Wie wissenschaftliche Zombies in den Bibliothekskatalog wandern
Neulich erreichte mich über die GWUP eine Anfrage, die – wäre man nicht so abgehärtet – für ungläubiges Kopfschütteln gesorgt hätte. Ein Leser war im Wissensportal „Primo“ der TU Berlin auf einen peer-reviewed article gestoßen, der Akupunkturmeridiane als „Interferenzmuster des kohärent ausgesendeten Zellichts“ – also der sogenannten Biophotonen – erklärte. „Wie kann so etwas peer-reviewed sein?“, wollte er wissen.
Klar ist gleich auf den ersten Blick: Akupunkturmeridiane sind medizinische Fiktion, Biophotonen in der Form, wie ihre Protagonisten sie darstellen, ebenso. Ein „wissenschaftlicher“ Ansatz, der das eine mit irgendwelchen Auswirkungen des anderen zu erklären sucht, ist daher per se obsolet – ex falso quodlibet, aus Falschem folgt Beliebiges, wie der Formallogiker weiß. Der zweite Blick führt mitten hinein in ein Grundproblem der heutigen Publikationspraxis – und in den Plot eines wissenschaftlichen Zombies.
Der Artikel stammt aus dem Jahr 2013, erschienen im Journal Frontiers in Optoelectronics, verfasst von einer chinesischen Autorengruppe an einer chinesischen Universität. Obwohl die Prämissen nicht haltbar sind und die Folgerungen aus der Kombination beider zwangsläufig falsch, trägt der Artikel das Siegel „peer-reviewed“.
Wie kann das passieren? Es gibt zwei Erklärungen. Die freundlichere lautet: Gutgläubige Reviewer und Editorial Boards nehmen exotische Grundannahmen der Autoren als gesetzt hin (Fail der unterschobenen Prämisse), prüfen dann nur auf innere Konsistenz der Schlussfolgerungen oder gar nur auf formale Kriterien, nicht auf die Validität des Fundaments. Die weniger freundliche: Manche Journals – zumal aus dem weiten „Open Access“-Kosmos – haben geringere methodische Hürden, wenn das Thema ins eigene Profil passt oder aus bestimmten akademischen Netzwerken kommt. Peer-Review ist nicht unfehlbar, und formale Kriterien lassen sich auch mit inhaltlich schwachen Thesen erfüllen.
Das Problem liegt aber nicht bloß beim Erscheinen – sondern vielleicht noch mehr beim Fortleben. Einmal publiziert, bleibt ein solcher Text im wissenschaftlichen Ökosystem: in Zitationsketten, in Suchmaschinen, in Bibliothekskatalogen. Er wird nicht „entsorgt“, auch wenn er längst widerlegt oder inhaltlich wertlos ist. Selbst renommierte Institutionen wie die TU Berlin können nicht verhindern, dass fragwürdige Inhalte in ihren Beständen landen – die reine Herkunft aus einem „anerkannten“ Journal genügt für die Aufnahme. Q.e.d.
Und selbst wenn ein Artikel zurückgezogen wird, ist sein Zombiedasein nicht beendet. Retraction Watch dokumentiert seit Jahren Fälle, in denen längst revidierte oder zurückgezogene Arbeiten weiter zitiert werden, als sei nichts geschehen – und so das Erkenntnismaterial ganzer Fachgebiete kontaminieren. Eine technische Lösung dafür gibt es bislang nicht. Umso größer ist die Verantwortung der Journale, von vornherein keine unhaltbaren Publikationen durch das Peer-Review zu lassen. Ein frommer Wunsch – aber einer, ohne den das Problem nicht kleiner wird.
Hier entsteht der „Zombie“-Effekt: Solche Arbeiten sterben nicht. Sie wandern still und leise weiter, und für Laien – oder auch für Studierende – kann die bloße Präsenz in einer Universitätsdatenbank wie ein Gütesiegel wirken. Wer ohnehin geneigt ist, an Meridiane oder Biophotonen zu glauben, findet hier eine scheinbar wissenschaftliche, gar zitierfähige Bestätigung.
Genau das macht diese Altlasten gefährlich. Es geht nicht nur um aktuelle Fake News oder frische Pseudostudien. Wissenschaftskommunikation muss auch den Bestand kritisch im Blick behalten – gerade die Veröffentlichungen, die schon lange im Umlauf sind und sich unbemerkt festgesetzt haben. Denn wie bei Zombies gilt: Sie sind schwer totzukriegen. Aber ignorieren darf man sie nicht.
Vor wenigen Tagen fand ich in meinem Blogpostfach eine bemerkenswerte E-Mail. Der Absender: ein offenbar engagierter Mensch aus dem Ausland, der sich selbst als Mittler einer kleinen, vielversprechenden therapeutischen Entdeckung versteht, offenbar im Agentursinne auf der Suche nach einem Geschäftsmodell. Die Botschaft war klar: Ein niedersächsischer Arzt behandle Long Covid und Post-Vac erfolgreich – mit einem „altbekannten, sicheren Peptid“ an nicht mal einer Handvoll Patienten. Ganz ohne Studien, aber angeblich mit verblüffenden Erfolgen. Und mit großem Unverständnis dafür, dass sich niemand dafür interessiere: keine Universitätsklinik, keine Krankenkasse, keine Fachgesellschaft. Stattdessen angeblich Misstrauen, Trägheit, Ignoranz.
Was folgte, war eine Tirade gegen die „Paranoia“ der Patienten, die Inkompetenz der Forschungsstiftungen und die Mutlosigkeit der Ärzteschaft. Und natürlich: gegen die großen Pharmakonzerne, die angeblich verhindern, dass kleine Entdeckungen groß werden. Alles, was fehlte, war das Stichwort „Big Pharma“. (Es fiel aber quasi implizit.)
Das Ganze kulminierte in der Frage, ob ich nicht helfen könne, „drei oder vier weitere Patienten“ für die Behandlung zu gewinnen. Am besten in der Region Göttingen oder Paderborn. Oder notfalls auch anderswo.
Was soll man darauf antworten?
Vielleicht dies: Dass individuelle Heilversuche zwar unter der Voraussetzung lückenloser und dokumentierter Patientenaufklärung durch die ärztliche Therapiefreiheit gedeckt sind – aber noch lange keinen Erkenntnisgewinn darstellen. Dass niemandem geholfen ist, wenn anekdotische Beobachtungen als Beleg für Wirksamkeit verkauft werden. Dass selbst das beste Peptid keine komplexe Multisystemerkrankung wie ME/CFS oder Long Covid „lösen“ kann – jedenfalls nicht ohne eine klare Pathophysiologie, nachvollziehbare Mechanismen und systematisch gewonnene Daten.
Und vor allem gäbe es durchaus Wege, solche Beobachtungen ernsthaft zu prüfen. Es gibt Fachzeitschriften für Fallberichte (Case Reports), es gibt Register für individuelle Heilversuche beim BfArM, es gibt ethisch tragfähige Vorgehensweisen. Wer das alles umgeht – und sich stattdessen beklagt, dass die Welt nicht auf ihn hört –, der darf sich nicht wundern, wenn seine Entdeckung im Schatten bleibt, allenfalls irgendwann dubiosen Geschäftsmodellen in die Hände fällt und vom „dritten Gesundheitsmarkt“ aufgesogen wird, der sich auf Werbeseiten von unterklassigen Periodika abspielt . Es ist nicht die Schuld der Medizin, wenn jemand sich dem wissenschaftlichen Diskurs verweigert.
Fazit: Die Legende vom verkannten Heilsbringer lebt weiter.
Was bleibt, ist die immer gleiche Geschichte: Ein Einzelner mit einer Idee. Eine Welt, die nicht zuhört. Und eine implizite Verschwörung der „offiziellen Stellen“. Das alles klingt heroisch – ist aber meist das Gegenteil von verantwortungsvoll. Denn wer glaubt, allein die Wahrheit gepachtet zu haben, verkennt, wie wichtig belastbare Belege, reproduzierbare Ergebnisse und kollektive Überprüfung für den medizinischen Fortschritt sind.
Der Mailschreiber insistierte noch mehrfach auf seinem Standpunkt. Dabei artikulierte er immer mehr sein Unverständnis, es handele sich doch um einen approbierten Arzt und man habe sich doch mit den Versuchen beim BfArM registrieren lassen!!! Nun, weder das eine noch das andere führt zu Erkenntnisgewinnen im wissenschaftlichen Sinne. Leider war der gute Mann zum Schluss, trotz (oder wegen?) meiner Erklärungsversuche – beleidigt …
Zum Weiterlesen auf diesem Blog – hätte der Anfrager diesen Beitrag gelesen, hätte er vielleicht gemerkt, dass er ausgerechnet bei mir mit seinem Anliegen an der falschen Adresse war:
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat eine Stellungnahme zu ME/CFS veröffentlicht, die sich dem Titel nach als sachliche Information über den Forschungsstand ausgibt. Doch wer den Text mit aufmerksamem Blick liest – insbesondere vor dem Hintergrund der seit Jahren bestehenden systematischen Fehlwahrnehmungen in Teilen der neurologischen Fachwelt –, erkennt schnell: Hier wird nicht informiert, sondern verteidigt. Nämlich eine Position, die den ME/CFS-Betroffenen schon viel Unbill und Leid gebracht hat: dass es sich bei der Krankheit jedenfalls ganz überwiegend, wenn nicht ganz um eine psychosomatische Störung handelt.
Es ist ein wenig atemberaubend, wenn genau dies mit einem „Überblick über den Forschungsstand“ begründet werden soll. Denn im Grunde zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, dass die psychosomatische Deutung von ME/CFS immer obsoleter wird.
Was als Forschungsüberblick daherkommt, ist in Wahrheit ein rhetorischer Schutzschild. Ein Text, der durch seine Wortwahl, Struktur und selektive Darstellung signalisiert: „Wir halten an unserem Deutungsrahmen fest.“ Der Verweis auf die fehlenden Biomarker – eine immer brüchiger werdende Argumentationsfigur – und die Betonung der unspezifischen Symptomvielfalt dienen nicht der Differenzierung, sondern der Relativierung. Es ist ein bekanntes Muster: Wenn etwas komplex ist, kann es ja nur psychogen sein. Was nicht berichtet wird: Inzwischen 116 Blutmarker (Stand Juni 2025) zeigen klare Unterschiede zwischen Gesunden und Erkrankten (interessanterweise gleichermaßen bei Männern und Frauen, ungeachtet der geschlechterunterschiedlichen Inzidenz von ME/CFS), Darunter finden sich Indikatoren für chronische Entzündung und Stoffwechselstörungen, sie sprechen eine deutliche Sprache – ME/CFS ist somatisch zu erfassen, nicht psychisch (siehe Quellenabschnitt).
Diese Haltung der DGN ist nicht neu – sie wiederholt vielmehr einen historischen Fehler. Auch bei Parkinson wich die psychosomatische Lesart erst, als die Neurologie sich dem Druck harter Befunde nicht länger entziehen konnte. Und wo beispielsweise sind die Biomarker für Migräne?
Heute zeigt sich: Viele pathophysiologische Parallelen zwischen ME/CFS und Parkinson sind unübersehbar – etwa bei der zellulären Energieverwertung, mitochondrialer Dysfunktion oder neuroinflammatorischen Prozessen. Doch statt die eigenen Irrtümer zu reflektieren, ist das DGN-Statement völlig unbelastet von jeder kritischen Rückschau auf die eigene Historie.
So fordert der Text eine interdisziplinäre Zusammenarbeit „von Neurologie, Rheumatologie, Kardiologie und Psychosomatik“ – als stünden alle Disziplinen gleichwertig nebeneinander. Dabei ist es gerade die Psychosomatik, die bislang keinerlei empirisch tragfähige Erklärungs- oder Behandlungsmodelle für ME/CFS vorzuweisen hat. Dass sie trotzdem selbstverständlich auf Augenhöhe benannt wird, ist bezeichnend – und verräterisch. Hier geht es nicht um Erkenntnisfortschritt, sondern um disziplinäre Besitzstandswahrung.
Erschreckend auch: Die DGN würdigt das Selbsterleben der Betroffenen nicht einmal im Ansatz. Dabei ist gerade bei ME/CFS zentral, dass ME/CFS-Patient:innen sehr wohl dauerhaft über intakte psychische Antriebe verfügen – aber von ihrem eigenen Körper buchstäblich ausgebremst werden. „Mein größter Wunsch ist, in mein aktives Leben zurückzukehren“ ist dabei ein von Betroffenen oft gehörter Satz. Diese Diskrepanz zwischen Willen und Können ist das eigentliche Kerntrauma der Erkrankung. Das ist aber das genaue Gegenteil einer psychischen Störung, die mit Fehlverhalten, Vermeidung, Rückzug assoziiert ist. Wer das ignoriert, ignoriert die Lebensrealität von hunderttausenden Erkrankten – und fördert indirekt die fortgesetzte Psychologisierung eines körperlich bedingten Leidens.
Besonders irritierend ist der fast beiläufige Verweis auf erhöhte Suizidrisiken. Hier bleibt offen, wie dieser Befund gelesen werden soll: Ist das ein Ruf nach Hilfe – oder lediglich ein weiterer Versuch, psychische Ursachen zu insinuieren? Die Frage drängt sich auf, ob es nicht gerade die therapeutisch ausweglose Abwertung durch das Gesundheitssystem und die materielle durch das Sozialsystem sind, die Verzweiflung erzeugen – und nicht etwa eine psychische Grunderkrankung. Wer in dieser Situation eine rein psychosomatische Deutung nahelegt, ohne den institutionellen Anteil am Leid zu reflektieren, bewegt sich gefährlich nah an ethischer Fahrlässigkeit.
Im Hintergrund steht vielleicht ein strukturelles Problem: die zu enge, therapeutisch unreflektierte Verklammerung von Neurologie und Psychologie in vielen Versorgungsrealitäten. Denn dort, wo Diagnosen nicht eindeutig sind, wird häufig nicht geforscht, sondern „umgedeutet“. Die Grenzen zwischen Beobachtung und Erklärung verschwimmen – zulasten der Betroffenen.
Die Wahrheit ist: Ausgerechnet jene Fachrichtungen, die ME/CFS hartnäckig psychologisieren, haben bislang keine tragfähigen Therapieansätze vorzuweisen. Weder Kognitive Verhaltenstherapie noch Graded Exercise Therapy haben die versprochene Wirkung gezeigt – im Gegenteil (in neueren Leitlinien, z. B. NICE 2021, wird GET für ME/CFS nicht mehr empfohlen, da die Evidenzlage unzureichend und die Intervention potenziell schädlich ist. siehe Quellenabschnitt). Die internationale Kritik an diesen Konzepten wächst, nicht zuletzt auf Basis massiver methodischer Mängel in den zugrundeliegenden Studien. Gleichzeitig mehren sich Hinweise auf immunologische, metabolische und zelluläre Auffälligkeiten – Hinweise, die eine rein psychosomatische Einordnung immer weniger plausibel erscheinen lassen.
Doch bei der DGN scheint man nicht willens, aus dem eigenen Schatten zu treten. Statt selbstkritisch innezuhalten und anzuerkennen, dass man einer ganzen Patientengruppe über Jahre hinweg Unrecht getan haben könnte, verfestigt man durch wohlgesetzte Formulierungen und suggestive Schwerpunktsetzung eine Haltung, die längst überholt sein sollte. Der Ton bleibt kühl, Ansätze zur Differenzierung reines Alibi, der Text bleibt hermetisch – und der Mensch dahinter verschwindet.
Es ist Zeit, diese Sprachspiele als das zu benennen, was sie sind: Mechanismen der Immunisierung. Wer sich auf fehlende Biomarker beruft, ohne die existierenden Hinweise auch nur zu würdigen, wer Komplexität als Beleg für Psychogenese verkauft und dabei reale somatische Hinweise systematisch ausblendet, handelt nicht im Sinne der Patienten – sondern im Sinne der eigenen Deutungshoheit.
Was es jetzt bräuchte, wäre ein echtes Umdenken: eine Hinwendung zur gelebten Realität der Betroffenen, eine Öffnung für neue Forschungsansätze – und ein klarer Bruch mit der Tradition vorschneller Pathologisierung. ME/CFS ist keine Einbildung. Es ist eine schwerwiegende, körperlich reale Erkrankung – und sie verdient mehr als ein Statement, das wie eine Ehrenrettung eigener Irrtümer klingt.
