Über Wissenschaft, (Pseudo-)Medizin, Aufklärung, Humanismus und den Irrsinn des Alltags

Kategorie: Humanismus

Wie kann man nur gegen Alternativmedizin sein???

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Ein Gastbeitrag von Dr. Natalie Grams

TL:DR: Für Trennung von Glauben und Wissenschaft, für Wissen statt Beliebigkeit, für vernünftige Medizin statt verklärtem Rückwärtsdenken, für Aufklärung statt falscher Toleranz.

Am Anfang: Die Definition

Alternativ – muss man das erklären? Auf jeden Fall, denn der Begriff wird gerade in den derzeitigen Debatten über „Alternativmedizin“ häufig nicht richtig benutzt. Eigentlich bedeutet Alternative doch, ich habe die Wahl zwischen zumindest annähernd gleichwertigen Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten haben jeweils spezifische Vor- und Nachteile, die sich aber irgendwie ausgleichen und eine Entscheidung je nach persönlichen Vorlieben zulassen. Zwei verschiedenfarbige Paar Schuhe werden keinen Unterschied im Tragekomfort haben. Ich habe also die Alternative, je nach persönlicher Präferenz zwischen rot und blau zu wählen.

Die Sache sieht ganz anders aus, wenn ich durstig bin und man stellt mir ein volles und ein leeres Glas Wasser auf den Tisch. Beides sind Gläser, aber ist das leere Glas in Anbetracht der Grundsituation eine Alternative? Nein. Hier – und nur hier – greift der (politisch etwas vorbelastete) Begriff der Alternativlosigkeit: Nämlich dann, wenn es zwar verschiedene Angebote gibt, diese aber keineswegs vergleichbar geeignet sind, die jeweiligen Bedürfnisse zu erfüllen bzw. die angestrebten Ziele überhaupt zu erreichen.

Zur Alternativmedizin: Warum bin ich „dagegen“?

Es geht mir nicht um das „Dagegensein“ – es geht um eine Frage von Rationalität, vor allem aber von Moral, von Ehrlichkeit, von Redlichkeit. Der so gerne verwendete Begriff „Alternativmedizin“ enthält ja erst einmal eine stramme Behauptung, nämlich die, es gehe hier um eine wirkliche Alternative zur Medizin, also etwas, das man statt Medizin tun/einnehmen könne. Darin steckt auch gleich der Anspruch, die Alternativmedizin sei der „Schulmedizin“ (die ich lieber wissenschaftsbasierte Medizin nenne) mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, also vielleicht sogar – die „bessere Alternative“.

Das klingt erst einmal sehr schön und auch ich habe früher gern an die implizierte Bedeutung geglaubt. Ich habe auch Verständnis für jeden Patienten, der das tut, denn die „Schulmedizin“ und auch „die Wissenschaft“ machen es uns nicht unbedingt immer leicht, sie zu mögen (aber das soll aktuell nicht Thema sein). Ich habe früher gerne daran geglaubt, dass die Medizin längst nicht der Weisheit letzter Schluss ist und dass es noch so vieles gibt, was wir nicht wissen. Wie also will da jemand abfällig über Alternativen urteilen? Heute allerdings stoße ich mich schon am Begriff „Alternative“.

Was haben wir denn eigentlich bei der Gegenüberstellung Medizin – Alternativmedizin vor uns? Was trifft es besser – die roten und die blauen Schuhe oder das volle und das leere Glas?

Die Medizin – im Sinne der heutigen wissenschaftsbasierten Medizin, der Grundlage des öffentlichen Gesundheitssystems – versteht sich als die Summe aller Mittel und Methoden, die nachweislich wirksam sind. Hinzu kommt für die praktische Anwendung noch die Abwägung eines möglichen Schadenpotenzials (Stichwort Nebenwirkungen) und die jeweilige Situation / Verfassung des Patienten. Was das für Mittel / Methoden sind und woher sie stammen, ist der wissenschaftlichen Medizin ziemlich egal. Sie ist fähig und bereit, alle vielversprechenden Ansätze zu untersuchen und im Erfolgsfall in den Werkzeugkasten ihrer Mittel und Methoden aufzunehmen – und tut dies auch. So erweitert sie täglich ihr Wissen und Können und erzielt immer mehr Erfolge, auch auf Gebieten, in denen das vor einigen Jahrzehnten noch unmöglich schien (siehe z. B. individualisierte Krebstherapie, Frühgeborenenversorgung). Sicherlich ist die Medizin nicht fehlerfrei, vor allem das Gesundheitssystem nicht, aber beide sind bestrebt sich kontinuierlich weiter zu entwickeln.

Auch die Behauptungen der „Alternativmedizin“ lassen sich überprüfen – real und pragmatisch an ihrer tatsächlichen Wirkung. Es lässt sich so herausfinden, was an ihren Aussagen dran ist – ob sie wahr sind oder falsch.

Wir haben heute die Instrumentarien und die Methoden, das zu tun und es ist für die allermeisten Methoden, die für sich in Anspruch nehmen, zur „Alternativmedizin“ zu zählen, längst unzählige Male geschehen. (Was den immer wieder zu hörenden Ruf nach „mehr Forschung“ im Bereich dieser Mittel und Methoden stark relativiert.) Heraus kommt fast immer das Gleiche: Die Methoden der Alternativmedizin funktionieren – allenfalls – zu selten und zu unzuverlässig, als dass man sie ruhigen Gewissens als wirksame Medizin ansehen könnte – und praktisch nie so, wie sie von ihren Befürwortern erklärt werden. Die Wirkung ist in aller Regel nicht mehr als das Gefühl, das in uns Menschen entsteht, wenn wir uns gut behandelt fühlen, wenn wir Hoffnung haben, wenn wir glauben, dass es uns durch die ergriffene Behandlungsmethode bald besser gehen wird – man nennt dies Kontexteffekte einer Behandlung, der Placebo-Effekt gehört dazu.

