Wie wissenschaftliche Zombies in den Bibliothekskatalog wandern
Neulich erreichte mich über die GWUP eine Anfrage, die – wäre man nicht so abgehärtet – für ungläubiges Kopfschütteln gesorgt hätte. Ein Leser war im Wissensportal „Primo“ der TU Berlin auf einen peer-reviewed article gestoßen, der Akupunkturmeridiane als „Interferenzmuster des kohärent ausgesendeten Zellichts“ – also der sogenannten Biophotonen – erklärte. „Wie kann so etwas peer-reviewed sein?“, wollte er wissen.
Klar ist gleich auf den ersten Blick: Akupunkturmeridiane sind medizinische Fiktion, Biophotonen in der Form, wie ihre Protagonisten sie darstellen, ebenso. Ein „wissenschaftlicher“ Ansatz, der das eine mit irgendwelchen Auswirkungen des anderen zu erklären sucht, ist daher per se obsolet – ex falso quodlibet, aus Falschem folgt Beliebiges, wie der Formallogiker weiß. Der zweite Blick führt mitten hinein in ein Grundproblem der heutigen Publikationspraxis – und in den Plot eines wissenschaftlichen Zombies.
Der Artikel stammt aus dem Jahr 2013, erschienen im Journal Frontiers in Optoelectronics, verfasst von einer chinesischen Autorengruppe an einer chinesischen Universität. Obwohl die Prämissen nicht haltbar sind und die Folgerungen aus der Kombination beider zwangsläufig falsch, trägt der Artikel das Siegel „peer-reviewed“.
Wie kann das passieren? Es gibt zwei Erklärungen. Die freundlichere lautet: Gutgläubige Reviewer und Editorial Boards nehmen exotische Grundannahmen der Autoren als gesetzt hin (Fail der unterschobenen Prämisse), prüfen dann nur auf innere Konsistenz der Schlussfolgerungen oder gar nur auf formale Kriterien, nicht auf die Validität des Fundaments. Die weniger freundliche: Manche Journals – zumal aus dem weiten „Open Access“-Kosmos – haben geringere methodische Hürden, wenn das Thema ins eigene Profil passt oder aus bestimmten akademischen Netzwerken kommt. Peer-Review ist nicht unfehlbar, und formale Kriterien lassen sich auch mit inhaltlich schwachen Thesen erfüllen.
Das Problem liegt aber nicht bloß beim Erscheinen – sondern vielleicht noch mehr beim Fortleben. Einmal publiziert, bleibt ein solcher Text im wissenschaftlichen Ökosystem: in Zitationsketten, in Suchmaschinen, in Bibliothekskatalogen. Er wird nicht „entsorgt“, auch wenn er längst widerlegt oder inhaltlich wertlos ist. Selbst renommierte Institutionen wie die TU Berlin können nicht verhindern, dass fragwürdige Inhalte in ihren Beständen landen – die reine Herkunft aus einem „anerkannten“ Journal genügt für die Aufnahme. Q.e.d.
Und selbst wenn ein Artikel zurückgezogen wird, ist sein Zombiedasein nicht beendet. Retraction Watch dokumentiert seit Jahren Fälle, in denen längst revidierte oder zurückgezogene Arbeiten weiter zitiert werden, als sei nichts geschehen – und so das Erkenntnismaterial ganzer Fachgebiete kontaminieren. Eine technische Lösung dafür gibt es bislang nicht. Umso größer ist die Verantwortung der Journale, von vornherein keine unhaltbaren Publikationen durch das Peer-Review zu lassen. Ein frommer Wunsch – aber einer, ohne den das Problem nicht kleiner wird.
Hier entsteht der „Zombie“-Effekt: Solche Arbeiten sterben nicht. Sie wandern still und leise weiter, und für Laien – oder auch für Studierende – kann die bloße Präsenz in einer Universitätsdatenbank wie ein Gütesiegel wirken. Wer ohnehin geneigt ist, an Meridiane oder Biophotonen zu glauben, findet hier eine scheinbar wissenschaftliche, gar zitierfähige Bestätigung.
Genau das macht diese Altlasten gefährlich. Es geht nicht nur um aktuelle Fake News oder frische Pseudostudien. Wissenschaftskommunikation muss auch den Bestand kritisch im Blick behalten – gerade die Veröffentlichungen, die schon lange im Umlauf sind und sich unbemerkt festgesetzt haben. Denn wie bei Zombies gilt: Sie sind schwer totzukriegen. Aber ignorieren darf man sie nicht.
Gelegentlich, doch viel zu selten habe ich darauf hingewiesen, dass die unsägliche TCM mit ihrem Aushängeschild Akupunktur von der chinesischen Regierung schon lange als Exportartikel promoted wird, um sich in den westlichen Gesundheitssystemen zu etablieren. Der größte Erfolg in dieser Hinsicht dürfte sein, dass TCM-Diagnosekriterien Aufnahme in einem eigenen Hauptabschnitt in der bald in Kraft tretenden Neufassung des ICD (International Classification of Diseases) der WHO gefunden haben. Das ICD-Manual ist weltweit in Gebrauch und in manchen Ländern maßgeblich dafür, was das Gesundheitssystem anerkennt. Mahlzeit.