Ich bin kein Mediziner, sondern medizinischer Laie – gut, vielleicht am oberen Ende des Spektrums, nachdem ich über Jahre hinweg kritisch, sorgfältig und mit einem tiefen Respekt für medizinische Wissenschaft und Ethik für Aufklärung und Patientenschutz gearbeitet habe. Seit über einem Jahrzehnt befasse ich mich intensiv mit Fragen der Evidenz, mit den Grenzen ärztlicher Deutungshoheit, mit der Verantwortung von Wissenschaft im Umgang mit vulnerablen Patientengruppen. Mein besonderes Interesse an ME/CFS ist durch persönliche Erfahrungen im engeren Umfeld motiviert – durch Menschen, deren Leben durch diese Krankheit dramatisch eingeschränkt wurde, durch die Art, wie sie mit teils unglaublicher mentaler Stärke damit umgehen und durch das, was das Gesundheitssystem ihnen seither nicht zu geben vermag.
Ich habe die Entwicklung von ME/CFS in der wissenschaftlichen Literatur und in der Betroffenenrealität über Jahre hinweg verfolgt – von den frühen Versuchen, das Leiden zu bagatellisieren, bis zu den wegweisenden Studien der letzten Jahre, die die körperlichen Ursachen immer klarer herausarbeiten. Wenn ich mir als Nichtmediziner erlaube, eine so deutliche Replik auf ein offizielles DGN-Statement zu schreiben, dann nicht aus Anmaßung. Sondern aus der Hoffnung heraus, dass auch verantwortungsvolle Stimmen innerhalb der Neurologie selbst erkennen, wie viel Schaden ein solcher Text anrichtet – und dass sie Einfluss nehmen, bevor sich die Geschichte ein weiteres Mal wiederholt.
Denn was die DGN hier veröffentlicht hat, ist keine nüchterne Information, sondern ein Manifest struktureller Voreingenommenheit. Es spricht nicht mit, sondern über die Betroffenen. Und es blendet genau jene Entwicklungen aus, die einem aufgeschlossenen Fachverband Anlass zur Selbstkorrektur geben sollten. Der Schaden, den solche Sprachregelungen anrichten, ist nicht theoretisch – er betrifft reale Menschen, reale Biografien, reale medizinische Versorgung. Und genau deshalb sollten wir alle, auch als Laien, nicht schweigen.
Institutsbericht Uni Edinburgh „Scale of how ME/CFS affects blood revealed“ – Offizieller News-Beitrag der Universität, liefert alle Kerndaten (1.455 Betroffene vs. 131.000 Kontrollen, 3.000+ Blutmarker, 116 signifikante Unterschiede, unabhängig von Aktivität) thealexmanfullfund.org+10Institute of Genetics and Cancer+10ed.ac.uk+10
Die Falle der anekdotischen Evidenz: Warum „Mir hat es geholfen“ kein Beweis ist
Es gibt zwei Standardreaktionen, die Kritiker wissenschaftlich unhaltbarer Methoden wie Homöopathie oder anderer Formen der Pseudomedizin regelmäßig zu hören bekommen. Die eine ist das altbekannte
„Wer heilt, hat Recht“,
die andere:
„Mir hat es aber geholfen“.
Letzteres ist das Paradebeispiel für anekdotische Evidenz – eine subjektive Erfahrung, die als Beweis für die Wirksamkeit einer Behandlung herangezogen wird. Doch warum ist diese Art der Argumentation fehlerhaft? Warum klingen Anekdoten zwar überzeugend, haben aber in der wissenschaftlichen Methodik keinen Platz?
Korrelation ist nicht Kausalität
Nur weil sich nach einer Behandlung eine Verbesserung einstellt, bedeutet das nicht, dass die Behandlung die Ursache dafür war. Der Mensch neigt infolge evolutionärer Anlagen (die schon vielfach erklärt wurden) dazu, Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind. Dies ist bei nicht trivialen Sachverhalten ein fundamentaler kognitiver Fehlschluss. In vielen (den meisten?) Fällen bessern sich Beschwerden einfach von selbst (Spontanremission), oder andere Faktoren wie Lebensstilveränderungen oder der natürliche Krankheitsverlauf spielen eine Rolle.
Der Placebo-Effekt
Ein weiterer Faktor, der anekdotische Evidenz entwertet, ist der Placebo-Effekt. Dieser ist gut dokumentiert und kann dazu führen, dass Menschen subjektiv eine Verbesserung ihrer Symptome wahrnehmen, selbst wenn die verabreichte Behandlung keinerlei spezifische Wirkung besitzt. Besonders stark wirkt dieser Effekt in Bereichen wie Schmerzempfinden oder allgemeinem Wohlbefinden, wo Suggestion eine große Rolle spielt.
Der Selektionsbias
Anekdotische Evidenz ist extrem selektiv. Niemand hört von denjenigen, bei denen die gleiche Methode nicht funktioniert hat, weil Menschen, die keinen Effekt erfahren haben, schlicht nicht berichten. Viele, bei denen die Therapie nicht gewirkt hat, können auch gar nicht mehr berichten. Dann gibt es noch die Menschen, die die entsprechende Methode nicht angewandt haben und auch wieder gesund wurden. Und natürlich auch die, die ebenfalls auf die Methode verzichtet haben und nicht wieder gesund geworden sind.
Methode angewandt – erfolgreich
Methode angewandt – nicht erfolgreich
Methode nicht angewandt – erfolgreich
Methode nicht angewandt – nicht erfolgreich
Das ergibt eine Matrix mit vier Möglichkeiten. Wenn aber nun ständig über Heilerfolge einer Methode berichtet wird, dann heißt das, dass diese Fälle sich nur im Feld oben links in der Matrix sammeln. Es fehlt jede Aussage, wie viele Fälle auf die anderen Möglichkeiten entfallen. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung: Es entsteht der Eindruck, eine Therapie wäre besonders wirksam, weil nur positive Erfahrungsberichte kursieren. Dabei ist es ohne Weiteres möglich, dass die Zahl der Anwender, die nicht von der Methode profitiert haben, ein Vielfaches der Zahl der Erfolgreichen beträgt. Anekdotische Evidenz bedeutet also unter anderem das Risiko, dass wir hochgradig unvollständigen Informationen aufsitzen.
Reproduzierbarkeit als wissenschaftliches Kriterium
Wissenschaft funktioniert nicht auf der Basis einzelner Berichte, sondern durch systematische Untersuchung. Eine Therapie muss in kontrollierten Studien – unter bestmöglichem Ausschluss von Zufall und Verzerrung – immer wieder die gleichen positiven Ergebnisse zeigen, bevor sie als wirksam gelten kann. Der einzelne Patient mag subjektiv empfinden, dass es egal ist, warum ihm etwas geholfen hat. Für die medizinische Wissenschaft ist das aber keine Option, ebenso wenig wie für den gewissenhaften Therapeuten. Denn nur reproduzierbare Ergebnisse ermöglichen es, verlässliche und sichere Behandlungen zu entwickeln und prognostisch Medizin zu betreiben.
Warum sich Menschen trotzdem auf Anekdoten verlassen
Die Überzeugungskraft anekdotischer Evidenz hat tiefe psychologische Ursachen. Menschen vertrauen persönlichen Erfahrungen oder denen von Bekannten mehr als abstrakten Studien. Geschichten und individuelle Berichte erzeugen eine emotionale Resonanz, während statistische Analysen oft als „kalt“ empfunden werden. Diese kognitive Verzerrung verstärkt die Neigung, Anekdoten als Beweis zu akzeptieren.
Fazit: Subjektive Wahrnehmung ist kein objektiver Beweis
Wenn es um medizinische Wirksamkeit geht, darf subjektive Erfahrung nicht über wissenschaftliche Belege gestellt werden. Es ist verständlich, dass Patienten nach Lösungen suchen und sich an das klammern, was scheinbar funktioniert. Doch das Problem beginnt, wenn aus individuellen Erfahrungen allgemeingültige Schlüsse gezogen werden und unwirksame oder gar schädliche Methoden für wissenschaftlich valide gehalten werden. Wer an der Wahrheit interessiert ist, sollte sich nicht mit dem „Mir hat es geholfen“ zufriedengeben, sondern hinterfragen, ob es dafür auch eine belastbare Erklärung gibt.
David Hume und die Kausalität
Der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) hat in seiner A Treatise of Human Nature (1739–1740) und später in seiner Enquiry Concerning Human Understanding (1748) argumentiert, dass Kausalität nichts ist, was wir direkt beobachten können. Stattdessen sei unser Kausalitätsverständnis eine psychologische Gewohnheit: Wenn zwei Ereignisse regelmäßig in einer bestimmten Reihenfolge auftreten (z. B. Einnahme eines Mittels → Besserung der Beschwerden), neigen wir dazu, daraus eine ursächliche Verbindung, eine Kausalität abzuleiten – selbst dann, wenn keine objektive Notwendigkeit dafür besteht. Dies ist der Fehlschluss von einer allein zeitlich wahrgenommenen (und wahrnehmbaren) Korrelation auf Kausalität. Wir wissen heute, dass dieser kognitionspsychologische Effekt vermutlich evolutionär in uns angelegt ist, weil er in Urzeiten Selektionsvorteile versprach. In einer komplexen Welt wie der heutigen führt er uns aber in der Mehrzahl der Fälle aufs falsche Gleis.
Post hoc ergo propter hoc: Danach, also deswegen.
Der König der Fehlschlüsse. Nur weil etwas nach etwas anderem passiert, bedeutet das nicht, dass es auch dadurch verursacht wurde. Hume hätte sich vermutlich sehr dafür interessiert, wie sich dieser Irrtum besonders in der Pseudomedizin hartnäckig hält.
Die Frage ist zudem, ob wir nach Hume überhaupt Kausalität erkennen können. Sicherlich doch durch anschauliche Evidenz – wenn jemandem ein Blumentopf auf den Kopf fällt und er blutet danach, dann ist Kausalität nicht nur wahrscheinlich. (Aber kann es nicht ein harmloser Plastikblumentopf gewesen sein und der Passant hatte vorher schon Nasenbluten … ? Wer will das aus der Perspektive der anderen Straßenseite wirklich beurteilen … ? Wir wollen es nicht auf die Spitze treiben, aber doch zeigen, wie problematisch auch die scheinbar sichere Wahrnehmung von Kausalität sein kann.)
Redlicherweise müsste man den Menschen sagen, dass placebokontrollierte prospektive klinische Studien (RCT) zwar der Goldstandard in der medizinischen Forschung sind, aber letztlich eine Kausalität im engeren Sinne auch nicht „beweisen“ können. Wirft man aber eben nicht mit Begriffen wie „Beweis“ oder „Studien zeigen …“ um sich, sondern ist sich der Tatsache bewusst, dass uns endgültiges Wissen zumeist verwehrt bleibt, gerät man beim Publikum in Misskredit, weil dieses nur das biblische „Deine Rede sei ja, ja oder nein, nein“ zu kennen scheint …
Absolute Gewissheit bleibt uns in den meisten Fällen verwehrt. Hume hat uns die radikale Skepsis gelehrt – wir sehen nur zeitliche Abfolgen von Ereignissen, aber die Notwendigkeit dieser Verbindung existiert nicht objektiv in der Welt, sondern nur in unseren Köpfen.
Nur: Das Ringen um wissenschaftliche Ehrlichkeit kollidiert oft mit der Erwartung des Publikums nach eindeutigen Antworten. „Studien zeigen…“ wird dann zu einer Art Ersatz für absolute Wahrheit, obwohl sich Wissenschaft ja gerade durch ständige Korrekturen und die Offenheit für bessere Erklärungen auszeichnet.
Der Pharmakologe Wolfgang Hopff gab in seinem Buch „Homöopathie kritisch betrachtet“ für evidente Kausalität das Beispiel eines hochwirksamen harntreibenden Mittels, das nicht nur im zeitlichen Zusammenhang mit der Einnahme, sondern auch der therapeutischen Prognose entsprechend seine Wirkung zeigt. Dies ist ein gutes Beispiel, weil es zeigt, dass wir manche Kausalitäten intuitiv für evident halten – aber wo genau ziehen wir die Grenze? Und wann wird aus berechtigter Skepsis auf der Basis kritischen Denkens ein Rückfall in radikalen Relativismus? Den Einwand „es könnte ja auch anders sein“ auf jede, buchstäblich jede Feststellung?
Das Induktionsproblem – das Ende allen sicheren Wissens?
Jeden Morgen geht die Sonne auf, darauf kann man sich verlassen. Das war in vielen Kulturen, vor allem in denen, die sich als aufgeklärt verstanden, selbstverständlich – evident eben, nicht weiter hinterfragbar. Das Induktionsproblem, dessen Erhellung wir auch Hume verdanken, sagt nun, zur Widerlegung einer solchen angeblich nicht hinterfragbaren Evidenz braucht es nur ein einziges Folgeereignis, das der bisherigen Erfahrung widerspricht. Und das können wir nicht ausschließen.
In diesem Sinne ist das Induktionsproblem gewissermaßen die Abrissbirne für jede naive (sic!) Vorstellung von sicherem Wissen.
Was die Sache mit dem Sonnenaufgang angeht, so wissen wir heute, dass es eben nicht ewig und unhinterfragbar so weitergehen wird. Ein Beispiel dafür, dass Gewissheiten (sic!) abhängig vom aktuellen Wissen sind und eine Bestätigung der Vorbehalte, die das Induktionsproblem aufwirft. Aber: Hat das Sonnenaufgangsbeispiel für uns hier und heute wirklich praktische Bedeutung? Oder ist es vernachlässigbar, ohne einen Kategorienfehler zu begehen?
Das Beispiel illustriert, dass absolute Beweise in einem streng logischen Sinn oft gar nicht nötig sind, weil der Grad der Sicherheit ausreicht, um vernünftig zu handeln. Und im Grunde ist der Anspruch der Wissenschaft ja gar nicht mehr, als die Grundlage für vernünftiges Handeln zu liefern.
Karl Poppers Antwort auf das Induktionsproblem
Das Induktionsproblem ist ungelöst und verhindert nach wie vor, dass wir eine ungetrübte und mit der Realität komplett deckungsgleiche Vorstellung von „Wahrheit“ erlangen können. Man hört in der Wissenschaftsphilosophie gelegentlich davon, es sei „gelöst“ worden – nach meiner bescheidenen Ansicht ist das nicht der Fall. Aber was tun? Wie kann sich die Wissenschaft zum Induktionsproblem stellen?
Die Wissenschaftsphilosophie von Karl Popper, die er ein seinem epochalen Werk „Logik der Forschung“ niedergelegt hat, gibt eine Antwort: Sie versucht nicht, das Induktionsproblem zu ignorieren oder zu verleugnen, sondern sie gibt dadurch eine Antwort, dass sie sich vom Ziel der Wissenschaft als Wahrheitsfindung zugunsten einer beständigen Wahrheitssuche verabschiedet und die Fehlbarkeit menschlichen Wissens zum Prinzip erhebt.
Die Limitierung, die das Induktionsproblem der „sicheren Erkenntnis“ setzt, war wohl für Karl Popper ein entscheidender Beweggrund dafür, sich von der Methode der „Verifizierung“ (Versuch der Bestätigung) von Ergebnissen abzuwenden und stattdessen auf „Falsifizierung“ (Versuch der Widerlegung) zu setzen. Dabei betont er die Vorläufigkeit allen Wissens, setzt aber auch einem Rückfall in pessimistischen Relativismus Schranken, indem er den Erkenntniswert von Forschung nach Wahrscheinlichkeit bewertet. Am besten kommt sein Prinzip der Falsifikation in diesem Zitat zum Ausdruck:
“Wann immer wir nämlich glauben, die Lösung eines Problems gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen.” (Logik der Forschung, 11. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen 2005, Seite XX).
Nun ist das keine leichte Kost, wenn auch viele Menschen durchaus eine Vorstellung von Karl Popper und seinem Werk haben. Ich glaube, selbst wenn man das einem breiten Publikum vermitteln könnte, würde man auf psychologische Barrieren stoßen. Ich denke sogar, dass es Hochschullehrer gibt, die eine solche Wissenschaftsphilosophie lehren, sich aber intrinsisch dies nicht wirklich zu eigen machen.