Der Kern der Sache ist also schlicht und einfach, dass die als „Alternativmedizin“ bezeichneten Mittel und Methoden mit dem leeren Getränkeglas auf unserem Tisch und nicht etwa mit einem andersfarbigen Paar Schuhe im Gegenbeispiel gleichzusetzen sind. Da sie keinen Wirkungsnachweis erbringen können, sind sie schlicht für das angestrebte Ziel, die wirkungsvolle Behandlung von Krankheiten, nicht geeignet. In dem Sinne ist die wissenschaftliche Medizin alternativlos – und der Begriff „Alternativmedizin“ ein Euphemismus.

Aber die Wissenschaft weiß und kann doch nicht alles!

Das behauptet auch kein Wissenschaftler, der diese Bezeichnung verdient und erst recht nicht „die Wissenschaft“. Die Tatsache, dass wir längst nicht alles wissen und können, ist ja der eigentliche Antrieb für weitere Forschung.

Wir dürfen einer Wissenschaft, die kleinste Details von Zellfunktionen erklären und krankheitsauslösende ebenso wie heilende Effekte auf molekularer Ebene beschreiben kann, aber durchaus zutrauen, ein Urteil über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit einer bestimmten Methode oder eines bestimmten Mittels abzugeben. Tun wir das nicht, laufen wir blind in eine Beliebigkeitsfalle, verfallen wir in einen irrationalen Angstglauben, der uns alle lähmen und uns statt nach vorn wieder zurück in die Vergangenheit führen würde. Und zwar nicht nur in der Medizin.

Und um den nächsten Einwand gleich vorwegzunehmen, nein, „die Wissenschaft“ unterdrückt „die Alternativmedizin“ nicht (erst recht nicht aus unlauteren Motiven). Ich habe solche Dinge, zwar früher auch so gesagt (weil „alle“ sie sagten), aber es ist schlicht Unsinn. Und es würde immerhin die größte Verschwörung aller Zeiten voraussetzen – gegen die Chemtrails, die 9/11-Geschichten und die Flache-Erde-Theorie zusammengenommen eine Kleinigkeit wären. Ich bin heute davon überzeugt, dass dieses „Argument“ nur dazu dient, sich nicht mit der berechtigten Kritik an der „Alternativmedizin“ auseinandersetzen zu müssen.

Und nein, damit will ich nicht Unzulänglichkeiten und Mängel in der wissenschaftlichen Medizin leugnen. Davon gibt es mehr als genug, das ist auch ein Thema für sich das mich sehr bewegt und das einen wichtigen Teil meines Buches „Gesundheit – ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen“ ausmacht. Aber gerade die ständige Debatte über die Alternativmedizin verstellt den Blick darauf, auf welche Weise wir die Medizin und unser Gesundheitssystem insgesamt weiter verbessern können.

Was bedeutet das praktisch?

Oft wird das ganze Problem ja damit abgetan, dass man sagt, naja, wenn Menschen eben auch so gesund werden und außerdem auch auf unnötige Medikamente verzichten, ist doch alles gut („Wer heilt, hat Recht“). Wobei man natürlich auf unnötige Medikamente immer verzichten kann und soll, nicht nur wenn „Alternativmedizin“ glaubt, an ihre Stelle treten zu können.

Wenn wir aber tatsächlich eine wirksame Therapie unterlassen, also nicht etwa eine medizinisch vertretbare Alternative wählen (z. B. Medikation statt Operation), sondern die eigentliche Behandlungsoption unterlassen oder verzögern, dann haben wir ein Problem. Denn es werden Menschenleben gefährdet, Krankheiten verschleppt, Schmerzen unnötig ertragen oder Prophylaxen versäumt, die für uns alle wichtig sind. Menschen werden in die Irre geführt, bekommen falsche Hoffnungen und werden manchmal richtiggehend betrogen. Das möchte ich nicht! Genau deshalb spreche ich heute auch lieber von „Pseudomedizin“. Sie tut so, als wäre sie Medizin, tritt mit dem Anspruch auf, als wäre sie eine Alternative, sie ist aber in Wirklichkeit das leere Wasserglas – selbst wenn man den Placebo-Effekt mit einrechnet. Denn der kommt auch bei nachgewiesen wirksamen Therapien als „Add-on“ zur spezifischen Wirksamkeit dazu und ist nicht von der „Alternativmedizin“ gepachtet.

Wissen versus Beliebigkeit

Es gibt heute recht harte Standards in der Medizin, es gibt sich weiter entwickelnde Instrumentarien des Überprüfens und es gibt dann eine Grundlage für eine Bewertung (wirkt/wirkt nicht/kann nicht wirken). Was es nicht gibt (oder nicht mehr geben sollte!): Beliebigkeit. Denn das wäre der Einzug der reinen Fantasie in die Welt der Fakten. Das kann gern anderen Bereichen überlassen bleiben, beispielsweise Fantasy-Buchautoren oder Filmemachern. Wo es aber um das Wohl und Wehe von Menschen geht, haben Beliebigkeit, „könnte doch sein“, „noch nicht bewiesen“ und dergleichen nichts zu suchen.

