zu Anfälligkeit für Pseudowissenschaft führen, wenn Vertrauen bedeutet, nicht kritisch zu sein.“

Und hier kommen nehmen mir die Autoren sozusagen die Worte aus dem Mund: sie sehen eine nachhaltigere Lösung zur Eindämmung von Fehlinformationen darin, so früh wie möglich wissenschaftliche Grundkompetenz („methodologische Kompetenz“) zu vermitteln. Also bereits in der Schule, und m.E. nicht erst in der gymnasialen Oberstufe: Was ist Wissenschaft? Was ist Wissenschaft nicht? Was für einen Anspruch stellt sie selbst an sich – und welchen nicht? Und später: was ist die wissenschaftliche Methodik und auf welchen Prämissen beruht sie? Was ist ihre Bedeutung für unser Leben? Was sind die Kriterien, an denen man aussagefähige wissenschaftliche Erkenntnisse identifiziert?

Bildung ist die Währung und das Menschheitskapital der Zukunft und vor allem das Lebenselixier demokratischer Strukturen auf humanistischem Boden. Es ist jämmerlich, welchen Stellenwert dieser einzigartige und herausragende Gesichtspunkt in der angeblichen „Bildungsrepublik Deutschland“ (Angela Merkel) einnimmt, ideell wie materiell. Musste auch mal gesagt werden.

Wir halten fest: Die Sache mit dem Vertrauen (der „Zustimmung“) ist ein wahrlich schlüpfriger Boden, solange sie nicht von kritisch-skeptischen Grundkompetenzen flankiert wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich mein – wie gesagt, unmaßgebliches – Bauchgefühl vielleicht noch einigermaßen mit dem Befund, immerhin die Mehrheit äußere „Zustimmung zur Wissenschaft“, in einen gewissen Einklang bringen.


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