Schon 2014 hatte sich die WHO zu „traditioneller Medizin“ einschließlich TCM und Homöopathie in einem Strategiepaper für die Jahre 2014 – 2023 sehr wohlwollend geäußert. Dazu ist es interessant zu erfahren, dass das National Institute of Complementary Medicine in Australien dieses WHO-Paper in den Himmel gehoben und massiv promoted hatte. Seine eigenen Aktivitäten bewarb es allen Ernstes als „direkt von der WHO in Auftrag gegeben“. In Beijing dürfte darauf das eine oder andere Gläschen Moutai geleert worden sein …
Was steckte dahinter? Es stellte sich heraus, dass ein Mitarbeiter des NICM, der kanadische Naturheilkundler Michael Smith, einer der Verantwortlichen für die Ausarbeitung dieses WHO-Berichts war. Man muss sich das also mal vorstellen. Die WHO ist also so unkritisch in Sachen „traditionelle Medizin“ gewesen, dass sie es zuließ, einem Heilpraktiker (ich verwende diesen Begriff hier einmal) Mitverantwortung bei der Veröffentlichung eines äußerst wichtigen WHO-Strategiedokuments zu übertragen. Was die Präsenz von TCM in Australien etwas bremsen, aber nicht aufhalten konnte. Von dem Rückenwind durch das ICD-11 ganz zu schweigen. Wer übrigens so etwas wie Evidenzbelege in diesem 76-Seiten-Paper unter der Flagge der WHO sucht, der sucht vergebens.
Schlimm genug (nach meiner Einschätzung eine Folge der chinafreundlichen Haltung der langjährigen WHO-Präsidentin Margaret Chan, eine Geschichte für sich).
Nun treten die Inder auf den Plan und beglücken afrikanische Staaten mit ihrem AYUSH-Unsinn. Ich setze mal voraus, dass bekannt ist, was AYUSH darstellt? Ein seit 2014 existierendes Parallel-Gesundheitsministerium für die „traditionellen Medizinen“ Indiens, wozu bemerkenswerterweise auch die Homöopathie gerechnet wird (das „H“ am Ende). Dieser Laden und das „echte“ Gesundheitsministerium stehen sich einigermaßen unversöhnlich gegenüber, kein Wunder. Nur: der Hintergrund der Installation von AYUSH war die ausgesprochen nationalistisch angelegte indische Politik seit dem Regierungswechsel 2014, die den Laden nach wie vor trägt – und in jeder Hinsicht bevorzugt. Zu Lasten der Chance, wenigstens eine minimale Gesundheitsinfrastruktur auf wissenschaftlicher Basis aufzubauen.
Unvergessen, wie AYUSH seine Mittel – auch und gerade die Homöopathie – in der Pandemie breit promotete und auch die Falschmeldung verbreitete, Prinz Charles habe seine COVID-Infektion mittels Ayurveda, Homöopathie und der Verhaltensempfehlungen von AYUSH überwunden …
Aktuell ist zu vernehmen, dass AYUSH in Afrika Kampagnen gestartet hat, um Ayurveda dort auf breiter Front zu promoten. Was mich persönlich an die unsäglichen „Homöopathen ohne Grenzen“ erinnert, die seinerzeit dort aufliefen, um Ebola mit Globuli zu behandeln … und vom offenbar aufgeklärten Westafrika gleich wieder nach Hause verfrachtet wurden. Bemerkenswert ist zudem, dass in Indien selbst AYUSH zwar durchaus eine starke Stellung (Rückenwind von ganz oben) hat, aber vom „echten“ Gesundheitsministerium und der Indian Medical Association mit allen Mitteln immer wieder in die Schranken gewiesen wird – soweit möglich.
Leider ist Westafrika offenbar kein aktuelles Modell im Umgang mit international tätigen Promotern von Pseudomedizin. Wie „Medical Dialogues“ berichtet, macht ausgerechnet AYUSH in Afrika „Fortschritte“.
Sarbananda Sonowal, der AYUSH-Minister der indischen Union, macht gewaltige Ankündigungen. Glaubt man ihm, werden seine Heilslehren bald „global eine große Rolle in den Gesundheitssystemen spielen“ und das gleich „zum Wohle der ganzen Menschheit“. Dies alles mit massivem Rückenwind von Regierungschef Narendra Modi. Man kooperiere bereits mit „über 50 Staaten“. Und der Hinweis auf die angeblichen Erfolge von AYUSH in der Pandemie darf natürlich auch nicht fehlen. Ich vermute mal, die bestanden in einer beklagenswerten Zahl unnötig Verstorbener und Erkrankter.
Und die allfällige Anekdote gibts natürlich auch. Die Tochter des früheren Premierministers von Kenia habe ihr Augenlicht nach einer Behandlung in einer ayurvedischen Klinik in Kerala wiedererlangt. Natürlich beeilte sich der Vater mit Danksagungen in Richtung Indien und wird vermutlich bei denen sein, die die Bemühungen von AYUSH unterstützen, die Gesundheitsversorgung in Afrika noch schlechter zu machen als sie eh schon ist.
Nein danke. Wir sehen, was der Antrieb für unwissenschaftlichen Unsinn sein kann: in diesem Falle nationale Verblendung kombiniert mit wirtschaftlichen Interessen. Nicht so fernliegend, wir wissen auch hierzulande sehr gut, wie völkisches Gedankengut und „alternative Medizin“ sich ergänzen können. Und wohlgemerkt: ich beklage hier nicht mit überheblichem Ton irgendwelche „Rückständigkeit in fernen Ländern“. Ich beklage, dass von Indien und China, machtvollen und einflussreichen Ländern, mit tatkräftiger Mithilfe der WHO weltweit sinnlose Pseudomedizin angedient wird.