Hier nähern wir uns offenbar der Ursache dessen, dass es so viele Menschen, die eigentlich gar nicht im Thema sind, so offensichtlich aufbringt, wenn sie auf Kritik an „Alternativmedizin“ stoßen. Nämlich, dass einer scheinbaren persönlichen Freiheit, einem unreflektierten Meinungspluralismus Grenzen gesetzt werden. Dass offen ausgesprochen wird, dass nicht alles möglich ist und nicht alles toleriert werden muss, nur weil jemand sich im Recht fühlt und man glaubt, jeder anderen Meinung unbedingt „Respekt“ zollen zu müssen.

Wo wir beim Wetterbericht ganz klar darauf bestehen, dass er sich an Fakten und Wahrscheinlichkeiten orientieren möge, da geben wir das gerade bei der Medizin – einem Gebiet, das doch ungleich wichtiger ist – kritiklos auf? Für eine vermeintliche Toleranz, ohne genaues Hintergrundwissen und mit einem ebenso wenig begründbaren wie dumpfen Misstrauen gegen Expertenwissen?

Aber die Meinungsfreiheit ist doch auch ein hohes Gut

Natürlich darf jeder seine Meinung dazu haben. Aber geht es hier überhaupt um „Meinung“? Wenn es harte Fakten gibt und meine persönliche Meinung denen entgegensteht – was ist die Meinung dann noch wert? Sie verhilft mir persönlich allenfalls zu einem falschen Überlegenheitsgefühl. Sie kann aber weder Allgemeingültigkeit noch Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen und ist deshalb auch für den Inhaber der Meinung selbst wertlos und unter Umständen schädlich.

Das Scheitern der Wirksamkeitsbehauptung alternativmedizinischer Mittel und Methoden an wissenschaftlichen Nachweiskriterien ist ein solcher Fakt. Was geschieht aber angesichts dessen? Die Anbieter alternativmedizinischer Methoden (egal, ob Ärzte oder Heilpraktiker) scheren sich wenig darum und stellen unbeirrt viele Behauptungen auf, die sie nicht belegen können (z. B. es gäbe eine geistige Lebenskraft; bei der Potenzierung passiere mehr als eine Verdünnung; Wasser habe ein Gedächtnis; es gäbe „Energie“ in „Meridianen“) oder die objektiv falsch sind (z. B. es gäbe ganz viele eindeutig positive Studien zur Akupunktur oder auch zur Homöopathie; Ansätze der Alternativmedizin könnten in Studien sowieso nicht geprüft werden; wenn  ihre Methode doch so vielen Menschen helfe, dann müsse sie doch wirksam sein; die Wissenschaft und BigPharma seien einfach nur gegen die Erfolge der Alternativmedizin; Kritiker sind doch bloß neidisch…). Mit diesem Unterbau wird das positive Image der „alternativen Medizin“ am Leben erhalten und werden Meinung und Fakten fälschlicherweise gleichgestellt.

Beliebtes Image

Viele Menschen, die der „Alternativmedizin“ grundsätzlich wohlwollend gegenüberstehen, wissen einfach gar nicht so genau Bescheid über deren Methoden und ihre Hintergründe. Man glaubt an sie, weil man gute Erfahrungen damit gemacht hat (Konditionierung), weil es andere Eltern ja auch machen (falscher Autoritätsglaube), weil die Homöopathin einfach netter ist als die Hausärztin und mehr Zeit hat (Prinzip des bequemsten Weges), man mag das Gefühl, selbst entscheiden und handeln zu können (falsch verstandene persönliche Freiheit), man hat Angst vor den Behandlungen und Nebenwirkungen der normalen Medizin (menschlich, aber falsch), man hat die Ausbildung als Therapeut nun mal absolviert und kann sie gut abrechnen (Pragmatismus), etc.. Die Begriffe „sanft“ und „natürlich“ tragen zum positiven Image bei, das – oh Wunder – durch die die Alternativ-Produkte verkaufende Pharmaindustrie (zum Beispiel Homöopathie-Hersteller) blumig befördert wird. Ist man dann noch enttäuscht von der normalen Medizin (was ich teilweise verstehen kann), wendet man sich gerne an vermeintliche Alternativen. Wobei nach meiner Beobachtung eine solche „Enttäuschung“ oft gar nicht auf eigener Erfahrung beruht, sondern auf der unkritischen Aufnahme umlaufender „urbaner Legenden“ und „allgemeiner Ansichten“. Immerhin hat eine aktuelle europaweite Erhebung zur Patientenzufriedenheit mit Hausärzten erbracht, dass 95 Prozent der deutschen Patienten mit ihrem Hausarzt so zufrieden sind, dass sie ihn weiterempfehlen würden. Das sollte auch einmal zu denken geben.

Lösungswege für eine bessere Medizin

Es gibt nur einen sinnvollen Weg zum Ziel einer vernunftbetonen und gleichzeitig empathischen Gesundheitskompetenz, und der ist nicht die Neigung zur „Alternativmedizin“. Sondern: Information und Aufklärung und eine gemeinsame Verbesserung unseres Gesundheitswesens. Es geht nicht um irgendwelche Verbote, auch nicht um Bevormundung. Ganz im Gegenteil: Selbst- und Mitbestimmung von Patienten sind heute in der Medizin wichtiger denn je. Um aber vernünftig selbst- und mitbestimmen und um sich selbst gegenüber Verantwortung übernehmen zu können, ist Information nötig, kein Glaube an nicht vorhandene Alternativen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Menschen aufgeklärt werden wollen, dass Sie aufgeklärt werden wollen, dass Sie wissen wollen, was es mit Homöopathie, Akupunktur, TCM und Co. wirklich auf sich hat.