Popper hat die Wissenschaft nicht mehr als Ansammlung von bewiesenen Wahrheiten, sondern als System zur systematischen Widerlegung falscher Annahmen verstanden. Er forderte als Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Hypothese, dass sie potenziell widerlegbar (formuliert) sein muss, weil sie sonst gegen Falsifizierung von vornherein immun wäre. Wissenschaft produziert also nicht endgültiges Wissen, sondern entfernt beständig Irrtümer und nähert sich damit der Wahrheit an – aber das reicht vielen Menschen nicht, weil es ihrem Bedürfnis nach Gewissheit widerspricht. Der Satz
„Wir irren uns empor“,
geprägt vom Physiker und Philosophen Gerhard Vollmer, trifft es also nicht ganz, denn wir fügen ja im Erkenntnisprozess (hoffentlich) nicht neue Irrtümer hinzu, sondern beseitigen alte. Gleichwohl ist diese Sentenz sehr griffig, wenn es gilt, das Prinzip Wissenschaft zu erklären.
Wissenschaft vs. Dogma
Der Wissenschaft ist also eine Bescheidenheit inhärent insofern, als sie langsam Wissen schafft, aber nicht goldglänzende endgültige Wahrheiten präsentiert. In den Augen nicht in wissenschaftlichem Denken Geschulter – und das ist leider wohl die Mehrheit der Bevölkerung – ist dies ein Mangel, ein Malus – obwohl gerade dies der Bonus der Wissenschaft ist. Es gibt in diesem Punkt eine Art psychologische Abwehrhaltung: Wenn Wissen nur vorläufig ist, dann gibt es keine absolute Sicherheit – und das ist für viele unerträglich. Deshalb greifen manche lieber auf einfache Wahrheiten zurück, egal ob in Form dogmatischer Wissenschaftsauffassungen oder eben Pseudowissenschaften. Letztlich könnte man sagen: Die Wissenschaft ist sich ihrer eigenen Unsicherheit bewusst – die Pseudowissenschaft hat dieses Problem nicht, weil sie ihre Wahrheiten zementiert. Über falsche Dogmen aufzuklären und die Kriterien kritischen Denkens zu vermitteln, kann ein mühsames Geschäft sein.
Sokrates, ein früher Skeptiker
Sokrates‘ von Platon überlieferte Sentenz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist ja fast schon das Motto der modernen Wissenschaftsphilosophie. Allerdings – die Wissenschaft weiß viel, sehr viel inzwischen und beschreibt die Welt, in der wir leben, mit großer Genauigkeit, die sich in der beständigen Anwendung ihrer Erkenntnisse beweist. Poppers Kriterium für „Wahrheit“, nämlich die vollständige Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Realität, ist, so dürfen wir annehmen, in einem Maße erfüllt, das man sich vor 100 oder 200 Jahren nicht vorstellen konnte. Sokrates’ Einsicht war deshalb revolutionär, weil sie dem menschlichen Hang zum Dogmatismus widersprach. Und genau diese Haltung ist es, die Wissenschaft von Ideologie und Pseudowissenschaft unterscheidet: Sie gesteht ein, dass ihr Wissen immer nur vorläufig ist.
Ironischerweise macht genau das die Wissenschaft für viele Menschen weniger attraktiv als dogmatische Systeme. Der Dogmatiker hat Antworten, die Wissenschaftler haben Fragen. Der Dogmatiker bietet Sicherheit, die Wissenschaftler liefern Wahrscheinlichkeiten. Kein Wunder, dass viele lieber an einfache Wahrheiten glauben als an eine Welt voller Unsicherheiten.
Es ist schon faszinierend – und irgendwie auch frustrierend –, dass genau die Demut der Wissenschaft, die sie so mächtig macht, sie für viele Menschen weniger überzeugend erscheinen lässt.
Vollends gescheitert bin ich vor kurzem bei einem Erklärungsversuch in kleiner, durchaus wohlwollender Runde mit dem Hinweis, dass wir – laut Popper – unter Umständen hier und da mal eine „letzte Wahrheit“ erreichen – wir aber das gar nicht sicher wissen können. Das wurde als eine Art von Selbstzerstörung von Poppers Wissenschaftsmodell angesehen. Finde ich nicht – ich halte das für ein hervorragendes Beispiel für das Bewusstsein der Begrenztheit einer ständig fragenden Wissenschaft und für die oft missverstandene Natur wissenschaftlicher Erkenntnis. Popper hat nicht gesagt, dass wir niemals eine endgültige Wahrheit finden könnten. Er sagte nur, dass wir dies nicht sicher wissen können. Das ist kein Paradox, sondern schlicht die Einsicht in die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit.
Die Vorstellung, dass Wissenschaft sich selbst zerstört, wenn sie ihre eigenen Grenzen anerkennt, beruht auf einem Missverständnis. Wissenschaft ist kein Glaubenssystem, das absolute Gewissheiten liefern muss. Sie ist ein Werkzeug zur Annäherung an die Wahrheit, mit dem Bewusstsein, dass jede Erkenntnis revidierbar ist.
Jedoch: Menschen sehnen sich nach Gewissheiten. Und wenn jemand sagt: „Vielleicht haben wir hier eine letzte Wahrheit gefunden, aber wir können nicht wissen, ob das so ist“, dann empfinden das viele als Schwäche – obwohl es in Wirklichkeit eine große intellektuelle Stärke ist. Das Problem ist, dass viele Leute eine intuitive Vorstellung von „Wahrheit“ als etwas Absolutem haben. Sie erwarten von Wissenschaft, dass sie ihnen endgültige Antworten liefert. Dabei ist Wissenschaft eher ein ständiges Ringen um bessere Modelle der Realität – mit der Möglichkeit, dass diese Modelle unvollständig oder gar falsch sein können. Wer bringt diese Erkenntnis in die Schulen und die Allgemeinbildung?
Erkenntniskriterium Wahrscheinlichkeit
Zur Verdeutlichung, dass ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad aus der falsifizierenden Untersuchung von Gegebenheiten meist völlig ausreicht, ein Beispiel, das Hume vermutlich gefallen hätte: „Alle Menschen müssen sterben.“ Ist das „bewiesen“? Nein, denn es leben ja noch jede Menge! Aber: Lassen sich darauf vernünftige Zweifel an der Ausgangsthese ableiten? Nein. Nicht nur wegen des Induktionsprinzips, sondern auch wegen unseres gut gesicherten Wissens über die Physiologie von Lebewesen, das uns zeigt, warum unumkehrbare Alterungsprozesse einsetzen, die irgendwann das Ende dessen herbeiführen, was wir Leben nennen. Das sind schlüssige „Belege“, die für sichere Erkenntnis ausreichen, aber keine „Beweise“.
Hume hätte dieses Beispiel sicher geschätzt – es passt zu seinem Skeptizismus gegenüber dem Erkennen von Kausalität, aber auch zu seinem Pragmatismus. Selbst in Bereichen, in denen wir uns sicher sind (wie der Sterblichkeit des Menschen), bleibt die Erkenntnis eine induktive Verallgemeinerung – aber eben eine, an der zu zweifeln irrational wäre.
Vernunftgesteuerter vs. „zersetzender“ Skeptizismus
Genau diese Denkweise wäre für viele nützlich, die in Wissenschaftsdiskussionen entweder nach absoluter Sicherheit verlangen oder skeptischen Missbrauch betreiben („Man kann nie 100 % sicher sein, also könnte es ja auch anders sein!“). Letzteres zeigt den Unterschied zwischen gesunder Skepsis und Zersetzungs-Skeptizismus.
Diesen „Zersetzungs-Skeptizismus“ konnte man sehr gut in der Pandemie beobachten. Unter den „Impfkritikern“ waren manche, die ich immer als „Hundertprozenter“ bezeichnet habe. Akademisch ausgebildete Menschen, die den Einsatz von Impfstoffen nur dann als vertretbar ansehen wollten, wenn es sowohl hinsichtlich der Wirkungen als auch der Nebenwirkungen „hundertprozentige“ Sicherheit gebe. Diese Leute stellen sich auf den Standpunkt, dass jede noch so kleine Unsicherheit oder jede verbleibende offene Frage die gesamte Erkenntnis zum Einsturz bringen müsse. Dabei ignorieren sie, dass Wissenschaft immer mit Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten arbeitet – und dass Entscheidungen im echten Leben fast nie auf absoluter Sicherheit beruhen.
Clemens Arvay war da ein typisches Beispiel: Er stellte wissenschaftliche Standards infrage, indem er genau jene Unfehlbarkeit forderte, die Wissenschaft gar nicht leisten kann – und auch nicht leisten muss. Ironischerweise ist es genau dieser Dogmatismus, der ihn von einer echten wissenschaftlichen Haltung entfernt hat.
Dies scheint mir nicht so sehr ein intellektuelles Problem zu sein, sondern eher eine tief verwurzelte psychologische Haltung: Viele Menschen fühlen sich von Unsicherheiten bedroht und greifen deshalb zu Absolutismen – sei es in Richtung Wissenschaftsverweigerung oder blinder Wissenschaftsgläubigkeit. Ersichtlich gilt dies auch für Menschen, die mit den wissenschaftsphilosophischen Grundlagen eigentlich vertraut sein müssten. Sie werden beherrscht von einer tiefen, menschlichen Sehnsucht nach Gewissheit – und dem Widerstand gegen die Zumutung, dass es sie nicht in letzter Konsequenz gibt.
„Der andere könnte auch Recht haben“
Da fällt mir noch ein Beispiel für falschen Relativismus von Erkenntnisfähigkeit ein. Es gab einmal ein Positionspapier zur Homöopathie-Debatte unter Führung des inzwischen verstorbenen Prof. Peter Matthiessen, einem Vertreter eines vorgeblichen „Pluralismus in der Medizin“. Das war ein Generalangriff auf die wissenschaftliche Methode selbst, ein Beispiel für nahezu hemmungslosen Relativismus, das gekrönt wurde mit einer Berufung auf Hans-Georg Gadamers „Der andere könnte auch Recht haben“ und damit ins Moralisierende abglitt.
Das ist ein Paradebeispiel für die gezielte Fehlanwendung geisteswissenschaftlicher Konzepte, um eine wissenschaftlich unhaltbare Position zu stützen. Gadamers „Der andere könnte auch Recht haben“ ist ja im hermeneutischen Kontext zu verstehen – also im Sinne eines Verständigungsprozesses in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wo verschiedene Perspektiven miteinander in Dialog treten müssen, um ein tieferes Verständnis zu ermöglichen. Das auf die Naturwissenschaften zu übertragen, wo es nicht um Perspektiven, sondern um überprüfbare Fakten und Hypothesen geht, ist entweder eine eklatante Fehlinterpretation oder eine bewusste Strategie zur Relativierung unliebsamer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Gadamer selbst hat mit hinreichender Klarheit herausgestellt, dass es ihm nicht um die Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften geht.
Dass Popper diesen Satz ebenfalls gebraucht hat, zeigt nur umso deutlicher, wie aus dem Kontext gerissene Zitate instrumentalisiert werden können. Bei Popper ging es um eine methodische Selbstdisziplin, um ein gesundes Maß an Zweifel an den eigenen Ergebnissen, bevor man sie als gesicherte Erkenntnis präsentiert. Daraus einen Generalangriff auf die Wissenschaft abzuleiten, ist grotesk.
Diese Art des methodischen Relativismus ist besonders perfide, weil sie für Laien oft überzeugend klingt: „Ja, aber selbst die Wissenschaft sagt doch, dass sie sich irren kann!“ – was dann so verdreht wird, dass jede Beliebigkeit oder sogar bewusste Ignoranz plötzlich als gleichwertig zur wissenschaftlichen Erkenntnis erscheinen soll.
Das Missbrauchen geisteswissenschaftlicher Konzepte zur Unterminierung der Naturwissenschaft ist leider ein beliebtes Muster. Besonders in der Esoterik-Szene oder bei postmodernen Wissenschaftskritikern sieht man das oft: Da werden dann Kuhns Paradigmenwechsel oder Feyerabends Anything goes völlig entstellt, um den Eindruck zu erwecken, als sei Wissenschaft nur ein weiteres narratives Konstrukt unter vielen.
Matthiessen hat das mit dem Pluralismus in der Medizin in genau diese Richtung gelenkt – als ob es einfach verschiedene, gleichwertige „Erkenntniswege“ gäbe, die man parallel akzeptieren müsste. Das ist der Trick: Eine Position als offen und pluralistisch darstellen, während man in Wahrheit wissenschaftliche Standards verwässert und für Beliebigkeit öffnet. Eine intellektuelle Todsünde.
Fazit: Die Grenzen und Stärken wissenschaftlicher Erkenntnis
Die Diskussion um anekdotische Evidenz und wissenschaftliche Methodik zeigt deutlich, dass subjektive Erfahrungen allein nicht ausreichen, um objektive Wahrheiten zu etablieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse basieren auf systematischen Untersuchungen, Reproduzierbarkeit und der ständigen Überprüfung bestehender Theorien. Während persönliche Anekdoten emotional überzeugend sein können, bieten sie keine verlässliche Grundlage für allgemeingültige Aussagen.
David Hume und Karl Popper haben uns gelehrt, dass absolute Gewissheit in der Wissenschaft selten erreicht wird. Stattdessen ist die Wissenschaft ein fortwährender Prozess des Hinterfragens und Verfeinerns unseres Wissens. Diese Bescheidenheit ist keine Schwäche, sondern eine Stärke, die es ermöglicht, sich kontinuierlich der Wahrheit anzunähern und nicht scheinbaren Gewissheiten aufzusitzen.
Es ist wichtig, dass wir uns dieser Grenzen bewusst sind und gleichzeitig die immense Bedeutung wissenschaftlicher Methoden anerkennen. Nur durch kritisches Denken und die Bereitschaft, unsere Überzeugungen zu hinterfragen, können wir fundierte und verlässliche Erkenntnisse gewinnen. Dazu gehört eine gewisse Demut. Wissenschaft ist kein starres System, sondern ein dynamischer Prozess, der uns hilft, die Welt besser zu verstehen und fundierte Entscheidungen zu treffen.
Die Wissenschaft ist in der Vertrauenskrise – so könnte man meinen, wenn man sich die Diskussionen um Pandemien, Klimawandel oder alternative Heilmethoden ansieht. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Umfragen und Studien, die das „Vertrauen in die Wissenschaft“ messen. Die jüngste dieser Untersuchungen, erschienen in Nature Human Behaviour1, hat mit großem Aufwand das Vertrauen in Wissenschaft und Wissenschaftler in 68 Ländern erhoben. Deutschland rangiert dabei mit einem Wert von 3,49 unterhalb des gewichteten Medians von 3,62 (bei einer gemessenen Bandbreite von 4,2 bis 3,5 mit einer Standardabweichung zwischen 0.008 and 0.133) – ein Befund, der dem eher pessimistisch eingestellten Skeptiker spontan akzeptabel erscheint – bis man sich ansieht, welche Länder deutlich höhere Werte auch über dem Median erreichen. Deutschland wird dabei von Nationen glatt in den Schatten gestellt, denen man es beim besten Willen und ganz unvoreingenommen nicht zutrauen würde – ganz zu schweigen von den beiden führenden Nationen, die auch noch statistische „Ausreißer“ nach oben sind: Ägypten und Indien. Hier stellen sich Fragen nach der Repräsentativität und vor allem der Aussagekraft der Studie (Link zur Studiengrafik).
Stellen wir uns deshalb doch einmal die Frage: Was genau bedeutet „Vertrauen in die Wissenschaft“ denn eigentlich? Und was lässt sich aus einer solchen Zahl ableiten?
Eine Zahl ohne Kontext bleibt inhaltsleer
Eine auf diesem Blog früher schon einmal erörterte Untersuchung (Leseempfehlung), veröffentlicht im Journal of Experimental Social Psychology2, wirft erhebliche Zweifel an der isolierten Aussagekraft solcher Vertrauensmessungen auf. Die Studie zeigte, dass ein blindes Vertrauen in Wissenschaft ohne zumindest grundlegendes Verständnis der wissenschaftlichen Methodik oder ein Mindestmaß an Reflexionsfähigkeit eher problematisch als hilfreich ist. Menschen, die ein hohes Vertrauen in „die Wissenschaft“ angaben, waren paradoxerweise oft anfälliger für Pseudowissenschaften und Desinformation. Das klingt kontraintuitiv, macht aber Sinn: Wer ohne kritisches Hinterfragen alles glaubt, was im Namen und unter dem Anschein von Wissenschaft daherkommt, kann genauso leicht falschen oder verzerrten wissenschaftlichen Aussagen aufsitzen wie seriöser Forschung folgen.
Der begleitende Kommentar zur Studie auf Journalist’s Resource3 beschreibt dieses Phänomen anschaulich: Vertrauen ohne Wissen sei wie ein Auto ohne Bremsen. Es fehle an einer reflektierenden Instanz, die zwischen solider Wissenschaft und Pseudowissenschaft unterscheidet.