OB sich die Chinesen den TCM-Markt in Afrika wohl streitig machen lassen werden? AYUSH kann immerhin keine Adelung durch das ICD-11 vorweisen … Und die Chinesen sind ja durch ihr massives landgrabbing in Afrika dort längst präsent, längst ist die Rede von einer „neuen Kolonialmacht“.
Neokolonialismus in unerwarteter Form. Mich wundert auf dieser Welt gar nichts mehr. Es sei aber auch nicht verschwiegen, dass so etwas nur möglich ist, weil der Westen viel, viel zu wenig getan hat, um in den bedürftigen afrikanischen Staaten grundlegende Strukturen von Gesundheitssystemen zu fördern. Ein Symptom dafür ist auch die Covid-Durchimpfungsrate auf dem afrikanischen Kontinent von ganzen 18 Prozent (davon 5 Prozent unvollständig geimpft, Stand 22. Februar 2022) … Dazu muss man wissen, dass das ohnehin schleppende COVAX-Projekt der WHO, mit der die Impfung in die Entwicklungsländer gebracht werden soll, ohnehin nur das bescheidene Ziel einer Impfung von 20 Prozent der jeweiligen Bevölkerung hat.
Eine Welt, geprägt von Aufklärung und Humanismus? So sicher nicht …
Da kommt auch auf uns hier noch einiges zu an unsinnigem und gefährlichem Pseudokram mit viel Rückenwind. China und vielleicht auch Indien werden sich den lukrativen Pseudomedizin-Markt hierzulande nicht entgehen lassen – die TCM ist ja längst irgendwie präsent und die Akupunktur sozusagen dabei, die „zweite Homöopathie“ zu werden – allgemein positiv konnotiert, aber evidenzfrei. Dass gerade die deutschsprachigen Länder für solche Sachen höchst empfänglich sind, wissen wir zur Genüge.
Danke fürs Lesen bis zum Schluss. Es sei aber auch auf die im Text enthaltenen Links hingewiesen. Es sind ziemlich viele, teils lang, manchmal auf Englisch, aber sehr erhellend. Das Thema ist insgesamt noch viel größer, als ich es hier anreißen kann.
Dieser Artikel erschien auch leicht abgewandelt unter dem Titel „Die Flut der Pseudomedizin“ beim Humanistischen Pressedienst.
Bei Univadis ist ein Beitrag zu einer (weiteren) Akupunktur-Studie aus China erschienen, in dem darüber gerätselt wird, warum bloß in dieser Arbeit so signifikante Unterschiede zwischen Kontroll- und Behandlungsgruppe zugunsten der Letzteren ausgewiesen werden. Das weckt ein durchaus berechtigtes Misstrauen. Aber die rein medizinstatistisch-numerische Betrachtung des Outcomes führt die Hardcore-Evidenzler und die Medizinstatistiker leicht in den Wald, in dem man die Bäume nicht mehr sieht.
Dabei genügt ein kritischer Blick in das Abstract der Studie, um zu erkennen, dass es sich nicht nur mal wieder um eine “typische” Akupunktur-Studie ohne Beweiswert handelt (Steven Novella hat bei Science Based Medicine schon oft solche “typischen” Designs beschrieben, ebenso Edzard Ernst auf seinem Blog), sondern sogar um eine, die gegen die Akupunktur spricht. Dabei will ich gar nicht den Aspekt einbeziehen, dass bekanntermaßen Studien zu TCM und Co. aus China große Reserviertheit entgegengebracht werden muss – weil solche Studien nahezu ausschließlich positive Ergebnisse produzieren. Das deutet darauf hin, und das ist nicht nur meine Ansicht, dass hier mindestens ein gewaltiger Publication bias am Werke sein muss (nicht genehme Arbeiten bleiben schlicht in der Schublade, statt veröffentlich zu werden – deshalb auch drawer problem genannt).
Und was ist nun die Sicht auf den Wald und nicht die Bäume? Ganz einfach!
Es wurde auf der einen Seite klassischer Akupunktur (mit dem ganzen Meridian- und Punktezauber, der vor kurzem erneut als Schimäre entlarvt wurde) und Sham-Akupunktur (scheinbare Nadelsetzungen an beliebigen Punkten, die diesmal besonders aufwändig und “unauffällig” für den Patienten ausgeführt wurden) mit einer sogenannten “Standardbehandlung” andererseits verglichen. Die bestand zu meinem nicht geringen Erstaunen nicht etwa in bewährten Medikamentengaben wie Triptanen, sondern schlicht und einfach in Lebensführungsratschlägen. Echt. Und was da geratschlagt wurde, das darf ich mir gar nicht ausmalen… Keine Schokolade? Kein Rotwein? Keine Schwalbennester zum Frühstück…? Egal.
So. Nun kam man erst einmal zu dem Ergebnis, dass klassische und Scheinakupunktur zu den gleichen Ergebnissen führten (korrekter: dass es dort keine signifikanten Unterschiede gab). Zitat: “No significant difference was seen in the proportion of patients perceiving needle penetration between manual acupuncture and sham acupuncture (79% v 75%; P=0.891)“. Dass passiert andauernd in Akupunktur-Studien und ist eigentlich Anlass, an dieser Stelle aufzuhören und zu sinnvoller Forschungstätigkeit zurückzukehren. Warum?