Es ist allerdings nicht so einfach, diese Hoffnung nicht aufzugeben. Kritikern wie mir wird persönliches Versagen und fehlendes Wissen unterstellt oder die falsche Schule, der falsche Lehrer, zu wenig praktische Erfahrung nachgesagt – der Vorwurf fehlender Offenheit und Unvoreingenommenheit, das angebliche „zu enge Denken“ kommt meist dazu. Das finde ich schade. Schade und unfair. Denn es geht und ging mir nicht um Gegnerschaft an sich und um jeden Preis. Ich möchte mit Gleichgesinnten zusammen deutlich machen, wie wir auf eine falsche oder einfach unüberlegte Darstellung von angeblichen Alternativen hereinfallen. Weil das in der Medizin besonders verhängnisvoll sein kann, setze ich mich für entsprechende Aufklärung ein, auch aus der eigenen Erfahrung heraus, früher selbst auf diesen Leim gegangen zu sein.

Nein, nicht alles Denkbare ist auch möglich (dafür gibt es den schönen Ausdruck Luftschlösser) und auch wenn wir heute nicht alles wissen, über die Alternativmedizin und die Methoden ihrer Verbreitung wissen wir heute genug, um urteilen zu können. Und es ist – wie ich meine – geradezu eine ethische Pflicht, auch über diese Dinge öffentlich zu sprechen, um Schaden abzuwenden. Nicht um Menschen zu bevormunden oder um reiner Besserwisserei wegen. Auch um den Weg in die Moderne, eine nachhaltige Zukunft offen zu halten und einer falschen Rückwärtsgewandtheit – weit über die Medizin hinaus- die Stirn zu bieten.


PS: Wenn Sie positive Erfahrungen mit der Alternativmedizin gemacht haben und mir jetzt vielleicht böse sind: Ihre Erfahrungen sind Gold wert. Nur sie erklären sich anders, als Sie bisher vielleicht angenommen haben (Siehe Artikel „Wir sehen ein Phänomen“).


Bild: Fotolia_167389505_XS.jpg

Für mich bitte nur ohne Chemie!

Natürliches  (E)-N-(4-Hydroxy-3-methoxybenzyl)-8-methyl-6-nonensäureamid (Capsaicin)

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Wissenschaftsfeindlichkeit, Esoterikboom, Ablehnung von „Chemie“, Misstrauen gegenüber wissenschaftlich fundierter Medizin, abgeleitet aus Natürlichkeitswahn, Wiederbelebung animistischer Vorstellungen wie „belebt“, „fließende Energie“, „Feinstofflichkeit“ – all das ist keineswegs ein „Back to the roots“, keine Rückbesinnung auf „natürliche Lebensformen“. Nein, ganz im Gegenteil, das ist viel eher eine Form von zivilisatorischer Dekadenz, eine irregeleitete Träumerei auf der Folie eines inzwischen sehr problemlosen Lebens. Die gemeinsame Grundlage all dessen ist das, was man als den Naturalistischen Fehlschluss (nach Edward Moore, auch Humes Gesetz, der unzulässige Schluss von einem Sein auf ein Sein-Sollen) bezeichnet, also nur aus der „Natur“ der Dinge (in diesem Falle der Natur selbst) abzuleiten, wie diese sein sollten und ihnen damit einen moralischen (implizit anthropozentrisch gedachten) Wert zu unterstellen. .

Der Mensch des wissenschaftlichen Zeitalters scheint in einer Umdeutung und Überhöhung des Rousseau’schen Mottos des „Zurück zur Natur“ zu leben. Er gefällt sich in „kritischer Haltung“ gegenüber der „rationalistisch-materialistischen Weltanschauung“, die angeblich die Jetztzeit beherrsche (also eine Art Negativum des Naturalistischen Fehlschlusses) und erhebt das „Natürliche“ vielfach geradezu zu einem Fetisch. Was dem Markt der medizinischen Mittel und Methoden, der sich nicht auf die wissenschaftliche Medizin beruft, nicht entgangen ist.

„Der Wissenschaft“ wird „Anmaßung“ vorgeworfen, weil sie behaupte, „alles zu wissen“, wahlweise wird sie als „Ideologie unter vielen“ oder als „Glaube“ bezeichnet. Die Abgrenzung eines Begriffs des „Natürlichen“ gegenüber den als Fehlentwicklungen gesehenen „gefährlichen“ und „nicht menschengerechten“ Erkenntnissen und Methoden der neueren Zeit wird immer schärfer – und moralisch aufgeladener. Sie bringt dabei solche Absurditäten hervor wie den Begriff „ohne Chemie“, der ohne Ansehen seiner kompletten Unsinnigkeit (ohne andauernde chemische Reaktionsketten ist der Körper tot) zu einem verbreiteten Markenzeichen auf dem pseudomedizinischen Markt geworden ist. Genau wie der gleichbedeutende Slogan von „100 Prozent natürlich“.

Das mag alles bei einigermaßen aufgeklärten Menschen Kopfschütteln hervorrufen. Es ist aber mehr als eine Verirrung. Es ist ein kompletter Irrtum, eine Schimäre.

Die Menschen der frühen Zivilisationen sahen die Natur nur sehr bedingt als freundliches Gegenüber. Sie waren sich dessen vollkommen bewusst, dass die Natur sie jederzeit würde vernichten können. Was die Natur ihnen gab, mussten sie ihr mühsam abringen. Die Entstehung von Götterwelten hatte zur Grundlage, die Natur zu beherrschen oder zumindest milde stimmen zu können.