Die neue Vertrauensstudie: Mehr Umfang, aber auch mehr Erkenntnis?
Die Nature-Studie liefert nun eine beeindruckende Datenmenge. Doch stellt sich die Frage: Was genau sagen diese Zahlen aus? Wenn etwa ein Land ein besonders hohes Vertrauen in die Wissenschaft zeigt – bedeutet das, dass dort wissenschaftliche Erkenntnisse besonders gut verstanden und reflektiert werden? Oder ist es schlicht ein Ausdruck von sozioökonomischen Faktoren, Bildungsstrukturen oder gar politischer Propaganda?
Ein hohes Vertrauen in Wissenschaft ist nur dann ein Fortschritt, wenn es mit einem gewissen Maß an Urteilskompetenz einhergeht. Fehlt diese, bleibt es eine leere Größe – oder schlimmer: Es öffnet Tür und Tor für Missbrauch. Wenn Menschen zwar „der Wissenschaft“ vertrauen, aber gleichzeitig nicht zwischen fundierter Forschung und ideologisch motivierter Verzerrung unterscheiden können, dann wird Wissenschaftsvertrauen zur leichten Beute für Populismus und Manipulation.
Anstatt nur zu messen, wie viele Menschen „der Wissenschaft“ vertrauen, sollten künftige Studien untersuchen, wie dieses Vertrauen sich mit Verständnis wissenschaftlicher Methoden, Skepsis gegenüber unhaltbaren Behauptungen und der Fähigkeit zur kritischen Reflexion verbindet. Vertrauen allein kann ebenso gut ein Zeichen von unkritischer Autoritätshörigkeit sein wie von fundiertem Wissen.
Der wahre Schlüssel liegt also nicht in einem abstrakten Vertrauensindex, sondern in der Fähigkeit zur informierten Urteilsbildung. Und die lässt sich nicht einfach per Umfrage messen.
Wieder mal die Sache mit dem kritischen Denken.
1 Cologna, V., Mede, N.G., Berger, S. et al. Trust in scientists and their role in society across 68 countries. Nat Hum Behav (2025). https://doi.org/10.1038/s41562-024-02090-5 https://www.nature.com/articles/s41562-024-02090-5
Ich bin ja nur ein kleiner Blogger, der allerdings auch selbst schon wissenschaftlich veröffentlicht und ein Auge auf Tendenzen im Wissenschaftsbetrieb hat. Letzteres ist nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig. Warum – dazu stelle ich heute einmal einen wichtigen Teilaspekt vor, die wissenschaftliche Publikationspraxis. Da sehe ich allerlei Düsternis.
Ich erspare mir hier, die – immer noch nicht ausgestandene – Geschichte um die Studie Frass et al. (2020) auszubreiten, bei der nicht nur ein unsinniges und unplausibles Forschungsthema behandelt, sondern mit großer Expertise akribisch herausgearbeitet wurde, dass die Ergebniss nicht auf realen Daten beruhen können. Jede Intervention beim veröffentlichenden Journal, dem Oncologist, blieb bislang erfolglos, ja, führte sogar zu einer Verhärtung der Fronten, weil sich das Journal nun auch noch selbst hinter die Studie stellte. Mehr dazu beim Humanistischen Pressedienst hier und zur Kritik an der Studie im Detail beim Informationsnetzwerk Homöopathie hier.
Ein krasser Fall – ein Einzelfall? Nun da lege ich mich nicht endgültig fest, es ist eben ein Fall, der aufgefallen ist. Was unwahrscheinlich genug war.
Was aber sehenden Auges selbst bei renommiertesten Wissenschaftsorganisationen geschieht, darauf bin ich vor einigen Tagen aufmerksam geworden. Und das verschiebt nach meiner Ansicht die ganze Problematik noch einmal um ein gehöriges Stück. Was ist geschehen?
Cochrane auf Irrwegen
Hilda Bastian, Gründungsmitglied von Cochrane, beschreibt in ihrem Blogbeitrag vom 24. Januar 2025 einen Vorfall innerhalb der Cochrane Collaboration bezüglich eines Reviews zu Bewegungstherapien bei Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Dieser Review, dessen letzte vollständige Aktualisierung im Jahr 2015 stattfand, empfahl Bewegungstherapie als Behandlung für ME/CFS. Seitdem hat sich das Verständnis der Erkrankung jedoch erheblich weiterentwickelt, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Post-Exertional Malaise (PEM) als Leitsymptom. Internationale Leitlinien, darunter die des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) im Vereinigten Königreich und der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA, raten inzwischen von standardisierten Bewegungstherapien für ME/CFS-Patienten ab.
Aufgrund anhaltender Kritik von Patientenvertretern und Wissenschaftlern initiierte Cochrane eine vollständige Überarbeitung des Reviews und setzte eine unabhängige Beratungsgruppe (Independent Advisory Group, IAG) ein, der auch Bastian angehörte. Im März 2020 wurde bekannt gegeben, dass das ursprüngliche Autorenteam zurückgetreten war und ein neues Team zusammengestellt werden sollte. Im Dezember 2024 jedoch erhielt die IAG eine kurze Mitteilung, dass die geplante Aktualisierung des Reviews abgesagt wurde. Öffentliche Berichte der IAG wurden ohne Vorankündigung von der Cochrane-Website entfernt. Kurz darauf veröffentlichte Cochrane eine neue „Version“ des Reviews mit einem redaktionellen Hinweis, der die Absage der Aktualisierung bekannt gab und gleichzeitig die veralteten Empfehlungen bestätigte.
Diese Ereignisse haben zu erheblichem Unmut in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und bei Patientenvertretern geführt. Die Entscheidung, die Überarbeitung abzubrechen und den veralteten Review erneut zu veröffentlichen, wird als inakzeptable Fehlentscheidung angesehen, die das Vertrauen in Cochrane untergräbt. Angesichts der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und der potenziellen Schäden, die durch ungeeignete aktivierende Bewegungstherapien bei ME/CFS-Patienten entstehen können, ist diese Entwicklung besorgniserregend. Ein gültiges, gar mit aktuellem Datum versehenes Paper in der Publikation, das eine längst als falsch und schädlich erkannte Therapieoption befürwortet? Mit dem Namen der renommiertesten Autorität in der evidenzbasierten Medizin? Was erlaube Cochrane, um einmal Giovanni Trappatoni zu paraphrasieren!
Für die ME/CFS-Forschungsgemeinschaft in Deutschland um die führende Expertin Prof. Carmen Scheibenbogen (Charité), ist es von großer Bedeutung, diese Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich ist entscheidend, dass klinische Leitlinien und Empfehlungen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft basieren und die Bedürfnisse und Sicherheit der Patienten im Vordergrund stehen. Es ist unerlässlich, dass wissenschaftliche Gesellschaften transparent agieren und Kritik ernst nehmen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Fachwelt zu bewahren.
Eine besorgniserregende Entwicklung
Dass das Publikationssystem strukturelle Schwächen hat, ist nichts Neues – wirtschaftliche Interessen, Publikationsdruck und Intransparenz sind als Problemursachen bekannt. Aber dieser Vorgang bei Cochrane (und letztlich auch der ersterwähnte bei The Oncologist) geht über diese bekannten Probleme hinaus: eine offenbar zunehmende Gleichgültigkeit oder sogar aktive Verteidigung wissenschaftlich fragwürdiger Inhalte durch etablierte Journale und Organisationen. Und ausgerechnet die Cochrane Collaboration, die weltweit als Gralshüter der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin gilt, handelt dem zuwider?
In der Tat ist der Fall, den Hilda Bastian schildert, besonders alarmierend, weil Cochrane nach eigenem Selbstverständnis den „Goldstandard“ der evidenzbasierten Medizin verkörpert. Dass eine längst überfällige Revision eines problematischen Reviews per ordera mufti nicht nur sabotiert, sondern die überholte Version aktiv erneut veröffentlicht wird, ist eine Form institutionalisierter mangelnder Fehlerkultur: Man hält an einer überholten, deshalb potenziell schädlichen Empfehlung fest, statt wissenschaftliche Korrektheit walten zu lassen. Das ist nicht nur intellektuell unehrlich, sondern kann in diesem Fall auch gesundheitliche Folgen für ME/CFS-Patienten haben.
Obwohl anders gelagert, kommt einem dabei der Fall Peter Gøtzsche vor einigen Jahren in den Sinn. Gøtzsche veröffentliche damals als Gründungsmitglied und leitender Mitarbeiter von Cochrane auf eigene Faust eine harsche Kritik an einem Review von Cochrane, das sich mit dem HPV-Impfstoff Gardasil befasste. Worauf er nicht nur seinen Job bei Cochrane (Leiter des Nordic Cochrane Centre) verlor, sondern gleich auch noch aus der Organisation ausgeschlossen wurde. Diese spezielle Sache wurde aufgearbeitet, mit dem Ergebnis, dass Gøtzsche nur so etwa zu 5 Prozent Recht hatte. Hinzu kam, dass er sich zusätzlich dadurch diskreditierte, dass er einen ausgesprochenen Impfgegner mit ins Boot genommen hatte. Aber die institutionellen Mechanismen, die ihn schon vorher bei Cochrane zum Außenseiter machten, sind nie wirklich beleuchtet wurden. War die Sache mit dem HPV-Review Grund oder nur eine willkommene Gelegenheit, Gøtzsche loszuwerden? Cochrane hatte Zusagen auf Klärung, die auf Drängen der wissenschaftlichen Community gemacht wurden, nie eingehalten.
Zweifellos war Gøtzsche seit jeher ein Opponent, der vor allem die zunehmende Kooperation von Cochrane mit der pharmazeutischen Industrie kritisierte. Der offizielle Grund, ihn vor die Tür zu setzen, war laut Cochrane „bad behaviour“, also schlechtes Benehmen … Na. Ich habe mich seinerzeit mit dieser Geschichte intensiv beschäftigt und auch dazu geschrieben, aber nicht veröffentlicht. Heute finde ich keine deutschsprachige Quelle, die nach meiner Einschätzung die Facetten des Konfliktes einigermaßen neutral wiedergibt, deshalb biete ich hier keinen deutschsprachigen Link an. Wer mehr erfahren will, den verweise ich auf den Blog „Skeptical Raptor“ des geschätzen US-Bloggerkollegen Michael Simpson.
Liegt darin eine generelle Tendenz? Namlich die, dass Institutionen sich gegen Kritik verteidigen oder sie ignorieren, anstatt wissenschaftliche Debatten offen zu führen? Und das ist die eigentliche Gefahr: Wenn sich Journale und Organisationen primär selbst schützen, statt als Korrektiv für Wissenschaftsfehler zu dienen, dann untergraben sie ihre eigene Glaubwürdigkeit.
Die Kombination aus wirtschaftlichen Zwängen, Publikationsdruck und mangelnder Fehlerkultur könnte langfristig die wissenschaftliche Integrität aushebeln. Es wird immer mehr darum gehen, Kritik abzuwehren oder zu ignorieren, anstatt sich ihr konstruktiv zu stellen. Und das ist eine schiefe Ebene, die – wenn nicht gegengesteuert wird – fatale Folgen haben kann.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Welche Mechanismen müssten sich ändern, damit sich wissenschaftliche Journale nicht nur dem Peer-Review-Prozess verpflichtet fühlen, sondern auch einer echten Fehlerkultur?
Wer bin ich, für dieses Riesenproblem eine Lösung anbieten zu wollen. Aber einige DInge liegen schlicht auf der Hand, sind in kritischen Kreisen längst Konsens, sind aber trotzdem weit von einer Verwirklichung entfernt.
Ganz elementar sind zwei Dinge. Das sind zunächst die heutigen Selektionsmechanismen der Journale. An Einreichungen zur Veröffentlichung mangelt es nicht, was auch auch dadurch belegt wird, dass selbst mit dem wissenschaftlichen (oder auch unwissenschaftlichen) Bodensatz noch Geschäfte gemacht werden, indem sich Journale etablieren, die nach außen hin ein seriöses Bild abgeben, aber nichts anderes tun als ein peer review nur vorzutäuschen (oder ganz darauf zu verzichten) und gegen klingende Münze jedem „Wissenschaftler“ die Gelegenheit zu einer Journalveröffentlichung zu geben.
Bei den seriösen Journalen wäre zunächst die offensichtliche Fixierung auf spektakuläre Ergebnisse zu nennen. Diese führt nicht nur zu einer Verzerrung des wissenschaftlichen Diskurses (Publication Bias), sondern untergräbt auch das Selbstkorrektiv der Wissenschaft. Replikationsstudien, die essenziell für die Validierung von Erkenntnissen sind, haben es schwer, veröffentlicht zu werden.
Das Peer Review In der aktuellen Form ist oft intransparent und unzureichend – manche Reviewer leisten hervorragende Arbeit, andere überfliegen das Paper nur. Es wäre essenziell, dass nicht nur die Namen der Reviewer, sondern auch ihr konkreter Prüfbereich klar ist. Wer hat sich mit der Methodik befasst? Wer mit der statistischen Auswertung? Wer mit der Plausibilität der Hypothese? Und ja, faire Bezahlung für Peer Reviews wäre ein wichtiger Schritt.
Darüber könnte man lange schreiben. Ich will aber mal etwas riskieren in diesem Beitrag: Ich werde Sciene Fiction-Autor. Warum nicht?
Visionen
Meine Vision: Ein weltumspannendes Rechenzentrum, in das jeder Forschende seine Ergebnisse ablegen kann – kostenlos, getragen von der wissenschaftlichen Community mit Rückendeckung der staatlichen und halbstaatlichen Forschungsinstitute. Aber nicht ohne Hürden – ein mehrstufiges Beurteilungsverfahren bis hin zu einem genauen Review durch menschliche Mitarbeiter wäre durch eine entsprechend leistungsfähige und spezialisierte KI zu leisten. Die auch die Diskussionen der Community moderieren und im Sinne einer unvoreingenommenen Fehlerkultur handeln könnte …
Das wäre jedenfalls eine Lösung, die das Problem an der Wurzel packt. Denn solange Verlage die Wissenschaft als Geschäftsmodell betreiben, wird sich an den grundlegenden Problemen wenig ändern. Ein von der Wissenschaftscommunity selbst kontrolliertes System, das KI-gestützte Qualitätskontrolle mit menschlicher Expertise kombiniert, könnte Transparenz, Fehlerkultur und Effizienz drastisch verbessern. Und das alles werden wir in Zukunft noch weit mehr brauchen als ohnehin schon.
Natürlich bleibt die Frage, ob und wie sich so etwas realisieren ließe – insbesondere angesichts des Widerstands kommerzieller Verlage und der politischen Trägheit. Aber die Alternative ist ein weiteres Abrutschen in eine wissenschaftliche Publikationslandschaft, die mehr von Prestige und wirtschaftlichen Interessen als von Wahrheitsfindung geleitet wird. Man sieht, ich gehöre nicht zu denen, die bei Visionen die Einschaltung eine Arztes empfehlen. Sondern ein Nachdenken, wie man einer solchen Idee praktisch näher kommen könnte.
Die Journale sind aber natürlich nur ein Teil des Systems – die Wissenschaftler selbst sind oft gezwungen, mitzuspielen. Sei es durch den Publikationsdruck, der sie dazu bringt, möglichst viele „interessante“ Ergebnisse zu produzieren (statt solide, aber unspektakuläre Forschung zu betreiben), oder durch ideologische Scheuklappen, die dazu führen, dass sie eigene Fehler nicht erkennen (oder nicht zugeben wollen). Nicht zu vergessen die Verschwendung von Ressourcen bei problembewussten Wissenschaftlern, die oft viel Zeit aufwenden, die genannten Tendenzen zu bekämpfen. Wobei zusätzliche Aspekte wie Papermills („Wissenschaft auf Bestellung“) noch gar nicht angesprochen sind.
Wenn sich Leichtfertigkeit und Laissez-faire auf allen Ebenen ausbreitet – von Forschern über Peer Reviewer bis zu den Journals –, dann haben wir ein echtes Problem mit der wissenschaftlichen Integrität. Und wenn Institutionen wie Cochrane und bislang sehr renommierte Journale wie The Oncologist, die eigentlich für höchste Standards stehen sollten, sich dem auch noch anpassen, dann ist das ein echtes Warnsignal.
Aber was zum … schreibe ich hier … ich bin doch nur ein kleiner Blogger. Der aber seit gut zehn Jahren die Augen aufhält.