Nun, ganz einfach, das ist der letztlich nichts anderes als ein Beleg dafür, dass Akupunktur nichts Spezifisches als Methode, die über Kontexteffekte hinausgeht, leistet. Dass ihr, wie z.B. auch der Homöopathie, eine “intrinsische” Wirkung nicht zugesprochen werden kann. Speziell auch, dass der ganze Meridian- und Punktezauber Hokuspokus ist, denn das soll ja gerade das “Spezifische” an der Akupunktur sein, damit steht und fällt sie per definitionem. Und dass die These, Akupunktur sei “Theatrical Placebo”, sich ein weiteres Mal bestätigt. Sogar ganz massiv, weil hier ja besondere Mühe auf die patientenseitige Verblindung der Sham-Akupunktur gelegt wurde, was eindrucksvoll die Validität der “gleichwertigen” Ergebnisse bestätigt. Unbestritten sind die Kontexteffekte (darunter Placebo) bei einem so intensiven “Setting” wie bei der Akupunktur besonders ausgeprägt. Wobei noch dazu kommt, dass im asiatischen Kulturkreis die positive Erwartungshaltung gegenüber solcher Behandlung wohl noch weit höher ausgeprägt ist als im westlichen Kulturkreis.
Was tut man nun, wenn die eigene Studie mal wieder bei dieser Trivialität gelandet ist? Wie rettet man seine Arbeit und rechtfertigt eine Veröffentlichung?
Man vergleicht das Ergebnis (interessanterweise das zusammengefasste Ergebnis aus “echter” und Schein-Akupunktur) mit einer “Kontrollgruppe”, die schlicht und einfach – gar nichts zur Behandlung bekommen hat. Was man hier “Standardbehandlung” nennt, ist nämlich: gar nichts. Die Standardbehandlung bei der Migräneprophylaxe ist heute wahrlich nicht eine “Lebensstilberatung” – das ist ein Begleitaspekt, der auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse die belegte Wirkung von Mitteln zur Akutbehandlung (z.B. Triptane) wie (in Grenzen, derzeit intensiv beforscht) zur Prophylaxe ergänzt. *) Mehr nicht.
Und auf dem doch logischerweise klar erwartbaren “Unterschied” im Outcome einmal der Summe der beiden Akupunkturgruppen mit ihren üblichen, aber unspezifischen Effekten und auf der anderen Seite einer “Nichtbehandlung”, darauf beruht das so eindrucksvoll erscheinende “starke” Ergebnis dieser Studie. Was für eine Spiegelfechterei. Mal wieder, ist man geneigt, als Leser sehr vieler Akupunktur-Studien zu seufzen. Denn das ist ein alter Hut.
So bleibt es dabei – der Outcome der Studie ist wertlos als Wirkungsnachweis für Akupunktur, aber wertvoll, weil er einmal mehr die Unspezifität der Nadelstecherei nachweist. Aber den “Vergleich” mit einer als “Standardtherapie” ausgewiesenen Nichtbehandlung als Krücke dafür, einen scheinbar bemerkenswerten Output zu produzieren – das finde ich schon dreist.
Diese Arbeit ist also nichts anderes als – Sham Research. Ach halt – kann man ja so auch nicht sagen. Sie spricht bei richtiger Betrachtung gegen eine spezifische Wirkung der Akupunktur. Aber dazu hätte es dieser Arbeit nicht bedurft. Und liebe Medizinstatistiker und Hardcore-Evidenzler ohne Sicht auf Gesamtevidenz und Plausibilität – ihr seid schon auf der richtigen Fährte mit den allzu großen Effekten, die euch hier zu denken geben. Ihr müsst aber auch richtig abbiegen.
Kürzlich hatte ich hier aus gegebenem Anlass dargelegt, dass die Beurteilung der Evidenzlage (nicht nur) für Akupunktur sich aus der Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnisse ergibt und nicht aus Cherrypicking und / oder irgendwelchen Einzelarbeiten. Auf Twitter hat sich zum Beitrag eine Diskussion entsponnen, die leider einmal mehr zutage gefördert hat, dass man teils einfach vor Wände zu reden scheint.
Mit größter Überzeugung wurde hier anhand eines einzelnen Reviews dargelegt, dass die Kritik an der Akupunktur nun doch wirklich gänzlich verfehlt, von gestern und sowieso nur von Voreingenommenheit geprägt sei. Präsentiert wurde dazu die Publikation Zhang XC et al. Acupuncture therapy for fibromyalgia: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. J Pain Res. 2019 Jan 30;12:527-542. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30787631/)
In dieser Diskussion auf Twitter versammelte sich nun mit der Gewissheit einer durchschlagenden und unwiderlegbaren Position genau das, dem ich eigentlich entgegenwirken wollte: Evidenz wird an einer einzelnen Arbeit festgemacht – und in großer Selbstüberzeugung gleich der Vorwurf der Voreingenommenheit erhoben. Werfen wir einmal einen kritischen Blick auf diese Publikation:
Diese Arbeit kommt zu einem höchst euphemistischen Ergebnis (Acupuncture therapy is an effective and safe treatment for patients with FM, and this treatment can be recommended for the management of FM.) Oha! Dies sollte nun aber außergewöhnlich gut belastbar sein.
Es handelt sich um ein Review in Form einer Literaturrecherche, die zum Thema zwölf RCTs (randomisierte verblindete Studien) herangezogen hat. Angesichts der tausenden von Studien (natürlich nicht nur zur Fibromyalgie, aber diese Indikation ist eine sehr bevorzugte für Akupunktur-Untersuchungen) scheint dies nicht sehr viel.