Lange Zeit blieb dies so. Die Natur war ganz überwiegend unerbittliche Gegnerin. Von allen Seiten bedrängte sie die Menschen, mit Krankheiten und zerstörerischen Naturgewalten. Das Meme von der „guten Mutter Natur“ taucht erst bei recht hochzivilisierten Gemeinschaften auf, ist in Mitteleuropa ein Produkt des romantischen Zeitalters. Eines Zeitalters, in dem immerhin noch die durchschnittliche Lebenserwartung ein Drittel der heutigen ausmachte, Infektionskrankheiten große Teile der Bevölkerung dahinrafften, die Kindersterblichkeit enorm war und die Medizin auf „Herumtappen“ (Kant) statt auf Wissen und Kenntnisse angewiesen war. Die Naturbegeisterung der Romantik war eine typische Erscheinung der Oberschicht, die zumindest das Privileg ordentlicher Wohnverhältnisse, akzeptabler Hygiene und ausreichender Ernährung genoss. Allen anderen dürfte eine Naturverklärung auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ziemlich fremd geblieben sein.

Insofern ist die Verklärung von „Natürlichkeit“ etwas durchaus Neues, es drängt sich sogar auf, deren Entwicklung mit der Entwicklung der modernen Medizin und des technischen Fortschritts als zeitgleiches Phänomen zu identifizieren. Es ist eine Luxushaltung, die sich nur Menschen erlauben können, die in so hohen Standards leben, dass sie von den ständigen Attacken der Natur gegen sie im Großen und Ganzen bewahrt sind. Nur vor diesem Hintergrund kann sich eine Haltung ausbilden, die bewusst oder auch unbewusst davon ausgeht, die Natur sei auf den Menschen zentriert und verfolge insofern einen Zweckmäßigkeitsgedanken.

Die Unterstellung, die Natur sei als solche gut und a priori auf die menschlichen Belange und Bedürfnisse ausgerichtet, ist ein klassischer Sein-Sollen-Fehlschluss. Esoterik und Pseudomedizin sind nach wie vor voller solcher ausgesprochener wie stillschweigender Annahmen. So sprechen Homöopathen im Zusammenhang mit der homöopathischen Arzneimittelprüfung am Gesunden geradezu von einer „Frage an die Natur“ und die am Gesunden erzielten Symptome seien „die Sprache der Natur selbst“ (Schlegel 1954, nach Prokop 1957) (1). Martini, der die großen umfassenden Untersuchungen zum Wert der Arzneimittelprüfungen durchgeführt hat, wies zu Recht darauf hin, dass eine solche Betrachtungsweise die Kausalität auf den Kopf stelle: Das erst in der Zukunft liegende Ziel der Untersuchung wird selbst als Ursache der Richtung angesprochen, in der sich ein Vorgang entwickelt. Er wendet sich scharf gegen die Unterstellung „rein biozentrischer oder gar anthropozentrischer Tendenzen“ in der Naturbeobachtung (Martini 1948, nach Prokop aaO).

In die Naturverherrlichung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlug Darwins Lehre eine große Bresche. Die von Freud so formulierte „darwinistische Kränkung“ des Menschen, die Erkenntnis, dass der Mensch als Teil der Natur ihren Daseinsbedingungen und insbesondere ihren Entwicklungsgesetzen unterworfen ist, beinhaltet eigentlich den Zusammenbruch des naturverklärenden humanzentrierten Weltbildes. Die Natur ist in keiner Weise zweckgerichtet auf Belange oder Bedürfnisse des Menschen. Am Beispiel der schönen Chilischoten im Bild: Sie sind nicht scharf, um unser Chili con carne zu würzen, sie sind scharf, um Fressfeinde abzuschrecken. Wie Darwin zeigte, hat „die Natur“ (sofern man sie überhaupt „personalisieren“ will) nicht einmal irgendein Interesse am Bestand des einzelnen Individuums.

Wenn man der Natur schon so etwas wie eine Zielgerichtetheit unterstellen will, dann allenfalls die, mit „ihrer Methodik“ auf das Überleben der Spezies, nicht des Individuums, abzuzielen. Aber auch dies gilt nur im engen Rahmen einer rein biologistischen Betrachtungsweise und scheitert schon bei der Kosmologie. Die häufige Anführung des anthropischen Prinzips als Beleg für eine Humanzentrierung geht nämlich fehl, weil dies seine eigentliche Bedeutung überinterpretiert: Das anthropische Prinzip besagt nicht mehr, als dass das beobachtbare Universum nur deshalb beobachtbar ist, weil es alle Eigenschaften hat, die dem Beobachter seine Existenz ermöglichen. Wäre es nicht für die Entwicklung bewusstseinsfähigen Lebens geeignet, so wäre auch niemand da, der es beobachten könnte. Was aber nicht heißt, dass es wegen der Beobachter so ist.

Hat der Mensch die „darwinsche Kränkung“ längst noch nicht überwunden, was vielfach offensichtlich ist, kann es auch nicht verwundern, wenn er die Natur und das Natürliche als scheinbaren Gegenpol zu den von ihm als solche empfundenen Zumutungen einer wissenschaftlich-technischen Welt kultiviert. Umso mehr, als er -wie schon erwähnt- den Angriffen und Zumutungen dieser Natur längst nicht mehr im früheren Maße ausgesetzt ist – paradoxerweise gerade wegen der von ihm mit Misstrauen betrachteten technisch-wissenschaftlichen Fortschritte. Er übersieht dabei, dass alle diese Fortschritte nichts anderes sind als eben dieser Natur abgerungene Erkenntnisse, die sich der Mensch aufgrund seiner ebenfalls naturgegebenen Fähigkeiten zunutze macht. In manchen Wissenschaftsdisziplinen mag dies undeutlich hervortreten, aber gerade die Medizin ist ein herausragendes Beispiel hierfür. Der Begriff Naturwissenschaft existiert nicht umsonst. Damit fällt der konstruierte Gegensatz von „natürlich“ und „menschengemacht“ in sich zusammen.