SPIEGEL online berichtet über eine systematische Arbeit von Cochrane zum Effekt des Maskentragens. Kurz gesagt, kommt Cochrane zu dem Ergebnis, dass weder für noch gegen Effekte des Maskentragens bei Infektionsereignissen solide Evidenz vorliegt.
Es handelt sich um eine statistische Metaanalyse, die die Daten aus verschiedenen Einzeluntersuchungen aggregiert und insgesamt auswertet. Neben den systematischen Review ist dies eine der Methodiken für zusammenfassende Arbeiten im Bereich der Empirie.
Für beide Methoden gilt, dass sie prinzipiell nur so gut sein können wie die zugrunde liegenden Einzelstudien. Bei Metaanalysen kommt hinzu, dass diese – anders als bei systematischen Reviews – für das Gesamtergebnis nicht weiter qualitativ bewertet werden. Es wird „nur“ nach der methodischen Eignung der Datenbestände für eine Zusammenführung zum Zweck gemeinsamer statistischer Auswertungen geschaut.
Hier lagen Cochranes Analyse (die eine Ergänzung früherer Arbeiten zum Thema darstellt) keine klinischen randomisierten placebokontrollierten Studien zugrunde – natürlich nicht. Dies ist bei der Aufgabenstellung, Effekte des Maskentragens zu eruieren, wohl auch kaum möglich. Problem: „Goldstandard“ sind die sogenannten RCT deshalb, weil sie die maximalen Möglichkeiten bieten, Störeinflüsse verschiedenster Art (v.a. verzerrte und subjektive Wahrnehmungen) auszuschließen und damit einen möglichst unverzerrten Blick auf die zu untersuchenden Effekte zu ermöglichen. Cochranes eigene Bewertungskriterien helfen dabei, in Reviews qualitative Bewertungen der Einzelstudien einfließen zu lassen („Critical appraisal“). Metaanalysen sind ein rein mengenstatistisches Instrument.
Im vorliegenden Fall wurden die Daten im Wesentlichen dadurch erhoben, dass lokal Masken mit der Empfehlung zum Tragen an die Bevölkerung verteilt wurden und im Nachgang das dortige Infektionsgeschehen mit Regionen verglichen wurde. bei denen es keine solchen gezielten Aktionen gab. Man kann sich leicht vorstellen, wie „weak“ solche Vergleichsergebnisse sind und sehr weit entfernt von den Standards, die gut gemachte RCT zu liefern imstande sind. Das ist kein Vorwurf. Man kann eben nur die Standards erreichen, die die konkrete Untersuchungssituation zulässt und muss seine Methodik an dem ausrichten, was diese eben hergibt. Nur hat das eben Folgen für die Einordnung der Ergebnisse, was den meisten Menschen nicht bewusst ist, die vielmehr „Studien“ entweder für die wahre Wahrheit oder aber für interessengeleitet halten – je nach eigener Einstellung zum Thema …
Es gibt jede Menge Einflussfaktoren, die den statistischen Vergleich verzerren und zu einem Zufallsergebnis machen können. Das liegt auf der Hand. Sowohl auf der Seite der Ausbreitung des Virus als auch auf der Seite von Verhaltensmerkmalen. Es ist nicht einmal bekannt, ob tatsächlich viele Menschen aufgrund der Empfehlung und des kostenlosen Verteilens ihr Verhalten geändert haben oder – umgekehrt – ohnehin Maskentragen als angemessenes Verhalten angesehen wird und insofern eine Verhaltensänderung obsolet war (z.B. in den asiatischen Ländern).
Leider wird hier ein von Cochrane völlig zutreffend beschriebenes Ergebnis einer Analyse in der Öffentlichkeit (z.B. in der Kommentarspalte von SPON) sofort tendenziell bewertet, was wohl keineswegs Cochranes Absicht war. Die Maskengegner schließen sofort darauf, dass ja der Nutzen nicht „bewiesen“ sei, ohne zu wissen, was im wissenschaftlichen Sinne „bewiesen“ heißt und ohne zu berücksichtigen, dass Cochrane eine rein medizinstatistische Bewertung vorgenommen hat, die Aspekte wie Plausibilität in keiner Weise berücksichtigt. Insofern habe ich bei SPIEGEL Online diesen Kommentar hinterlassen (SPON selbst berichtete durchaus korrekt, vielleicht mit etwas zu wenig Erklärungspotenzial):
In die Analyse sind vor allem Studien eingeflossen, deren Methodiken mit randomisierten kontrollierten klinischen Studien (dem „Goldstandard“) wenig zu tun haben. Es sind im Wesentlichen Feldbeobachtungen, die so vielen Einflussfaktoren unterliegen, dass die Feststellung von Kausalitäten nahezu unmöglich ist. Analysiert wurde deshalb eine wenig valide Datenbasis.
Dass dabei weder ein Ja noch ein Nein herauskommt, verwundert nicht. Ebenfalls verwundert nicht, dass daraus in der Öffentlichkeit gleich wieder der Zweifel am Maskentragen (aka die Maskenpflicht war falsch einsdrölf!!!) erwächst.
Die Endaussage von Cochrane geht völlig in Ordnung. Dieses „belegt scheint weder das eine noch das andere“ muss mit nüchternen Augen gesehen werden und ist keine Wertung. Cochrane ist knochentrocken in seinen Analysen. Plausibilitäten berücksichtigt Cochrane NICHT; sie sind die Hohepriester der empirischen Evidenz, die nur und ausschließlich auf Medizinstatistik schaut. Deshalb kommt sie auch bei Absurditäten wie Homöopathie gelegentlich zu dem Ergebnis, es gebe „positive Effekte. die aber für eine Erstlinienempfehlung nicht ausreichten“ (so zum homöopathischen Fantasiepräparat Oscillococcinum, dessen a-priori-Plausibilität bei Null liegt). Um das richtig einzuordnen, muss man den Ansatz von Cochrane richtig verstehen (den ich insgesamt persönlich durchaus für zu kurz gegriffen halte).
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind Wahrscheinlichkeitsaussagen, deren „Wertigkeit“ sich aus den Gesamtkriterien der jeweiligen Untersuchung ergibt. Das gilt auch – wenn auch im besten Falle in deutlich geringer4em Maße – für systematische Zusammenfassungen. Man muss einiges über Cochranes Ansatz, Medizinstatistik, Studienmethodik und überhaupt über Wissenschaft wissen, um Schlüsse aus solchen Untersuchungen zu ziehen – oder auch nicht. In diesem Fall muss man, wegen der „methodischen Schwäche“ der Empirie, zwingend die physikalische Plausibilität des Maskentragens „hinzurechnen“.
Man wird Rezeptionen von „Studien“ als jeweilige Bestätigung eigener Vorannahmen nie verhindern können. Aber dieser Vorgang ruft einmal wieder mein ceterum censeo auf den Plan:
Wissenschaftslehre und Wissenschaftsmethodik auf die Lehrpläne der Schulen! Ich weiß noch genau, dass wir ganze zwei Schuljahre im Biologieunterricht mit Anatomie und Funktion des Tiefseeschwamms verbracht haben (in anderen naturwissenschaftlichen Fächern wäre vergleichbares zu berichten, der Tiefseeschwamm ist mir nur nachhaltig im Gedächtnis geblieben). Von wissenschaftlichen Erkenntnisgrundlagen kein Wort.
Übersicht über die indikationsübergreifenden Reviews / Metaanalysen zur Homöopathie seit 1991
Kleijnen (1991)
„Derzeit sind die Nachweise aus klinischen Studien positiv, aber sie sind nicht ausreichend, endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen, weil die Methodik in den meisten Studien von geringer Qualität ist und der Einfluss des „Publication bias“ unbekannt ist.“
„Das Ergebnis unserer Meta-Analyse liefert keine Bestätigung für die Hypothese, die klinischen Effekte der Homöopathie bestünden alleine aus einer Placebowirkung. Wir fanden in diesen Studien jedoch nur unzureichende Nachweise dafür, dass die Homöopathie auch nur bei einem einzigen Krankheitsbild wirksam wäre.“
„Die Ergebnisse der vorliegenden randomisierten kontrollierten Studien deuten darauf hin, dass die Homöopathie eine über Placebo hinausgehende Wirkung aufweist. Die Nachweise sind jedoch wegen methodischer Schwächen und Widersprüchlichkeit nicht überzeugend.“
„Es gibt ein paar wenige Nachweise dafür, dass homöopathische Therapien wirksamer sind als Placebos; die Aussagekraft dieser Nachweise ist wegen der nur geringen methodischen Qualität der Studien nur gering. Studien von höherer methodischer Qualität waren eher ungünstiger als solche mit geringer Qualität.“
„… es zeigten sich schwache Nachweise für einen spezifischen Effekt der homöopathischen Arzneien (…) Die Ergebnisse bestätigen den Eindruck, dass es sich bei den klinischen Effekten der Homöopathie um Placeboeffekte handelt.“
Die Shang-Studie, von der Schweizer Bundesregierung zur Evaluation komplementärmedizinischer Methoden in Auftrag gegeben, führte zu dem Lancet-Editorial vom „Ende der Homöopathie“ und in der Folge zu langandauernden Kontroversen um die Arbeit (die noch heute gelegentlich aufflackern). Auch von Homöopathiekritikern wurden einzelne Punkte bemängelt, jedoch ist es nie gelungen, die Endaussage zu Lasten der Homöopathie zu Fall zu bringen. Einen Überblick über die Diskussion zur Shang-Studie gibt es hier und hier.
Mathie (2014)
„Arzneien, die als Homöopathika individuell verordnet wurden, haben vielleicht einen kleinen spezifischen Effekt. (…) Die generell niedrige und unklare Qualität der Nachweise gebietet aber, diese Ergebnisse nur vorsichtig zu interpretieren.“
Mathie 2014 ist die wohl am häufigsten als Beleg pro Homöopathie herangezogene zusammenfassende Arbeit. Nahezu regelhaft lässt sich beobachten, dass aus dem vorstehenden Fazit nur der erste Satz zitiert und der zweite, der das ohnehin schwache Ergebnis nochmals stark relativiert, so gut wie nie angeführt wird.
NHMRC (2015)
„Es gibt keine zuverlässigen Nachweise dafür, dass die Homöopathie bei der Behandlung von Gesundheitsproblemen wirkungsvoll wäre.“
„Die Qualität der Nachweise als Ganzes ist gering. Eine Meta-Analyse aller ermittelbaren Daten führt zu einer Ablehnung unserer Nullhypothese [dass das Ergebnis einer Behandlung mit nicht-individuell verordneten Homöopathika nicht von Placebo unterscheidbar ist], aber eine Analyse der kleinen Gruppe der zuverlässigen Nachweise stützt diese Ablehnung nicht. Meta-Analysen für einzelne Krankheitsbilder ergeben keine zuverlässigen Nachweise, was klare Schlussfolgerungen verhindert.“
„Aufgrund der geringen Qualität, der geringen Anzahl und der Heterogenität der Studien lassen die aktuellen Daten einen entscheidenden Rückschluss auf die Wirksamkeit von IHT (individualisierten homöopathischen Therapien) nicht zu. Die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse wird durch die insgesamt identifizierte variable externe Validität eingeschränkt […]. Künftige OTP-kontrollierte Studien (Anm:other than placebo, also gegen Standardtherapien oder ganz ohne Behandlung getestet) in der Homöopathie sollten so weit wie möglich darauf abzielen, sowohl die interne Validität als auch die externe Validität zu fördern.“
„Wenn die Wirksamkeit der Homöopathie mit einem Placebo vergleichbar ist und eine Behandlung mit Placebo bei manchen Beschwerden wirksam sein kann, dann kann man die Homöopathie insgesamt als Placebotherapie ansehen. Die Interpretation der Homöopathie als Placebotherapie definiert Grenzen und Möglichkeiten dieser Lehre.“
Die Arbeit vergleicht Homöopathie mit sogenanntem „offenen Placebo“, also Behandlungen, bei denen den Patienten mitgeteilt wird, dass sie ein Placebo erhalten. Das Ergebnis stellt fest, dass die Wirksamkeit der Homöopathika der offenen Placebobehandlung entspricht.
Es scheint Intention dieser Arbeit zu sein, die Homöopathie als Placebotherapie zu „legitimieren“, was ein Kurswechsel in dem Bemühen wäre, eine Wirksamkeit der Homöopathie mit den Methoden der Evidenzbasierten Medizin nachzuweisen. Es muss allerdings der Tendenz entgegen getreten werden, auf diese Weise Homöopathie als Teil von Medizin zu rechtfertigen, was inzwischen sogar von der klinischen Placeboforschung ausdrücklich hervorgehoben wird (so Benedetti F, The Dangerous Side of Placebo Research: Is Hard Science Boosting Pseudoscience?, Clinical Pharmacology & Therapeutics Vol 106 No 6 Dec 2017).
„Die aktuellen Daten lassen eine entscheidende Aussage über die vergleichbare Wirksamkeit von NIHT (Nichtindividualisierte homöopathische Therapie, Behandlung mit Standardmitteln) nicht zu. Die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse wird durch die insgesamt festgestellte begrenzte externe Validität (Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse) eingeschränkt. Die höchste intrinsische Qualität wurde in den Äquivalenz- und Nichtunterlegenheitsstudien von NIHT beobachtet.“
Auch diesmal kommt Mathie, was die Qualität der von ihm betrachteten Studien angeht, zu einem vernichtenden Ergebnis: Von 17 eingeschlossenen Arbeiten war keine einzige mit einem „low risk of bias“, also einer ausreichenden Qualität und Aussagekraft, zu bewerten. 13 davon waren gar mit einem „high risk of bias“ einzustufen. Was dies bedeutet, ist nachstehend in der Gesamtbewertung der Studienlage erläutert.
Bewertung der Gesamtevidenz aus den indikationsübergreifenden Reviews im Zeitraum von 1991 bis 2019
Reviews / Metaanalysen stellen die zuverlässigste Quelle für die Beurteilung von Evidenz dar und repräsentieren so in der Hierarchie von Evidenz die höchste Stufe. Sie fassen Einzelstudien bzw. vorherige Analysen unter Berücksichtigung der Qualität und Validität ihrer Ergebnisse zusammen und ermöglichen so eine Gesamtschau auf die Evidenzlage zu medizinischen Methoden / Mitteln.
Die Ergebnisse der großen indikationsübergreifenden Reviews zur Homöopathie ergeben durchweg ein einheitliches Fazit: Man erhält auf den ersten Blick den Eindruck, dass es einen gewissen Nutzen geben könnte. Aber bei der – elementar wichtigen – Einbeziehung der Qualität der Aussagen in die Betrachtung oder bei dem Versuch, konkret festzustellen, für wen sich unter welchen Bedingungen sich ein Nutzen ergibt, verschwindet der positive Eindruck und zeigt sich als Trugschluss.
Zusammengefasst: Die Gesamtevidenz zur Homöopathie stellt sich so dar, dass es keinen belastbaren Nachweis dafür gibt, dass Homöopathie stärker wirkt als Placebo / Kontexteffekte. Alle zitierten Arbeiten kommen zu dem gleichen Schluss, sowohl die von homöopathischer Seite heftig kritisierten Arbeiten von Shang und des NHMRC als auch die Arbeiten Mathies, der seine vier Reviews der Gesamtstudienlage für das Homeopathy Research Institute durchgeführt hat, das zu den ständigen Kritikern der nicht von Homöopathen erstellten Reviews gehört. Die vielfach euphemistisch-ausweichend formulierten „Conclusions“ der von homöopathischer Seite durchgeführten Reviews dürfen über die nirgends belegte Evidenz für die Homöopathie nicht hinwegtäuschen, nicht zuletzt, weil sie Vertretern der Homöopathie in Diskussionen die Möglichkeit bieten, scheinbar positive Aussagen (selektiv) zu zitieren.
Die stets konstatierte mangelnde Qualität der untersuchten Studien darf nicht fälschlich als Relativierung des für die Homöopathie negativen Ergebnisses verstanden werden. Fehler und methodische Unzulänglichkeiten in Studien und Studiendesign wirken sich nahezu zwangsläufig in Richtung des sogenannten Alpha-Fehlers, also eines falsch-positiven Ergebnisses, aus und nicht umgekehrt.
Dies wird auch dadurch bestätigt, dass unter Einbeziehung der qualitativ besten Arbeiten die positiv erscheinenden Effekte sich nicht verstärken, sondern tendenziell verschwinden. Dies zeigen auch viele der hier angeführten Reviews immer wieder.