Die Studie stammt von chinesischen Forschern. Nicht nur mir fällt längst auf, dass Arbeiten von dort zum Thema Traditionelle Chinesische Medizin ausnahmslos positiv bis euphorisch ausfallen. Edzard Ernst hat dazu bereits mehrfach Stellung genommen, unter anderem hier. (Die Hintergründe dieses Phänomens wären auch mal einen eigenen Artikel wert.) Die Reputation dieser Arbeiten stärkt das nicht. Es ist kein Vorurteil, hier höchst zurückhaltend bei der Bewertung zu sein.
Soweit aus dem Abstract entnehmbar – es steht ausdrücklich so drin – ging es durchweg um den Vergleich von klassischer und Sham-Akupunktur. Seufz. David Gorski und Steven Novella haben schon anlässlich etlicher Arbeiten dargelegt, dass bei so etwas nur zwei Placebos miteinander verglichen werden und deshalb alles, was dort herauskommen mag, egal wie statistisch signifikant es aussieht, niemals ein Beleg für eine Spezifität der Akupunktur ist (“essentially a competition between two placebos” – hier nur ein Beispiel).
Durchweg sind Studien mit sehr geringen Teilnehmerzahlen ins Review aufgenommen worden (davon ablenken soll wohl die Angabe, man habe „Studien mit mehr als 10 Teilnehmern“ inkludiert, so kann man das auch ausdrücken). Der small study bias, der ein großes Risiko großer Überzeichnungen von Effekten mit sich bringt, dürfte hier einzurechnen sein, ebenso wie der im Falle der Akupunktur so offensichtliche publication bias, die Nichtveröffentlichung negativer Ergebnisse.
Es werden zudem Methoden (manuelle klassische Akupunktur / Elektroakupunktur) miteinander vergleichen, bei denen sehr fraglich ist, ob es sich überhaupt um Vergleichbares handelt.
Dies nur auf einen flüchtigen Blick. Man darf unserem Twitter-Freund sicher attestieren, sich aktiv für die Problematik zu interessieren, er tappt aber in die immergleiche Falle, die uns aus der Homöopathie auch so bekannt ist: Evidenz in einzelnen Arbeiten (zu denen auch kleinere und insbesondere indikationsbezogene Reviews mit sehr selektiver Studienauswahl zu zählen sind) zu suchen, sich keinen Überblick über die Gesamtstudienlage zu verschaffen, auch, die Grundplausibilität nicht zu hinterfragen.
Ich nehme wahrlich nicht in Anspruch, die Weisheit mit Löffeln aufgenommen zu haben. Aber mir ist jedenfalls klar, was bei der Suche nach Evidenz zu vermeiden ist. Bei der Homöopathie ist es nicht anders. Zugegeben – die Homöopathie darf man sicher als “die absurdeste von allen alternativen Methoden der Medizin” bezeichnen (so geschehen auf dem EU-Wissenschaftskongress 2018 in Toulouse) – das liegt für den kritischen Betrachter sozusagen auf der Hand. So “einfach” ist es bei der Akupunktur nicht, da sie nicht mit offenkundigem “Nichts” arbeitet. Es geschieht “etwas”, das nicht ohne Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Patienten und Therapeuten bleiben kann. Hier herauszuarbeiten, ob und wie man eine Spezifität der Methode gegenüber Placebo- und Suggestionseffekten belegen könnte, ist nicht trivial. Was auch erklärt, weshalb in der Anfangszeit des neueren Akupunktur-Hypes jede Menge scheinbar positiver Ergebnisse auftraten: Weil man sich um die Frage der Spezifität ebenso wenig scherte wie um die historischen Hintergründe und die Plausibilität. Heute sind wir aber sehr viel weiter, auch hierzu verweise ich auf den früheren Akupunktur-Artikel. Dass dem von interessierter Seite – und die ist bei der Akupunktur nicht gerade ein kleines Häuflein – entgegengearbeitet wird, ist sozusagen evident. Was die Skepsis weiter erhöht.
Dem Nichtspezialisten, ob Mediziner oder nicht, bleibt dabei die ebenso schlichte wie wirkungsvolle Frage: Wo ist der Beweis? Diese zu stellen habe ich auch in Zukunft vor und empfehle auch dem geneigten Leser, vor allem nicht der Schwalbe zu vertrauen, die ganz sicher mitten im Winter keinen Sommer machen wird (man verzeihe mir diese Metapher zu dem “Beweisversuch” mit der chinesischen Studie). Ich bin doch kein Alleswisser, wahrlich nicht, ebensowenig gefeit gegen Wahrnehmungsfehler und Vorurteile. Aber ich versuche, nicht dem schnellen, unkritischen, auf Bestätigung hinauslaufenden Denken (Kahneman) zu erliegen. Und irgendwie mag ich nicht damit aufhören, auch wenn es manchmal nur von sehr beschränktem Erfolg gekrönt zu sein scheint. Denn irgendwie macht es manchmal trotzdem Spaß…
Gestern – am 21.02.19 – veröffentlichte das WDR-Wissenschaftsmagazin “Quarks” einen Videobeitrag und den zugehörigen Text unter dem Titel “Akupunktur ist mehr als Placebo”. Wohlgemerkt, das mit einem wissenschaftlichen Anspruch antretende TV-Magazin “Quarks” tat das, nicht das Zentrum der Gesundheit oder der Zentralverein der deutschen Pseudomediziner.