So wird nun „Natürliches“ zum Kronzeugen für das Heil, als Urgrund alles Guten überhöht und zur Universalwaffe gegen „böse Schulmedizin“ und beschwört eine heile Welt auch dort, wo es keine gibt. Statt aber einen künstlichen und nicht aufrechtzuerhaltenden Gegensatz von „natürlich“ und „technisch-chemisch-wissenschaftlich“ zu konstruieren, sollte die Trennlinie lieber zwischen wirksam und unwirksam, objektiv nützlich und objektiv sinnlos bis schädlich verlaufen. Geschähe dies, wäre das Problem der pseudomedizinischen Durchseuchung des Gesundheitsmarktes zumindest vom Ansatz her gelöst.

Wie von dem Schriftsteller Wolfgang Herrndorf zu Beginn seiner Krebsbehandlung kolportiert wurde, als man ihm „natürliche“ Alternativen zur evident wissenschaftlichen Methodik anbot: „Die Natur ist gerade dabei, mich umzubringen. Ich vertraue auf die Menschen, die ihre Tricks kennen und sie ausbremsen können.“ In dieser Sentenz wird vieles geradegerückt.

Der Wissenschaftler empfindet Demut vor der Natur. Aber er vergötzt sie nicht. Dies wäre als grundsätzliche Haltung zu empfehlen, die dann auch das Tor zu Fragen der Ethik in der Wissenschaft weiter öffnen kann.

(1) Prokop, O. u. Prokop, L.: Homöopathie und Wissenschaft, Stuttgart 1957


Bildnachweis: Fotolia_120026634_S

Homöopathie als Flüchtlingshilfe: Ein ethisches Problem?!

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Das “Gutmenschentum” der “Homöopathen ohne Grenzen” (eine einigermaßen unverschämte Okkupation des guten Namens der “Ärzte ohne Grenzen”) stieß bekanntlich vor nicht allzu langer Zeit sogar in Westafrika auf kritischen Verstand, weshalb sie dort mit ihrem Ansinnen, Ebola mit Homöopathie behandeln zu wollen, gleich wieder auf den nächsten Seelenverkäufer in Richtung Europa verfrachtet wurden. Was diese Truppe von weiteren Aktivitäten nicht abhält (wer hätte das auch erwartet…). Und zwar vor Ort. Auch hier unter dem Etikett humanitärer Hilfe.

Unter der Flagge Homöopathie für Flüchtlinge in Deutschland bewerben die “Homöopathen ohne Grenzen” zusammen mit der Initiative “Homöopathie in Aktion” ein Netzwerk von Homöopathieangeboten, bundesweit, für die “Behandlung von Geflüchteten”.

Eine ähnliche Aktion des Projekts “Asyl Fürstenfeldbruck”, einer verdienstvollen Initiative vor Ort, ist dem Autor dieser Zeilen schon vor einiger Zeit bekannt geworden. Hier hat sich eine Homöopathin “ohne Grenzen” der Initiative angeboten und “behandelt” dort ebenfalls traumatisierte Flüchtlinge – vor dem Hintergrund des guten Namens von “Asyl Fürstenfeldbruck”. Leider hatte eine direkte Intervention dort keinerlei Reaktion zur Folge.

Auch die Süddeutsche Zeitung berichtete Anfang dieses Monats über ein Angebot homöopathischer Behandlungen für Flüchtlinge im Raum München.

Woraus gefolgert werden darf, dass es hier nicht nur um Einzelfälle geht.

Ganz abgesehen von allen bekannten Argumenten contra Homöopathie im Hinblick auf Unwirksamkeit, fehlende Evidenz et. al.:

Ergibt sich hier nicht ganz konkret ein ethisches Problem? Das sich auch -einmal mehr- an die Politik adressiert? Fakt ist: Hilfsbedürftige Menschen, die nun wirklich nicht als “mündige Patienten” angesehen werden können, werden für homöopathische “Methoden” regelrecht akquiriert. Menschen, die in aller Regel schwere Traumaschäden zu verarbeiten haben – was durchaus wohl auch im Vordergrund all dieser “homöopathischen Initiativen” steht. Um Husten, Schnupfen, Heiserkeit dürfte es hier kaum gehen. Keine Frage: All diese Menschen psychologisch und psychotherapeutisch fachgerecht zu versorgen, ist eine fast unlösbare Aufgabe. Aber das Angebot einer Scheintherapie kann doch wohl keine Lösung sein! Bei traumatisierten Menschen, oft Kindern?

Abgesehen von der ethischen Unvertretbarkeit -gerade unter diesen Umständen-, eine unwirksame Methode anzubieten: Sicher wird sich der eine oder andere vordergründige “Erfolg” einstellen, gerade wegen der psychologisch besetzten Gesamtsituation. Aber eine nicht fachgerechte Behandlung psychischer Störungen, zumal von Gewalttraumata, löst nie das Problem. Weder wird nachhaltig etwas für den Patienten getan, noch gewinnt man Erkenntnisse über eventuelle Fremd- oder Eigengefährdungen aufgrund der psychischen Störung. Wir erinnern uns, unseligen Angedenkens, der Behandlung des Attentäters von Ansbach mit einer völlig unzulänglichen “Therapie” – hier durch einen Heilpraktiker, einen laut Gesetz gar “Ausübenden der Heilkunde”. Auch hierhin gehört meiner Meinung nach der Fall aus dem Beitrag von Spiegel.TV Wissen, bei dem ein höchstwahrscheinlich traumatisch-psychosomatisch erkranktes Kind rein homöopathisch-symptomatisch per Phosporicum-Globuli “behandelt” wurde.