In einzelnen Reviews ist sogar zu bemängeln, dass methodisch gute Studien mit einem negativen Ergebnis für die Homöopathie gänzlich unberücksichtigt geblieben sind (z.B. bei Mathie 2014, wo bei Einbeziehung dieser Arbeiten das schwache Ergebnis zugunsten der Homöopathie vollends obsolet gewesen wäre).
II
Stellungnahmen von wissenschaftlichen Organisationen und staatlichen Stellen zur Homöopathie
„Dieses Memorandum stellt fest, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft Homöopathie heute als Pseudowissenschaft betrachtet. Ihre Verwendung in der Medizin steht im Gegensatz zu den grundlegenden Zielen der nationalen Gesundheitspolitik […].
Somit basiert die Homöopathie auf theoretischen Positionen, die in großen Teilen direkt grundlegenden wissenschaftlichen Prinzipien und Gesetzen der Physik, Chemie, Biologie und Medizin widersprechen. Keinerlei empirische Daten aus unabhängigen, hochqualitativen klinischen Studien bestätigen die klinische Wirksamkeit von homöopathischen Mitteln.“
„Die Homöopathie sollte nicht zur Behandlung chronischer, ernster oder schwerwiegender Gesundheitszustände eingesetzt werden. Menschen, die sich für die Homöopathie entscheiden, können ihre Gesundheit gefährden, wenn sie Behandlungen ablehnen oder verzögern, für die es gute Beweise für Sicherheit und Wirksamkeit gibt.“
Die Aufnahme anthroposophischer und homöopathischer Produkte in die schwedische Arzneimittelrichtlinie würde mehreren Grundprinzipien für Arzneimittel und evidenzbasierte Medizin zuwiderlaufen. Es ist grob irreführend, Homöopathika als Medikamente zu bezeichnen.
Wir empfehlen Eltern und Betreuungspersonen, Kindern keine homöopathischen Kinderzahntabletten und -gele zu geben und sich von ihrem Arzt beraten zu lassen, um sichere Alternativen zu finden.
Verwenden Sie die Homöopathie nicht als Ersatz für eine bewährte konventionelle Behandlung oder um den Besuch bei einem Arzt wegen eines medizinischen Problems zu verschieben.
„Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass das Produkt wirkt Die Erklärungen zum Produkt basieren ausschließlich auf den Theorien der Homöopathie aus dem 18. Jahrhundert, die von der Mehrzahl der heutigen medizinischen Fachleute nicht akzeptiert werden.“
Homöopathische Mittel sind nicht besser als Placebos, und die Prinzipien, auf denen die Homöopathie beruht, sind wissenschaftlich nicht plausibel. Schlussfolgerung: Homöopathie sollte nicht vom National Health Service unterstützt werden und die MHRA (Arzneimittel-Zulassungsbehörde) sollte die Lizensierung homöopathischer Produkte beenden.
Es gibt keine qualitativ hochwertigen Belege dafür, dass die Homöopathie als Behandlung für irgendeine medizinische Indikation wirksam ist. Homöopathie ist im besten Falle Placebo.
„Die Royal Pharmaceutical Society (RPS) unterstützt die Homöopathie als Behandlungsform nicht, da es weder eine wissenschaftliche Grundlage für die Homöopathie noch Belege für eine klinische Wirksamkeit homöopathischer Produkte über den Placebo-Effekt hinaus gibt.
Die RPS unterstützt keine Verschreibung homöopathischer Produkte im Rahmen des NHS (inzwischen erledigt mit der Übernahme der NHS-Empfehlungen zur Homöopathie durch sämtliche englischen Regionalorganisationen).
Apotheker sollten sicherstellen, dass Patienten die Einnahme ihrer verschriebenen konventionellen Medikamente nicht einstellen, wenn sie ein homöopathisches Produkt einnehmen oder dies in Erwägung ziehen.
Apotheker müssen sich darüber im Klaren sein, dass Patienten, die nach homöopathischen Produkten fragen, schwere, nicht diagnostizierte Krankheiten haben können, die die Inanspruchnahme eines Arztes erfordern.
Apotheker müssen Patienten, die ein homöopathisches Produkt in Betracht ziehen, über dessen mangelnde Wirksamkeit über Placeboeffekte hinaus beraten.“
“(…) Homöopathie hat nichts mit Medizin zu tun (außer dem Phänomen des Placebos), und ihre therapeutischen Prinzipien basieren auf der pseudowissenschaftlichen Prämisse, dass “Ähnliches mit Ähnlichem behandelt werden kann.“
„Aus rein klinischer Sicht bleibt festzuhalten, dass es keinen gültigen empirischen Nachweis für die Wirksamkeit der Homöopathie (evidenzbasierte Medizin) über den Placeboeffekt hinaus gibt.“
„Wir erkennen an, dass ein Placebo-Effekt bei einzelnen Patienten auftreten kann, aber wir stimmen mit früheren umfangreichen Evaluierungen überein, die zu dem Schluss kommen, dass es keine bekannten Krankheiten gibt, für die robuste, reproduzierbare Beweise existieren, dass Homöopathie über den Placebo-Effekt hinaus wirksam ist.“
„Homöopathie ist eine Methode, die vor zwei Jahrhunderten auf der Grundlage von a-priori-Konzepten ohne wissenschaftliche Grundlagen entwickelt wurde.“
Ohne die Freiheit kritischer oder divergierender Meinungen jedes Einzelnen im öffentlichen Raum in Frage zu stellen, fordert der Nationalrat der Ärztekammer:
dass der Begriff „Medizin“ als Voraussetzung für jedes therapeutische Vorgehen als erstes einen medizinischen Prozess der klinischen Diagnose beinhaltet, der gegebenenfalls durch zusätzliche Untersuchungen unter Hinzuziehung kompetenter Dritter ergänzt wird;
dass jeder Arzt Medizin nach wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen und Daten sowohl bei der Erstellung der Diagnose als auch beim Therapievorschlag praktizieren muss.
Insgesamt zeigten keine belastbaren Studien die Überlegenheit homöopathischer Arzneimittel gegenüber konventionellen Behandlungen oder dem Placebo in Bezug auf die Wirksamkeit.
„Über homöopathische Produkte: [Die Ärztekammer …] sieht es insofern als unethisch an, dass Methoden, aber auch Verschreibungen von Arzneimitteln als wirksame Therapien dargestellt und vorgeschlagen werden, bei denen wissenschaftliche Grundlagen fehlen, denen illusionäre Vorstellungen zugrunde liegen oder die sich praktisch unzureichend bewährt haben.
Aus diesen Gründen wird die Verantwortung des Arztes öffentlich eingefordert und an seine Pflichten gegenüber dem Patienten und dem Berufsstand gegenüber erinnert.
Was den europäischen Bereich betrifft, so ist – abgesehen natürlich von den Ländern, bei denen Homöopathie in den Gesundheitssystemen ohnehin keine Rolle spielte – Deutschland das einzige Land, das nach der Veröffentlichung des als Empfehlung an die Regierungen und die EU-Kommission gedachten Statements zur Homöopathie keinerlei Veränderungen im Arzneimittel- und Sozialrecht vorgenommen hat. Damit kann mit Fug und Recht festgehalten werden, dass Deutschland in dieser Hinsicht die europäische „Rote Laterne“ innehat – hinten am letzten Waggon mit der Bremsanlage.
III
Gesundheitspolitische / staatliche Maßnahmen zur Homöopathie im Gesundheitswesen
USA – Federal Trade Commission (US-Verbraucherschutzbehörde) – 2016
„Diese Irreführung der Kunden (Verkauf als Arzneimittel ohne wissenschaftlichen Wirkungsnachweis) könne dadurch beseitigt werden, dass die Hersteller in ihren Begleitmaterialien („marketing materials“) angeben, dass es
keine wissenschaftlichen Belege dafür gäbe, dass das Produkt wirkt und dass sich
die Angaben lediglich auf die Theorien der Homöopathie, die aus dem 18. Jahrhundert datieren, abstützen, die von den meisten modernen medizinischen Fachleuten nicht akzeptiert werden.“
Russische Föderation, Russische Akademie der Wissenschaften / Gesundheitsministerium – 2017
Die „Kommission zur Bekämpfung von Pseudowissenschaften“ am Präsidium der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAS) hat 2017 ein Memorandum „Über die Pseudowissenschaft Homöopathie“ herausgegeben. Die RAS hat auf der Grundlage eines interdisziplinären Fachgutachtens die Homöopathie als Pseudomedizin eingestuft und erklärt, dass künftige Erkenntnisse, die dies revidieren könnten, nicht zu erwarten sei (deutsche Übersetzung hier). Die Homöopathie soll aus allen Ebenen des öffentlichen Gesundheitswesens entfernt werden. Als Maßnahmen wurden dem Gesundheitsministerium zur Umsetzung u.a. vorgeschlagen:
[…] Die postgraduale Ausbildung zukünftiger Ärztinnen und Ärzte hat darauf abzuzielen, diese mit den Grundannahmen pseudowissenschaftlicher Methoden – einschließlich Homöopathie – und der Kritik daran, die zur Einstufung als Pseudowissenschaft führt, vertraut zu machen.
Versicherungen haben sich an die gängige Praxis zu halten, die keine Leistungserbringung für Homöopathie vorsieht.
Kein gleichberechtigter Apothekenverkauf von Arzneimitteln und homöopathischen Präparaten. Homöopathische Medikamente sollten in einer separaten Vitrine vorgehalten werden.
Keine Beratung von Patienten mehr zu homöopathischen Mitteln. Pflichtberatung in Apotheken bei Patienten, die homöopathische Mittel verlangen, dahingehend, dass die Homöopathie nach wissenschaftlichen Kriterien keinen Wirkungsnachweis erbringen konnte.
Verpflichtung der Ärzte zur Information von Patienten über die Wirkungslosigkeit der Homöopathie und ihre Einstufung als Pseudomedizin. Keine Zusammenarbeit mit Organisationen, die weiterhin Homöopathie fördern und verbreiten. Eine Verschreibung homöopathischer Mittel ist als unethisch anzusehen, und zwar auch dann, wenn nur der Placebo-Effekt erreicht werden soll. […]
Australien, Gesundheitsministerium und Verband der Versicherungsanbieter / Pharmaceutical Society of Australia) – 2017
Homöopathie wurde bislang nur innerhalb von privaten Zusatzmodulen zur gesetzlichen Krankenversicherung angeboten. Das australische Gesundheitsministerium und die Versicherungsträger haben sich 2017 darauf geeinigt, Homöopathie-Erstattungen (neben anderen Methoden ohne Wirkungsnachweis) auch im Bereich der privaten Zusatzversicherung nicht mehr zuzulassen. Damit wurde einer Empfehlung des Royal Australian College of General Practitioners(der Allgemeinärzteorganisation Australiens) als Konsequenz aus dem NHMRC-Review von 2015 gefolgt. Die Entscheidung wurde 2019/20 nochmals evaluiert und blieb unverändert.
Gesundheitsministerium und Apothekerverband haben als Fazit einer gemeinsamen Begutachtung erklärt, dass „diese Produkte (Homöopathika) keine Evidenzbasis hätten und ausreichende Beweise für ihre Nichtwirksamkeit bestünden, um aus ethischen Gründen ihren Verkauf in öffentlichen Apotheken auszuschließen. Die Pharmaceutical Society of Australia und andere Berufsvereinigungen haben ergänzend erklärt, dass sie den Verkauf und das Vorhalten von Homöopathika in öffentlichen Apotheken nicht unterstützen.
Nachtrag: Inzwischen hat sich dies im offiziellen PSA Code of Ethics for Pharmaceutics niedergeschlagen. Aufgrund dessen hat die PSA nun Werbetreibenden und Einkaufsgemeinschaften des pharmazeutischen Bereichs dringend empfohlen, in keiner Form für Homöopathika zu werben.
Vereinigtes Königreich, National Health Service – 2017
Der National Health Service (NHS), der Träger des Gesundheitssystems in Großbritannien, hat die Verschreibungsfähigkeit von Homöopathika (und 17 weiteren Mitteln, durchweg pflanzliche Remedia) beendet. Die Regionalorganisationen des NHS erhielten entsprechende „Blacklists“. Der Schritt erfolgte wegen „geringer klinischer Wirksamkeit“ und/oder „geringer Kosteneffizienz“. Speziell die Homöopathie sei „im besten Fall Placebo”.
Der NHS folgt damit einer bereits aus dem Jahre 2009 stammenden Empfehlung des Science and Technology Committee des House of Commons: „Homeopathy should not be funded on the NHS and the MHRA should stop licensing homeopathic products… We conclude that the Government’s policies on the provision of homeopathy through the NHS and licensing of homeopathic products are not evidence-based“).
Spanisches Gesundheitsministerium – 2017
Die spanische Gesundheitsministerin hat den Regionen per Erlass die Erstattung von Homöopathie im Krankenversicherungssystem ausdrücklich untersagt und wiederholte Verstöße der Regionen gegen die entsprechende bisherige Weisung gerügt. Noch bestehende Genehmigungen für Homöopathika-Erstattungen in der Region Valencia (nach dem sog. Königl. Dekret 1/2015) wurden zurückgezogen.
Food and Drug Administration, USA – 2017
Die Food and Drug Administration (FDA), die US-amerikanische Arzneimittelbehörde, hat in einer Pressemitteilung vom 18.12.2017 erstmals Regulationsvorschriften für den Vertrieb und Verkauf von Arzneimitteln ohne Wirkungsnachweis, insbesondere der Homöopathie, angekündigt. Sie erkennt damit ausdrücklich die Risiken an, die damit verbunden sind, dass Patienten Mitteln ohne Wirkungsnachweis auch bei schwereren Erkrankungen vertrauen könnten. Aus der Pressemitteilung:
„Bis vor relativ kurzer Zeit war die Homöopathie ein kleiner Markt für Spezialprodukte. Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist der Markt für homöopathische Arzneimittel exponentiell gewachsen. Dies hat eine Industrie mit einem Volumen von fast 3 Milliarden US-Dollar hervorgebracht, was entsprechend mehr Patienten den potenziellen Risiken aussetzt, die mit der Verbreitung von unbelegten, nicht getesteten Produkten und unbegründeten gesundheitsbezogenen Angaben verbunden sind. […]
Der Leitlinienentwurf ist ein wichtiger Schritt in der Arbeit der Agentur zum Schutz der Patienten vor unbewiesenen und potenziell gefährlichen Produkten. […]“
Schweiz – Einführung der Erstattungsfähigkeit von Homöopathie als „politischer Kompromiss“ ohne Wirksamkeitsnachweis – 2017
Die Situation in der Schweiz stellt einen Sonderfall dar. Derzeit ist die allgemeine Krankenversicherung ermächtigt, Kostenerstattungen für fünf „komplementärmedizinische Methoden“ (darunter die Homöopathie) zu leisten. Dies geschieht jedoch nicht aufgrund von Evidenznachweisen.
Parallel zu einer ersten „probeweisen“ Einführung der Kostenerstattung für fünf „komplementäre“ Methoden (darunter Homöopathie) wurde 1999 in der Schweiz ein Programm zur Evaluation gestartet, von dem die zukünftige Handhabung abhängen sollte (PEK – Programm Evaluierung Komplementärmedizin). Bezüglich der Homöopathie führte dieses Programm zu der unter I.5 gelisteten Studie Shang et al. Diese erbrachte (ebenfalls) keinen belastbaren Wirkungsnachweis für die Homöopathie (sie verursachte jahrelang massive Kontroversen in der Fachwelt, ist bis heute noch Gegenstand von Diskussionen, die Richtigkeit der Gesamtaussage konnte jedoch niemals erschüttert werden). Daraufhin wurde die Erstattungsfähigkeit der fünf Verfahren – einschließlich der Homöopathie – in der Schweiz wieder beendet.
Per Volksentscheid „Für den Erhalt von Komplementärmedizin“ wurde dessen ungeachtet erreicht, die Komplementärmedizin als Teil der Gesundheitsfürsorge in der schweizerischen Verfassung zu verankern. Die Umsetzung dieser Entscheidung nahm erhebliche Zeit in Anspruch und endete in einem politischen „Kompromiss“: In einem „Vertrauensbonus“ für die Komplementärmedizin. Ungeachtet der nach wie vor nicht belegten Evidenz der Wirksamkeit werden seit dem 01.07.2017 pauschal die in Rede stehenden fünf Therapien in den Leistungskatalog aufgenommen und erst dann, wenn Ärzte- oder Patientenorganisationen einen Antrag auf Überprüfung stellen, sollen diese im Einzelfall „auf ihren therapeutischen Nutzen“ untersucht werden.