Nein, Akupunktur ist NICHT mehr als Placebo (worunter ich in diesem Falle mal “unpräzise” die Gesamtheit der non-specific-Effects, aller Kontexteffekte, einschließlich der hier relevanten Suggestiveffekte verstehe), darüber besteht in der seriös-kritischen wissenschaftlichen Gemeinde kein Dissens. Was Quarks in der Diskussion auf Facebook für eine Haltung gegenüber einer Vielzahl fundierter und belegter Einwände demonstrierte, das hat mich mehr verstört als der Beitrag selbst.
Akupunktur ist eine typische “Gemengelage”. Hier kommen viele Aspekte zusammen: Falsche historische Bezüge, soziokulturelle Gegebenheiten, New-Age-Gedankengut, die üblichen Euphemismen von der “sanften” Medizin und pures Nichtwissen. Das Aufstreben der Akupunktur seit den 1970er Jahren ist geprägt von dieser Gemengelage (auf die frühe Rezeption im Westen schon seit dem 17. Jahrhundert gehe ich in diesem Zusammenhang nicht weiter ein). Die bis heute anhaltende Akupunktur-Welle wurde ausgelöst vom Bericht des Journalisten James Reston, der den damaligen US-Präsidenten Richard Nixon auf seiner China-Reise begleitete und der dort nachoperativ (nach einer Blinddarmentfernung) mit Akupunktur behandelt wurde. Davon war er so angetan, dass er dies als eine Art Wunder in etlichen Artikeln berichtete. Dies traf auf die New-Age-Stimmung der damaligen Zeit und löste einen Hype aus, der erst zu einem Pilgerzug nach China führte, dann auch die Hürde zur ernsthaften medizinischen Forschung überschritt und – erwartbar – zunächst scheinbar belastbare Evidenz pro Akupunktur zutage förderte. Genau die unsägliche Vermischung von Spekulation mit unkritisch angewandter evidenzbasierter Methodik, die mir schon länger suspekt ist, auch auf anderen Gebieten.
In der Tat. Wie auch bei anderen pseudomedizinischen Methoden ohne Grundplausibilität zeigt sich hier, wie sehr die evidenzbasierte Methode (die Schaffung belastbarer Evidenz durch Studien) ein Einfallstor für ihr glattes Gegenteil sein kann: für die Scheinlegitimation von Pseudomedizin. Quarks gab mit seinem Beitrag und vor allem mit der unsäglichen Diskussion auf seiner Facebook-Seite hierfür ein bedauerliches Beispiel.
Was meine ich damit? Nun, mehr oder weniger wird durch die wissenschaftliche Untersuchung nach den Methoden der evidenzbasierten Medizin von vornherein eine Legitimation dessen suggeriert, was sich die Wissenschaft da “vornimmt”. Wenn wissenschaftliche Studien durchgeführt werden, dann muss doch was dran sein, denkt sich Otto Normalpatient. Das wäre nun noch nicht so gravierend. Aber es kommt noch mehr dazu:
Belastbare Outcomes (Ergebnisse) von Studien sind nur bei höchster Qualität von Studiendurchführung und -design zu erwarten. Es ist bekannt, dass selbst auf den ersten Blick nicht erkennbare Unzulänglichkeiten in Studien (z.B. mangelnde Verblindung, Bildung von Gruppen, die für eine Vergleichbarkeit ungeeignet sind) den Outcome nahezu ins Gegenteil verzerren können. Und dies geschieht. Besonders bei Studien zu pseudomedizinischen Methoden, die meist einen confirmation bias schon deshalb haben (vom publication bias wollen wir gar nicht reden), weil sie im Grunde nicht ergebnisoffen, sondern als eine Art Bestätigungsforschung durchgeführt werden. Und diese vielfach nicht belastbaren Outcomes einzelner Studien oder auch von schlecht durchgeführten Reviews dienen den Proponenten pseudomedizinischer Methoden als wohlfeile Argumentationsgrundlagen, um ihren Methoden den Anstrich des Evidenzbasierten zu geben. Was der normale Rezipient schlicht nicht nachprüfen kann.
Dies ist ein weites Feld und soll hier auch nur angerissen werden. Und zwar deshalb, weil Quarks uns genau hierfür ein Musterbeispiel geliefert hat.
Trotzdem zur Verdeutlichung dessen, was ich meine, eine kleine Geschichte (eher Parabel) – sie stammt von einem der Urväter des kritisch-skeptischen Denkens, von Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657 – 1757) und ist sehr illustrativ:
Im Jahr 1593 lief das Gerücht um, dass einem siebenjährigen Jungen in Silesia ein goldener Backenzahn an der Stelle eines ausgefallenen Milchzahns gewachsen war. Horatius, Medizinprofessor an der Universität von Helmstadt, schrieb 1595 eine “Historia” über diesen Zahn und führte darin aus, dass es sich teils um ein natürliches, teils um ein mirakulöses Ereignis gehandelt habe, das offenbar von Gott zu diesem Kind geschickt worden sei, um die Christenheit angesichts der Bedrohung durch die Türken zu einigen. Man möge sich vorstellen, was für einen Trost für die Christenheit einerseits und welche Beängstigung für die Türken andererseits dieser Vorgang mit sich bringen mochte. Um in der Sache des Zahnes die historische Wissenschaft nicht zurückstehen zu lassen, schrieb Rollandus sein großes Geschichtswerk noch im gleichen Jahr um. Zwei Jahre danach nahm Ingolsteterus, ein ebenfalls gelehrter Mann, scharf Stellung gegen die Ausführungen von Rollandus zum goldenen Zahn, worauf Rollandus wiederum eine wohlformulierte und scharfsinnige Replik verfasste. Ein weiterer Gelehrter, Libavius, kompilierte das bis dahin Geschriebene in dieser Sache und fügte seine eigene Sicht der Dinge hinzu. Nichts war an all diesen großartigen Büchern zu bemängeln, abgesehen davon, dass bislang nicht geklärt war, ob der Zahn tatsächlich aus Gold bestand. Als ein Goldschmied die Sache untersuchte, fand er heraus, dass es sich nur um eine dünne Goldfolie handelte, die kunstvoll auf dem Zahn angebracht worden war. Fazit: Sie fingen alle an, gelehrte Bücher zu schreiben, konsultierten aber erst danach den Goldschmied…
(nach Fontenelle: Entreriens sur la Pluralité des Mondes suivi de Historie des Oracles)
Ich finde, das illustriert sehr gut, wie schnell die Schranke zur “Verwissenschaftlichung” unplausiblen und / oder unbelegten Unsinns überschritten werden kann. Kluger Mann, dieser Fontenelle.