Ich muss leider zugeben, dass ich ebenso verzweifelt wie hilflos vor dieser Geschichte stehe. Es dürfte kaum eine rechtliche Handhabe geben, dies hier zu unterbinden. Und warum nicht? Weil die Homöopathie durch den unsäglichen Binnenkonsens von der Politik “geadelt” wurde. Und weil ja laut Bundesgesundheitsministerium “in einem durch Freiberuflichkeit, Selbstverwaltung und Pluralität geprägten Gesundheitswesen” die Bewertung von Behandlungsmethoden “nicht in der Zuständigkeit des Ministeriums, sondern bei den dieses Gesundheitswesen repräsentierenden Institutionen und Einrichtungen liege”.

Was uns offenbar von den Staaten Westafrikas unterscheidet.

Es ist zum schreiend Weglaufen.


Warum Rationalität? Eine kleine Polemik.

Bild von PIRO auf Pixabay

Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde…

Mag ja sein, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar. Sehe ich auch so. Aber darüber wissen wir alle nichts. Weder die Wissenschaft, noch diejenigen, die sich auf diesen Satz ständig berufen. Erstere vielleicht sogar ein wenig mehr als die anderen.

Der Grund, warum so viele Menschen die unterschiedlichsten Formen von Pseudomedizin und -psychologie fasziniert, liegt in einem Hang zum Geheimnisvollen, im Willen zu “glauben” und einer instinktiven Abneigung gegenüber dem “Wissen”, der Neigung, eher blind zu vertrauen (notfalls dem eigenen “Bauchgefühl”) als sich unvoreingenommen zu informieren. Kurz gesagt, in einer Geringschätzung von Rationalität. Diese Kräfte sind gewaltig, aber auch höchst erstaunlich – sie würden, auf alle Dinge angewandt, das praktische Leben nahezu unmöglich machen, worauf ich weiter unten noch eingehe. Ich nehme hier gerne mein Zentralthema, die Homöopathie, zum Kronzeugen. Die weltweite Wissenschaftsgemeinde ist sich einig: Nix drin, nix dran. Und wie sieht es tatsächlich aus, hier bei uns? Dreistellige Millionenumsätze, ein Heer von Praktizierenden dieser Scheinmethode, in der Bevölkerung durchaus angesehen, politisch akzeptiert unter Verleihung von Sonderrechten im öffentlichen Gesundheitswesen und mit dem Anspruch auftretend, wissenschaftliche Relevanz für sich einzufordern. Das ist praktizierte Irrationalität. Praktiziert nicht nur von wenig bis nicht informierten Laien, sondern ebenso von akademisch ausgebildeten Menschen. Wobei es unter Letzteren einige geben mag, die das gegen besseres Wissen tun – was die Sache anders, aber nicht besser macht.

Hier soll einmal gar nicht die Rede sein von den näheren Ursachen für so etwas. Vielmehr möchte ich einmal verdeutlichen, warum wir uns eine solche Haltung überhaupt nicht leisten können.

Komplexe Welt

Die Welt ist so komplex geworden, hört man allenthalben. Gewiss zu Recht. Aber kann das eine Rechtfertigung, auch nur eine Begründung dafür sein, sich auf die sogenannten einfachen Lösungen zurückzuziehen, sich der Realität zu verweigern, Vertrauen in Dinge und Menschen zu setzen, gar in die eigene Unzulänglichkeit, die einfachste Auswege aus dem Dilemma der scheinbaren eigenen Unmündigkeit oder Unwissenheit anbieten?

Ganz sicher nicht. Das Schlüsselwort heißt – Vertrauen. Aber richtig eingesetztes Vertrauen. Wir leben schon eine ganze Weile in einer arbeitsteiligen Welt. Seitdem der einzelne Mensch nicht mehr autonom für sich und seine Familie sorgte, braucht es zum Funktionieren des alltäglichen Lebens Vertrauen. Vertrauen in die Fertigkeiten des Schmieds, des Bäckers, des Schneiders, des Installateurs, des Fernsehtechnikers, des PC-Fachmanns. Von all diesen Leuten erwarten wir zu Recht Professionalität. Wir vertrauen ihnen, weil sie Meisterprüfungen abgelegt, ihr Fach mit Erfolg studiert haben und sich in der Praxis bewähren. Auslese durch Empfehlung oder Kritik tut das ihre. Ohne dieses grundlegende Vertrauen in die Fähigkeiten, aber auch in die Redlichkeit anderer würde unser Zusammenleben ebenso wenig funktionieren wie unser privates Dasein. Dieses Vertrauen ist Ausdruck eines notwendigen rationalen Denkens. Bei einer bis vor einiger Zeit laufenden Werbung für ein Infoportal wurde das ganz klar zum Ausdruck gebracht: Nach dem Scheitern, professionelle Aufgaben durch eigenes Herumprobieren zu erledigen, hieß es: Vielleicht hätte er jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt. Beifälliges Lächeln war wohl die Reaktion von 99 Prozent der Zuschauer dieses Spots.

Blinder Fleck – Ratio weg

So weit, so gut. Nur leider gibt es in dieser rationalen, jedem einleuchtenden Weltsicht offenbar bei Vielen ein gewaltiger blinder Fleck: Im Bereich des eigenen Wohlergehens, der eigenen physischen und psychischen Gesundheit.

Ja, auch da ist die Welt komplex. Komplexer als bei der Kunst, Backwaren herzustellen oder auch einen PC zu reparieren. Seltsamerweise gibt es aber sehr viele Menschen, die sich in diesem Bereich auf einmal nicht mehr an die rationalen Regeln halten, die sonst eine gewisse Garantie für ein einigermaßen funktionierendes Leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft bieten.