Die derzeit bestehende Kostenerstattungsfähigkeit für Homöopathie im Schweizer Gesundheitssystem ist also keineswegs ein Beleg für eine anerkannte Evidenz der Methode, wie oft und gern behauptet wird. Die derzeitige Situation in der Schweiz ist mit den Ergebnissen der eigenen Evaluation (Arbeit Shang et al.) unvereinbar.
Die ganze Geschichte dieses langjährigen Prozesses beschreibt das Informationsnetzwerk Homöopathie hier.
Die spanische Gesundheitsministerin hat sich im Interview mit La Vanguardia , klar zur Homöopathie als Pseudowissenschaft positioniert:
„Die Homöopathie ist eine „alternative Therapie“, die wissenschaftlich nicht belegt ist. … Gesundheitseinrichtungen haben die Pflicht, Produkte mit nachgewiesener Wirkung zu verwenden, d.h. Medikamente, die strengen klinischen Studien und Kriterien unterzogen wurden. Wenn homöopathische Arzneimittel wissenschaftliche Nachweise erbringen, werden sie als solche angesehen. Das ist nicht mehr der Fall. … Wir arbeiten mit dem Wissenschaftsministerium an einer Strategie zur Bekämpfung der Pseudowissenschaften. Sobald diese Strategie vorliegt, werden wir Maßnahmen zu einzelnen Methoden / Mitteln vorlegen, aber es ist klar, dass es vordringlich ist, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und aufzuzeigen, welche Produkte für die Gesundheit nützlich sind und welche nicht, und den Schaden zu erklären, den die Entscheidung für eine alternative Therapie anrichten kann.“
„Ab dem 1. Juli (2020) darf ein homöopathisches Arzneimittel nur dann mit einer therapeutischen Indikation vermarktet werden, wenn die Wirksamkeit der Behandlung durch klinische Studien bestätigt wurde. Solche Mittel existieren derzeit jedoch nicht.
Ab dem Stichtag können homöopathische Arzneimittel nur in Ungarn ohne “therapeutische Indikation” vermarktet werden, da ihre Indikation für die auf dem Markt befindlichen Produkte durch eine klinische Studie nicht bestätigt wurde.
Die Werbung für marktfähige homöopathische Arzneimittel wird daher ab dem 1. Juli 2020 möglicherweise nur noch den Etikettentext des Produkts und keine zusätzlichen Informationen enthalten.“
Durch die Änderung des Gesetzes zur Änderung der Rechtsvorschriften über Humanarzneimittel und anderer Rechtsvorschriften zur Regulierung des Pharmamarkts (in Kraft getreten zum 01.01.2020) hat Ungarn das Zulassungsregime für homöopathische Mittel, die mit einer Indikation auf den Markt kommen wollen, verschärft. Solche Mittel müssen nun ausnahmslos mit klinischen Studien auf wissenschaftlicher Basis ihre Wirksamkeit nachweisen. Die zum Stichtag auf dem Markt befindlichen Mittel mit Indikation genießen keinen Bestandsschutz. Im Ergebnis ist nach dem 01. Juli 2020 in Ungarn kein homöopathisches Mittel mehr auf dem Markt, das mit einer Indikationsangabe versehen ist oder werben darf.
In Deutschland würde dies einer Abschaffung des Kerns des Binnenkonsens entsprechen, indem der Kommission D beim BfArM die Möglichkeit genommen würde, indikationsbezogene Zulassungen auf der Grundlage „homöopathischen Erkenntnismaterials“ nach selbstgesetzten Kriterien auszusprechen.
Die Zusammenstellungen unter II und III erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Wir beginnen mit einem Zitat (es werden noch mehr folgen):
“Ich möchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass die durchweg wissenschaftlich ausgebildeten Verfasser “positiver” homöopathischer Studien ein grundsätzlich taugliches wissenschaftliches Werkzeug unter Ausnutzung dessen Schwachstellen diskreditieren. Ein aus wissenschaftlicher Sicht nicht zu akzeptierendes Verhalten.”
So der stets auf den Punkt zielende Excanwahn, ein Freund offener Worte, auf seinem Bullshit-Blog. Genau darum soll es in diesem Beitrag gehen. Durchaus nicht ohne konkreten Anlass:
Einführung
Im Oktober 2020 hat eine Forschergruppe um Prof. Michael Frass (ehemals MedUni Wien) eine auf den ersten und sogar auch noch auf den zweiten Blick unanfechtbar scheinende Studie vorgelegt, die postulierte, dass mit komplementärer individueller homöopathischer Behandlung Verbesserungen bei den Überlebenszeiten und der Lebensqualität von PatientInnen mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs erreicht worden seien.
Dabei handelte es sich keineswegs um die üblichen marginalen (Schein-)Effekte, die sich meist auf eine knappe “Signifikanz” beschränken. Nein, die hier vorgestellten Effekte waren – wenn sie denn real sind – sogar höchst relevant für die PatientInnen.
Angesichts von über 200 Jahren vergeblicher Versuche, eine solche Wirkung belastbar zu belegen, scheint dies “zu schön um wahr zu sein”. Anders ausgedrückt: Gerade wegen dieses Ergebnisses MUSS dieser Arbeit die notwendige Skepsis entgegengebracht werden.
Eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern des Informationsnetzwerks Homöopathie (D) und der Initiative Wissenschaftliche Medizin (Ö) hat sich daher intensiv mit dieser Studie beschäftigt. Die Veröffentlichung eines ersten Analyseberichts scheint zu bestätigen: Die Arbeit von Frass et al. steht unter begründetem Verdacht, keineswegs so valide zu sein, wie es zunächst den Anschein haben mochte. Hier wird es vermutlich noch einigen Fortgang geben.
Dem Analysebericht ist hier nichts hinzuzufügen, diese Angelegenheit gibt mir aber Anlass zu einigen Grundsatzbemerkungen zum Verhältnis homöopathischer Forschung zur evidenzbasierten Medizin.
EbM und Pseudomedizin
Die Homöopathie gilt in breitem wissenschaftlichem Konsens aufgrund ihrer Gesamtevidenz als spezifisch unwirksame Methode – “The debate about homeopathy is over” – so Prof. Edzard Ernst schon 2015. Aus Gründen. In der Realität ist ersichtlich die Debatte aber nicht “over”, das Thema und seine Diskussion sind viral.
Wie ist es der homöopathischen Fraktion überhaupt möglich, eine scheinbar wissenschaftliche Position einzunehmen, darüber eine Dauerdebatte zu befeuern und dabei auch noch in der allgemeinen Wahrnehmung zu punkten? Einfache Antwort: Durch einen regelrechten Missbrauch der Prämissen der evidenzbasierten Medizin – siehe Eingangszitat.
Zunächst ein Zitat aus einem früheren Beitrag auf diesem Blog, der sich übrigens auf eine andere Form der Pseudomedizin bezog:
„Wie auch bei anderen pseudomedizinischen Methoden ohne Grundplausibilität zeigt sich …, wie sehr die evidenzbasierte Methode (die Schaffung belastbarer Evidenz durch Studien) ein Einfallstor für ihr glattes Gegenteil sein kann: für die Scheinlegitimation von Pseudomedizin.
Die vielfach nicht belastbaren Outcomes einzelner Studien oder auch von schlecht durchgeführten Reviews dienen den Proponenten pseudomedizinischer Methoden als wohlfeile Argumentationsgrundlagen, um ihren Methoden den Anstrich des Evidenzbasierten zu geben. Was der normale Rezipient schlicht nicht nachprüfen kann.“
Der nachfolgende Beitrag ist sozusagen die “Langfassung” dieses sehr knapp gefassten Grundgedankens. Etwas ausführlicher vorbereitet habe ich diese Gedanken im Artikel “Das Heu im Nadelhaufen?“, der als eine Art Vorab-Zusammenfassung des Nachfolgenden (und des 2. Teils) gelesen werden kann.
Versuch einer Vereinnahmung
Viele Statements zeigen, wie sehr die homöopathische Sphäre bestrebt ist, sich den Begriff der evidenzbasierten Medizin zu eigen zu machen. Natürlich ist das auch das Ziel der erwähnten Studie von Frass et al. (2020). Auch hier zeigt die homöopathische Interessensphäre ihre Janusköpfigkeit. Einerseits hat sie insofern ein gebrochenes Verhältnis zu kritisch-rationaler Wissenschaft, als sie den breiten wissenschaftlichen Konsens nicht anerkennt, der ihrer Methode keine spezifische Wirksamkeit zuspricht. Andererseits will sie mit ihren eigenen Studien (ein Widerspruch in sich, da es oft heißt, die kritisch-rationale Methode sei der Homöopathie nicht angemessen) die EbM vereinnahmen, sich auf ihre Definitionen und Kriterien berufen und “Evidenz” zu einem Aushängeschild für sich machen.
Homöopathische Bemühungen zielen dabei auf so etwas wie eine “Schwachstelle” der EbM, anders gesagt, sie nutzen vor allem die strenge Fokussierung auf die reine Empirie aus. Ja, es trifft zu, dass die EbM einen evidenten Nachweis von klinischer Wirksamkeit einer Intervention ausschließlich an den Ergebnissen, am Outcome rein empirischer Forschung zur konkreten Problemstellung festmacht, ohne den Kontext gesicherten Wissens im „Umfeld“ des Problems zu berücksichtigen.
Und wirklich ist bei der Bewertung von Evidenz der EbM Plausibilitätsdenken nicht inhärent. Die Feststellung eines klinischen Nutzens, der Evidenz, stützt sie allein auf empirisch-statistische Verfahren. Die EBM setzt grundlegende wissenschaftliche Überlegungen (methodisch-physiologische Überlegungen, Plausibilität) auf eine untere Stufe ihrer Evidenzleiter, noch vor der Expertenmeinung.
Zweifellos hat diese Ausrichtung auf den realen Nutzen einer medizinischen Intervention ihre Meriten. Beispielsweise macht die EbM damit das nach wie vor zu vernehmende Gerede von den “zwei Welten”, die zur Medizin einen “unvergleichbaren Zugang” haben und deshalb “ihr Bestes” nebeneinander koexistieren sollte, obsolet. In meinen Augen ist das einer ihrer größten Vorteile, dass sie derartigen Verirrungen von Wissenschaftsphilosophen oder solchen die glauben, es zu sein, die letztlich einen Angriff auf die Wissenschaft darstellen, die Grundlage entzieht.
Damit scheint jedoch der Sinn für grundlegende Plausibilität, die sich aus elementaren wissenschaftlichen Erkenntnissen ableitet, zu einem großen Teil verloren gegangen zu sein. Reine, reinste Empirie über alles. Die Auswirkungen dieser Entwicklung in eine einzelne Richtung wird gerade deutlich daran, dass die Diskussion über Homöopathie (allzu sehr) auf der Grundlage von “Studien” geführt und “die Evidenzbasierung der Homöopathie” beschworen wird, ohne dass irgendwo jemand ruft, der Kaiser sei doch nackt? Fast ist es schon anrüchig, einfach auf die Unplausibilität der Homöopathie zu verweisen.
Tatsächlich scheint es schwierig zu sein, zu verstehen, dass die EBM sozusagen systembedingt aus dem Gleis laufen kann, wenn es um Pseudomedizin geht. Warum? Man könnte beinahe sagen, weil sie zu gutmütig ist.
EbM und die Plausibilität
Darüber haben klügere Leute als ich schon nachgedacht. Ich neige der Deutung zu, dass die Begründer der EBM schlicht davon ausgingen, Mittel und Methoden würden eh nie das Stadium großer (und teurer) RCTs erreichen, wenn sie sich nicht zuvor durch präklinische Evidenz, in Laborstudien, Tierversuchen und Studien der Pathologie als plausibel erwiesen hätten. Was ja der normale Gang z.B. einer Medikamentenentwicklung ist (bei der allerdings auch unter EBM-Bedingungen – eine “biologische Plausibilität” ganz am Anfang der Präklinik steht, was medizinethischen Geboten geschuldet ist). Unter dieser Perspektive kam es den Göttern der EbM einfach nie in den Sinn, dass etwas so Absurdes wie die Homöopathie überhaupt dahin kommen könnte, in RCTs “geprüft” zu werden – sie erlagen dabei dem “Plausibilitätsbias”, also einer gefühlten Selbstverständlichkeit, die ihnen verwehrte, so etwas überhaupt für möglich zu halten. Vermutlich waren sie sogar der Ansicht, dass insofern die EBM eine wirksame Barriere für das Eindringen unplausibler Methoden in die Medizin sei. Weit gefehlt. Die Homöopathie nahm die Chance wahr und sprang – ohne “Präklinik” – mit ihrem fertigen Gebäude mitten hinein in das Zauberreich der RCTs und ihrer Vielzahl von Problemen. Die man für sich zu nutzen verstand.
Pointiert ausgedrückt wäre zu konstatieren, dass der reine Wirksamkeitsnachweis nach den Kriterien der EbM eine zwar notwendige, aber durchaus nicht hinreichende Bedingung für die Beurteilung der Evidenz einer medizinischen Intervention ist.
Denn trotz aller Meriten dieser Methodik verstellt sie doch allzu leicht den Blick darauf, dass eine im wissenschaftlichen Sinne umfassende Gesamtbeurteilung auch die äußere Konsistenz von Erkenntnissen (die Vereinbarkeit mit anderem gesichertem Wissen), das was wir hier auch als “Plausibilität” bezeichnet haben, einbeziehen muss.
Ich könnte es niemals besser ausdrücken als Steven Novella, der zu diesem Thema längst wesentliche Beiträge geleistet hat. Hier in meiner Übersetzung einige wichtige Passagen aus seinem Grundsatzbeitrag „It’s Time for Science Based Medicine“:
… überall können Sie über Schlangenölheilmittel, zweifelhafte Gesundheitsversprechen, fragwürdige Praktiken und auch über ineffektive Regulierungen und Mängel der Mainstream-Medizin lesen. All dies geschieht […] in der Ära der so genannten “evidenzbasierten Medizin”, deren Zielsetzung es war, den medizinischen Beruf auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen, um jedem Patienten die bestmögliche Versorgung zu bieten. […]
Die EBM hatte zwei Hauptziele: Erstens, die Evidenzbasis für jede klinische Entscheidung zu bewerten und systematisch zu charakterisieren und zweitens, diese Informationen den Praktikern zur Verfügung zu stellen […] EBM ist großartig, soweit sie reicht, aber sie hat einige bemerkenswerte Schwachstellen und hat eindeutig nicht genug dazu beigetragen, Pseudowissenschaften und zweifelhafte Praktiken aus der Medizin zu verbannen. […]
Die größte Schwäche der evidenzbasierten Medizin besteht darin, dass sie sich, wie der Name schon sagt, ausschließlich auf klinische Belege (reine Empirie) stützt, um festzustellen, ob eine Behandlung angemessen ist oder nicht. Das mag vordergründig vernünftig klingen, aber es lässt bewusst einen wichtigen Teil der wissenschaftlichen Beweisführung aus: die Plausibilität.
Als die EBM zum ersten Mal vorgeschlagen wurde, war die Idee, dass Ärzte keine Behandlungen anwenden sollten, nur weil diese nach der Erfahrung „Sinn machen“. Wir brauchen Belege, die zeigen, dass die Behandlungen tatsächlich sicher und wirksam sind. Das ist vernünftig, aber der Lösungsansatz der EBM war, das “Sinn machen” aus der Gleichung komplett zu eliminieren. Jede denkbare Behandlung wurde konzeptionell als „unbeschriebenes Blatt“ unter gleichen Wettbewerbsbedingungen betrachtet – das Einzige, was zählt, sollten die Belege aus der klinischen Erprobung sein.
Durch die Nivellierung der „Spielfelder“ hat die EBM den Haupteinwand gegen die meisten (meist lange bekannten) CAM-Modalitäten gleich mit beseitigt: dass sie höchst unplausibel sind. Vermutlich ist den frühen EBM-Befürwortern gar nicht in den Sinn gekommen, dass jemand ernsthaft eine völlig unplausible Behandlung vorschlagen und versuchen würde, sie wissenschaftlich zu untersuchen. CAM-Befürworter aber waren begeistert von der EBM, weil es ihnen die Möglichkeit gab, ihre Behandlungen mit einem Anstrich von wissenschaftlicher Legitimität zu präsentieren. Sie neigen zu einer Interpretation von EbM in der Weise, dass, wenn man auf irgendwelche Belege verweisen kann (egal wie schwach und widersprüchlich), man für seine Praxis das Etikett “evidenzbasiert” in Anspruch nehmen kann.