Die Einzelstudien zur Akupunktur sind kaum überschaubar, selbst an Reviews gibt es eine Menge. Trotzdem wissen wir seit geraumer Zeit (man kann sagen, seit Ende der 1990er Jahre), dass sich ein klares Muster bei den Studien abzeichnet, vor allem, seitdem sie kritisch betrachtet, nach Qualität selektiert und ihre Ergebnisse in der Community diskutiert und geradegerückt werden. Gerade bei Akupunkturstudien gibt es geradezu einen Katalog von typischen Design- und Durchführungsfehlern, die in leichten Abwandlungen immer wieder auftauchen. Ich werde irgendwann noch einmal näher darauf eingehen. Es ist aber festzuhalten, dass “Cherrypicking” im Meer der Akupunkturstudien eine leichte Übung ist – anders als das Herausarbeiten der tatsächlichen Evidenzlage. Letzteres ist aber auch keineswegs unmöglich, sondern setzt nur eine gewisse Recherchefähigkeit und kritisches Herangehen an die Sache voraus.
Man muss also, um eine gültige Aussage zum wissenschaftlichen Stand der Akupunktur treffen zu können, das “Muster” erkennen können, das sich aus einer kritischen Gesamtbetrachtung der gesamten Studienlage zur Akupunktur ergibt. Und dieses Muster ist vorhanden und inzwischen ziemlich klar: Nirgends ergeben sich relevante Unterschiede zwischen Akupunktur und Scheinakupunktur (auch nicht beim Pieksen mit einem Zahnstocher …). Eine reaktive Variable ist offenbar vor allem, wenn nicht allein, der Grad der Zuwendung des Therapeuten im Setting. Woraus folgt: Wenig bis nichts spricht für eine spezifische Wirkung. Akupunktur ist Placebo. Ein Placebo besonderer Art, sicher, mit einem hohen Suggestivfaktor, zutreffend “Theatrical Placebo” genannt, in dem gleichnamigen Artikel von Steven Novella und David Calquhoun in ihrem Aufsatz in “Anaesthesia and Analgesia” von 2013.
Eine spezifische, auf die Methode selbst (intrinsisch) zurückzuführende Wirkung hat Akupunktur nicht. Ihre Grundannahmen von “Qi” und “Meridianen” bestehen aus dem schon erwähnten Wust von soziokulturellen Missverständnissen, Bedingtheiten und Wunschvorstellungen. Nicht einmal den Wunsch nach “östlicher Weisheit” erfüllt all dies. Es ist längst – anthropologisch und medizinhistorisch – belegt, dass diese vitalistischen Vorstellungen sehr eng mit solchen der nahöstlichen und früheuropäischen Kulturen korrelieren und die “östliche Weisheit” darin eine Illusion ist, die von heutigem Wunschdenken beflügelt wird.
Auf diese Umstände hingewiesen und auf die Forschung von Ted Kaptchuk, der nach langjähriger Beschäftigung mit TCM und Akupunktur zu dem Schluss kam, dies alles könne nur Placebo sein, antwortete Quarks allen Ernstes mit einer Handvoll Einzelnachweise, die nun wirklich mit einer wissenschaftlichen Gesamtschau auf die Akupunktur nichts zu tun haben, ja, teils nicht einmal die behaupteten Schlüsse überhaupt zuließen. Eine dieser “Quellen” war zudem ein tendenzieller Besinnungsaufsatz in einem Akupunktur-Journal – was für ein Evidenzbeleg…
Keinen Millimeter ist Quarks in der langen Diskussion von seiner Grundposition abgewichen, Akupunktur sei “mehr als Placebo” – mit anderen Worten, verfüge über nachgewiesene Evidenz. Ich möchte das gar nicht weiter bewerten, weil mir nahezu die Worte dafür fehlen. Verhehlt sei aber nicht, dass mich ein Umstand bei alledem besonders aufgebracht hat: Dass die Quarks-Redaktion Kommentatoren mit berechtigten Einwänden aufgefordert hat, “Belege” beizubringen, damit man “evidenzbasiert weiterreden” könne. Angesichts der eigenen unbelegten Position schon ein starkes Stück.
Und das geht so nicht. Und die atemberaubende “Verteidigung” dieser Position in der Online-Debatte war nichts weniger als ein echtes Ärgernis. Wäre es nicht so, säße ich jetzt hier nicht und würde diesen Beitrag schreiben.
Mein Tipp an alle, die mit Pseudoevidenz zur Akupunktur behelligt oder gar aufgefordert werden, “Gegenbeweise” anzutreten: Bitte nicht auf der Grundlage einzelner Studien so etwas versuchen und umgekehrt auch Beweisversuche auf diesem Level zurückweisen. Immer konsequent auf die Gesamtlage verweisen, unter diesem Beitrag einige wichtige Linktipps zu Beiträgen und Aufsätzen, die sich genau mit dieser Gesamtlage befassen.
Leider ist praktisch nichts Wesentliches in deutscher Sprache verfügbar. Man kann aber sehr gut darauf hinweisen, dass die GERAC-Studien (German Acupuncture Trial) aus den Jahren 2002 bis 2007 eben NICHT zu einer breiten Legitimation der Akupunktur im deutschen Gesundheitswesen geführt haben. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat, ohne die Akupunktur als Methode mit spezifischem Wirkungsnachweis damit anzuerkennen, rein pragmatisch für Knie- und Rückenschmerzen (ausdrücklich NICHT für Kopfschmerzen und Migräne) eine Kassenerstattung zugelassen, weil der damalige Stand der Schmerztherapie nicht ausreichte, um die Kontexteffekte der Akupunktur (die es fraglos gibt) auf die Plätze zu verweisen. Nicht mehr – nicht weniger. Diesem Beschluss lag eine Unmenge wissenschaftlichen Materials und auch eine Reihe gutachtlicher Stellungnahmen zur Akupunktur zugrunde.
Und dieser Beschluss ist nach meiner bescheidenen Ansicht inzwischen auch revisionsbedürftig. Die NICE-Guideline für Muskel-Skelett- Beschwerden des National Health System (NHS), weltweit als maßstabsetzend anerkannt, hat Akupunktur aus ihren Therapieempfehlungen in der Neufassung 2018 verbannt (übrigens auch einige medikamentöse Therapien). Der ärztliche Direktor von NICE sagte dazu:
“Regrettably there is a lack of convincing evidence of effectiveness for some widely used treatments. For example acupuncture is no longer recommended for managing low back pain with or without sciatica. This is because there is not enough evidence to show that it is more effective than sham treatment.”
Links:
“Acupuncture is Theatrical Placebo” – der Schlüsselartikel von Colquhoun / Novella (2013) zur wissenschaftlichen Gesamtschau auf die Akupunktur – Link
“Is Acupuncture Winning” – ein aktueller Artikel (Januar 2019) von Dr. Harriet Hall, weltweit bekannt als “The SkepDoc”, über ihre persönliche “Laufbahn” in Sachen Akupunktur – Dr. Hall war Mitarbeiterin von Prof. Bonica, der als einer der ersten begann, dem von J. Reston losgetretenen Hype nach anfänglicher eigener Begeisterung auf den Grund zu gehen – Link
Moffet HH: Traditional acupuncture theories yield null outcome: a systematic review of clinical trials. Diese Arbeit legte als erstes übergreifendes Review dar, dass bei kritischer Betrachtung die bisherige Bewertung der Studienlage viel zu optimistisch war und letztlich über Placebo hinaus keine Wirkung nachweisbar ist. Moffets Forschung stellte die Gegenposition zum “Consensus Statement Acupuncture” des National Health Institute aus dem gleichen Jahr dar, das sich vorsichtig, aber immerhin zu “vielversprechenden Resultaten bei einer Vielzahl von Indikationen” geäußert hatte – Link
Zusammenstellung sämtlicher Cochrane-Reviews zur Akupunktur nach dem Stand von März 2018 – Link
“Acupuncture for migraine” – eine Kritik zur Li-Migräne-Studie von 2013 aus evidenzbasierter Sicht, als (noch recht harmloses) Beispiel für typische Fehlschlüsse in Akupunktur-Studien – Link
“Chinese Medicine: Nature Versus Chemistry and Technology” – von Paul Unschuld, dem Experten schlechthin für die Einordnung der Mythen über die “Traditionelle chinesische Medizin” – als Kurzbeitrag zu der oben angesprochenen “soziokulturellen Gemengelage” – Link
“Mit chinesischer Tradition hat das wenig zu tun” – Interview mit Paul Unschuld im SPIEGEL – Link
Ernst E: The recent history of acupuncture. AmJMed 2008 – Link Das Fazit sei hier kurz zitiert: “So, after 3 decades of intensive research, is the end of acupuncture nigh? Given its many supporters, acupuncture is bound to survive the current wave of negative evidence, as it has survived previous threats. What has changed, however, is that, for the first time in its long history, acupuncture has been submitted to rigorous science—and conclusively failed the test.”
Unverzichtbar dieser erhellende Blick von Lehmann “Akupunktur im Westen: Am Anfang stand ein Scharlatan” im Ärzteblatt, auch international nachgedruckt, auf das Thema der “Adaption” von “altem fernöstlichen Wissen” im Europa des 20. Jahrhunderts – Link
G-BA: Pressemitteilung “Akupunktur zur Behandlung von Rücken- und Knieschmerzen” – Link
Das soll an dieser Stelle genügen. Ist eh wieder zu lang geworden. Bitte um Entschuldigung. Nur noch eins: Bei “Susannchen braucht keine Globuli”, der Familienseite des Informationsnetzwerks Homöopathie, gibt es einen sehr schönen Überblicksartikel zur Akupunktur in zwei Teilen – Link.