[…] Mein Lieblingsbeispiel ist ein Cochrane Review von Oscillococcinum für Grippe / grippale Infekte (Vickers und Smith 2009). Oscillococcinum ist de facto eine Schimäre (“imaginary”), der „Urstoff“ beruht mit größter Sicherheit auf einem Beobachtungsirrtum, und Homöopathie ist völliger Unsinn, so dass die Behandlung damit sozusagen einer mit Feenstaub ähnelt, der bis zum Nichtvorhandensein (out of existence) verdünnt wurde. Wenn etwas mit einer Anfangsplausibilität von Null eingestuft werden müsste, dann dies. Doch die Autoren kamen zu dem Schluss:
‚Obwohl die Daten vielversprechend waren, waren sie nicht stark genug, um eine allgemeine Empfehlung für die Verwendung von Oscillococcinum zur First-Line-Behandlung von Grippe und grippeähnlichen Syndromen abzugeben. Weitere Untersuchungen sind erforderlich, wobei jedoch die Kohortengrößen erheblich sein müssten. Die aktuellen Erkenntnisse stützen keine präventive Wirkung von oscillococcin-basierten homöopathischen Arzneimitteln bei Grippe und grippeähnlichen Syndromen. (Vickers und Smith 2009)‘
Eigentlich wird klar gesagt, dass die Beleglage negativ ist. Dies charakterisieren die Cochrane-Autoren aber sprachlich als “vielversprechend” und empfehlen “weitere Forschung”.
… und niemand ruft “Der Kaiser ist doch nackt!”
Perspektivenkorrektur
Wie legitim und scheinbar einfach wäre es, mit Hinweis auf die Gesamtevidenz bei homöopathischer Forschung auf die begründete negative Gesamtevidenz zu verweisen und zur Tagesordnung überzugehen! Allein, dies tun die Kritiker so nicht. Sie befassen sich wieder und wieder mit den homöopathischen Studien und Forschungsergebnissen, werden nicht müde, diese im Detail zu analysieren und zu widerlegen. Was bringt sie dazu?
Neben der eigenen Redlichkeit bei der kritischen Arbeit vor allem, dass dieses einfache Zurückweisen schlicht nicht funktioniert. Die Homöopathie ist nun einmal ein wirkmächtiges Phänomen, das trotz aller Widerlegungen als solches fortexistiert. Was nicht heißt, dass die Aufklärung zur Homöopathie sich nicht auch der Wirrnis des homöopathischen Gedankengebäudes annehmen und es kritisieren kann (und soll). Im Gegenteil, die fehlende innere und äußere Konsistenz der Lehre ist elementar und vielleicht sogar der wesentlichste Punkt bei der Aufklärungsarbeit. Der “Streit um die Studien” erreicht von Ausnahmen abgesehen ohnehin nicht den / die DurchschnittspatientIn. Der Strom homöopathischer Forschung hört aber nicht auf, so lange es damit gelingt, die öffentliche und auch die politische Reputation dieser längst obsoleten Pseudomedizin zu schützen und zu bewahren. Die kritischen Aufklärer brauchen in ihrem Bemühen, Vernunft und Rationalität Gehör zu verschaffen, ab einem gewissen Punkt die “Entsatzarmee” des Gesetzgebers und des Gesundheitssystems, von denen allein die entscheidenden Schritte kommen können, um der Groteske einer weithin als medizinisch relevant angesehenen Pseudowisseenschaft die Grenzen aufzuzeigen.
Nebelkerzen, Euphemismen und Abzählen
An dieser Stelle rechtfertigt sich ein kleiner Einschub. Es sei auf die von mir schon mehrfach als „euphemistisch” in Richtung pro Homöopathie charakterisierten Zusammenfassungen großer Reviews bzw. Metaanalysen verwiesen, die immer wieder genau im eben von Novella beschriebenen Sinne das einzig zu ziehende Ergebnis vernebeln – was sich dann in den Augen derer, die nach Bestätigung lechzen, auf wundersame Weise in Evidenznachweise verwandelt (siehe die Zusammenfassung zu Teil I im generellen Blogartikel zu den Reviews).
Es geht darum, in den Conclusios der Untersuchungen eine klare Antwort darauf zu geben, ob die Ausgangshypothese bestätigt wurde oder nicht. Es geht nicht um Rumgeeier – gleichwohl findet man solches überall. (Sogar in Cochrane-Reviews, wie wir eben gesehen haben.) Allerdings findet man Euphemismen in besonders ziseliert-kunstvoller Weise vor allem in den Arbeiten von Homöopathen. Die ja bekanntlich nicht einmal davor zurückschrecken, im Vergleich von Studien zur Homöopathie und zur wissenschaftlichen Medizin durch „Abzählen“ positiver, negativer und „unentschiedener“ Resultate eine Art „Wer hat gewonnen“-Spiel um die Krone der Evidenz zu veranstalten. So beispielsweise das Homeopathy Research Institute, nach eigenem Selbstverständnis so etwas wie die Speerspitze der Wissenschaftlichkeit in der Homöopathie. Das ist per se Unsinn – fällt aber wie ein Kartenhaus zusammen, bedenkt man, was dabei wohl mit „unentschiedenen“ Studien gemeint sein soll, wo doch die Antwort aus einer Studie nur lauten kann, ob sich die Ausgangshypothese bestätigt hat oder nicht…? Und gekrönt wird dies meist auch noch mit dem Ruf nach „mehr Forschung“ – wir werden noch davon hören.
Dies zunächst als Einstieg ins Thema – ich weiß, lang. Aber wichtig. Fortsetzung hier.
n jüngster Zeit sind mir wieder Studien bzw. gar zusammenfassende Arbeiten aus dem homöopathischen Universum zu Augen gekommen, die unverdrossen das Lied der Wirksamkeit, ja gar der evidenzbasierten Homöopathie singen. Business as usual, ja. Aber irgendwann…
Gleich zu Beginn die ketzerische Frage: Wozu machen Homöopathen eigentlich ihre Studien? Scheren sie sich um deren wissenschaftliche Bewertung? Nehmen sie zur Kenntnis, dass ihre “Ergebnisse” keinerlei Auswirkungen auf die medizinische Praxis außerhalb des homöopathischen Universums haben? Ja, ziehen sie überhaupt selbst Konsequenzen aus den Ergebnissen ihrer eigenen Studien und Reviews?
Die Antwort ist meiner Ansicht nach auf alle diese Fragen: Nein. Gehen wir die genannten Punkte einmal exemplarisch durch:
Der Versuch von Robert T. Mathie, im Auftrage des Homeopathy Research Institute in den Jahren von 2014 bis 2019 die gesamte Studienlage zur Homöopathie zu reviewen, mündete in einen kümmerlichen Artikel auf der Webseite des HRI, der versucht, die Atemöffnung über der Wasserlinie zu halten, aber dabei in denkbarem Gegensatz zu den meisten (allen?) anderen Statements aus gleichem Hause steht, die der Homöopathie medizinische Relevanz mindestens der wissenschaftlichen Medizin gleichwertig zuschreiben wollen. Aber hier: Kein Jubel, keine Einreichung eines Fazits, eines zusammenfassenden Reports von Mathies Arbeit bei einem der großen medizinischen Journale. Nichts dergleichen, zu einer ganzen Reihe von Arbeiten, die den Anspruch erheben, die gesamte Studienlage zur Homöopathie zusammenzufassen und zu bewerten.
Die Bemühungen der homöopathischen Szene, Therapeuten und Kliniken (und Universitäten / Studierende) für die sanfte, nebenwirkungsfreie und durchschlagende Methode aus ihrem Portfolio zu begeistern, beruhen weit eher auf den Zuwendungen aus diversen Stiftungstöpfen als auf der Überzeugungskraft wissenschaftlich solider Belege pro Homöopathie. Woraus wiederum Renommee und in der Folge wieder die berühmte “Beliebtheit” der Methode als politisches “Argument” abgeleitet werden kann.
Für die homöopathische Praxis sind die teils höchst aufwändig dargelegten, mit großem wissenschaftlichem Apparat daherkommenden Forschungsergebnisse durchweg bedeutungslos. Ein überragendes, aber kein solitäres Beispiel ist die “Münchner Kopfschmerzstudie” aus dem Jahre 1997, konzipiert, durchgeführt und ausgewertet von einer Reihe handverlesener Homöopathie-Experten. Ergebnis: Vernichtend, insofern, als dass Placebo und individuelle Homöopathie keine signifikanten Unterschiede zeigten. Szenenwechsel: Kopfschmerzen sind, ein Blick ins Internet genügt, noch heute unverändert eine der hauptsächlichen “Indikationen” für Homöopathie.
Angesichts dessen sei die Frage erlaubt: Was sind klinische Studien zur Homöopathie denn dann überhaupt (wobei wir hier nicht Beobachtungsstudien meinen, die für Wirkungsnachweise ohnehin nicht geeignet sind)? Wie “wissenschaftlich” sind sie ganz grundsätzlich und wie muss man sie redlicherweise verorten?
“[,,,] Homöopathie erfüllt entscheidende Kriterien für eine als wissenschaftlich anzusehende Methode nicht. Da sie gleichwohl einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, präsentiert sie sich mit einem scheinwissenschaftlichen Anstrich. Sie tut dies mit einer gewissen Virtuosität, was sich darin zeigt, dass einerseits die weltweite Wissenschaftsgemeinschaft sich über die wissenschaftliche Wertlosigkeit der Methode einig ist, andererseits jedoch die scheinwissenschaftliche Mimikry mit Forschung, Studien, Therapiemodellen, Pseudo-Qualifikationen, der Adaption wissenschaftlicher Terminologie und dergleichen ihren Eindruck auf das mit wissenschaftlichen Grundannahmen, ja dem Wissenschaftsbegriff selbst nicht vertraute Publikum nicht verfehlt.“
Was nichts anderes heißt, als dass Forschung zur Homöopathie und ihre Ergebnisse – die Studien – unter einem generell wissenschaftskritischen Aspekt betrachtet werden müssen, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der evidenzbasierten Medizin.
Das dabei grundsätzlich aufscheinende Problem für die Kritik an der Homöopathie sei gleich zu Anfang aufgezeigt, und zwar wiederum mit einem Zitat aus einer Veröffentlichung von Mitgliedern des Informationsnetzwerks Homöopathie:
“Dadurch (durch das ständige Erscheinen immer neuer Homöopathie-Studien und die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit diesen) wird allerdings auch – im Sinne interessierter Kreise – eine Diskussion über die Wirksamkeit der Homöopathie stets neu befeuert und in der Öffentlichkeit als wissenschaftlicher Streit um gleichwertige Positionen wahrgenommen.
Dies kann sich als besonderes Problem der Kritik darstellen, da einerseits diese vorgeblichen Belege pro Homöopathie nicht einfach ignoriert werden können, andererseits durch die Gegenvorstellungen seitens der Kritik dem erwähnten Eindruck einer „Debatte auf Augenhöhe“ ungewollt auch ein gewisser Anschein von Glaubwürdigkeit verliehen wird.“
Ergo: Jede Studie zur Homöopathie, ja, jeder Review, egal welchen Inhalts, hält im Publikum den Irrtum aufrecht, es ginge um ein wissenschaftlich valides Thema, das “noch offen”, “umstritten” und dergleichen sei. Man muss nur ein wenig Öffentlichkeitsarbeit betreiben… fast ist man an den alten Spruch der Werbetreibenden erinnert, dass es negative PR gar nicht gebe. Und wenn es mal nicht so gut läuft, vorzugsweise mit Veröffentlichungen von renommierter und neutraler Seite, so starte man eine Glaubwürdigkeitskampagne und bezichtige die Urheber und deren Umfeld sinistrer Absichten – wie dies in wahrlich bemerkenswertem Umfang mit dem Review des australischen NHMRC geschehen ist, das mit einer jahrelangen Unsinnskampagne über den angeblichen “First Draft” überzogen wurde, der wegen noch angeblicherer positiver Ergebnisse zur Homöopathie “unterdrückt” worden sei.
Ausgerechnet die Methodik der Evidenzbasierten Medizin, die grundsätzlich vom “blank sheet” ausgeht, also unabhängig von Plausibilitäten und Unvereinbarkeiten allein nach dem empirischen “Outcome” klinischer Studien fragt (und damit “jedem eine Chance” gibt), kommt den forschenden Homöopathen dabei entgegen.
Die Homöopathen (gerechterweise: nicht als einzige) missbrauchen die EBM. Denn die Empirie der EBM beruht auf Statistik, und zwar auf keiner trivialen. Allein diese erzeugt eine lange Reihe von Unwägbarkeiten, denen methodische Probleme bei Konzeption und Durchführung von Studien noch vorausgehen. All dies bleibt dem Publikum, dem hinterher mit “der neuen Studie” triumphierend zugewunken wird, verborgen. Dass Studien lediglich “statistische Messinstrumente” sind und ihren Anteil an der “Wahrheit” oft verbergen und nur höchst widerwillig preisgeben, das weiß das – meist ohnehin schon geneigte – Publikum nicht. Und außer diesen ewigen Skeptikern erklärt es ihnen auch niemand. Also wird „nach EBM-Kriterien geforscht“, was das Zeug hält. Und damit Material fürs Cherry-Picking produziert. Aber keine ernsthafte ergebnisoffene Forschung betrieben.
Dabei berufen die Homöopathen sich auch noch explizit auf Sacketts Definition der EBM (deuten sie allerdings z.B. so, dass – was stimmt – schon Expertenmeinungen und Fallstudien “Evidenz” sein können, aber eben nicht, wenn wie in unserem Falle Ergebnisse auf höheren Evidenzstufen vorliegen) und rufen „die evidenzbasierte Homöopathie“ aus. Steven Novella schrieb einmal, kein Mensch sei bei der Konzeption der EBM auf die Idee gekommen, dass sich Proponenten unplausibler Heilslehren erdreisten könnten, überhaupt die Methode des „blank sheet“, der völlig unvoreingenommenen Empirie in der EBM, für ihre Heilslehren in Anspruch zu nehmen.
Ein Irrtum, wie wir heute wissen. Leider ist in der Tat mit der “reinen Empirie” der EBM die wissenschaftliche Plausibilität allzu sehr in den Hintergrund geraten, was aber m.E. vielen Forschern langsam dämmert. Denn die Nichtberücksichtigung von inneren wie äußeren Unvereinbarkeiten (Inkonsistenzen) und Unplausibilitäten ist eine wohlbegründete Methodik innerhalb der EBM, aber doch kein Freibrief, diese in einer wissenschaftlichen Gesamtbeurteilung völlig auszublenden.
Natürlich schreckt man aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit davor zurück, irgendetwas völlig von der Forschung auszuschließen. Aber ebensowenig ist es akzeptabel, die EBM so auf Empirie einzuengen und dabei auch noch alle methodischen und statistischen Möglichkeiten und Grauzonen so zu nutzen, dass es mühsamer Nachschau durch die wissenschaftliche Homöopathiekritik (und ganz gelegentlich der Wissenschaftsgemeinde, wenn die Homöopathen den Fehler machen, in einem wirklich großen Journal zu veröffentlichen) bedarf, um immer wieder darzulegen, dass auch reine Empirie die Homöopathie nicht als wirksam erweist.
Steven Novella und David Gorski (sciencebasedmedicine.org) schlagen z.B. vor, in die statistische Bewertung nicht nur lineare, auf die jeweils einzelne Studie bezogene Faktoren aufzunehmen, sondern auch nach der Bayesschen Methode (Theorem der bedingten Wahrscheinlichkeit) die bisher vorliegende Gesamtevidenz in die Einzelbewertung einfließen zu lassen. Was in der Tendenz zu einem immer realistischeren Bild der Evidenz in wissenschaftlicher Sicht führen müsste (aber auch methodisch wie statistisch korrekte Forschung und deren offene Kommunikation voraussetzt). Dies aber an dieser Stelle nur als Ausblick auf einen Folgebeitrag dazu.
Wir halten fest: Homöopathische klinische Forschung hat per se etwas von einem Ärgernis. Sie dient nicht medizinischer Praxis, erhält fälschlich den allgemeinen Eindruck, Homöopathie habe wissenschaftlich durchaus noch nicht abgewirtschaftet und befördert die Selbsttäuschung der Praktiker, Anwender und Fürsprecher der Homöopathie.
Zur homöopathischen Grundlagenforschung an Hochpotenzen ist bereits an anderer Stelle alles Notwendige gesagt, sei noch hinzugefügt.