Wir haben hier einen professionellen Berufsstand, dessen Ausbildung und Auslese so umfangreich, langdauernd und professionell ist wie nur wenige andere im akademischen Bereich: Die Ärzte. Sie stehen aufgrund unserer weitgehenden Absicherung in den Sozialsystemen praktisch jedem kostenlos zur Verfügung. Wir haben sogar die freie Arztwahl, wir haben einen Anspruch auf Aufklärung über die empfohlenen Behandlungsmethoden und entscheiden aufgrund der Möglichkeit, uns eine fundierte Meinung bilden zu können, selbst darüber, ob und welche Behandlung wir über uns ergehen lassen wollen. Es steht uns sogar frei, bei ernsteren Angelegenheiten auf Kosten der Sozialversicherung eine zweite Meinung einzuholen, um eine rationale Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Behandlungsmethode treffen zu können. Dazu muss ich mir allerdings die Mühe machen, mich mit der Aufklärung durch den Arzt, die zu dessen Hauptpflichten gehören, auch auseinanderzusetzen.

Diese Entscheidungsfreiheit habe ich nicht mal beim Fernsehmechaniker. Wenn der sagt, kaputt, muss ein neuer her, werden wir das in aller Regel seufzend so hinnehmen. Trotz eines gewissen Grundmisstrauens wird kaum jemand eine “zweite Meinung” einholen, schon deshalb nicht, weil das das eigene Geld kostet.

Fernseher wichtig, Gesundheit egal?

So weit, so gut. Und jetzt kommt das Phänomen, dass viele Menschen trotz des Angebotes praktisch kostenloser Gesundheitsversorgung, ausgeübt von lange theoretisch und praktisch ausgebildeten, durch -zig Prüfungen gegangenen, zu ständiger Fortbildung verpflichteten Menschen, vor deren Approbation -dem Loslassen auf die Menschheit- auch noch die Ärztekammern stehen, dieses Angebot zu großen Teilen geradezu verachten? Und in Scharen zu Menschen laufen, die die Profession der Heilkunst weder studiert haben noch irgendwelchen wissenschaftlichen oder ethischen Standards verpflichtet sind, bei denen eine Absicherung gegen “Behandlungsfehler” rechtlich de facto nicht vorhanden ist und die Methoden weitgehend nach eigenem Gusto anwenden? Die über Risiken ihrer Methoden überhaupt nicht aufklären können, denn entweder sind diese unwirksam (und haben dann auch keine Nebenwirkungen und Risiken) oder es gibt gar keine belastbaren Erkenntnisse über Risiken?

Nein, das können wir uns nicht erlauben. Diese Form von Irrationalität ist ein Vergehen gegen sich selbst, gegen die Alltagsrationalität, die uns ansonsten recht gut leben lässt. Wer würde es begrüßen, wenn sich unterhalb der professionell tätigen Bäcker, Klempner, Informatiker und Kfz-Mechatroniker, nicht-handwerkliche Berufe wie Steuerberater oder Buchhalter natürlich ebenso, eine Szene bilden würde, die mit den nichtärztlichen “Ausübenden der Heilkunst” (so stehts im Heilpraktikergesetz von 1939) vergleichbar wäre, also keine geregelte Ausbildung vorweisen kann, bei Beginn der Tätigkeit niemals einen Teig, einen offenen Fernseher oder ein kaputtes Klo gesehen haben muss, sich aber darauf beruft, eigene, geradezu unfehlbare Methoden zu haben, die denen der professionell tätigen mindestens ebenbürtig sind? Bei denen sich die Kundschaft ohne nähere Nachfragen mit einem nahezu grenzenlosen Vertrauen auf großartige Versprechungen einfangen lässt? Was da passieren würde, darauf gab es vor wenigen Jahren einen Vorgeschmack, als der Gedanke aufkam, die Qualifikationsvoraussetzungen für bestimmte Handwerksberufe abzusenken – sprich die Meisterprüfung abzuschaffen. Empörung ging durch die Reihen.

Aber im Gesundheitswesen soll es das geben? Ach nein -gibt es ja bereits, mit dem Stand der Heilpraktiker, mit der Adelung der Homöopathie als Teil des Gesundheitswesens… Noch eine Etage tiefer mit der praktisch unbeschränkten Szene der “Lebenshelfer”, Gurus, Fernheiler und sonstigen Rumprobierer am Menschen? Da schreit doch schon einfachste Logik laut : Irrational!

Der Mensch ist schwach

Ja, ich kann es nachvollziehen, aber wirklich verstehen oder gar gutheißen kann ich es nicht, die Einstellung zur Irrationalität, gerade wenn es um einen selbst, das körperliche und das geistig-seelische Wohlbefinden geht. Instinktiv wird das “mechanistische” Bild von Medizin und Therapie abgelehnt, als mehr oder weniger unangemessen für eine so komplexe Entität wie den Menschen. Und das, obwohl in der Fachwelt das klassische Bild der mechanistischen Medizin längst als ausgedient gilt und die “soziale Medizin” Forschungsgegenstand weltweit ist (worauf die Sozialversicherungssysteme allerdings erst einmal reagieren müssten).

Die alte Vorstellung von Leib-Seele-Dualismus, die in den meisten Menschen auch heute noch mehr oder weniger herrscht, spielt dabei eine große Rolle. Diese stets mitschwingende Vorstellung ist wohl in der Hauptsache verantwortlich dafür, dass die Ratio plötzlich in Bezug auf sich selbst nicht mehr funktioniert und -gefühlsmäßig scheinbar angemessen, aber irrational- auf Menschen und deren Methoden gesetzt wird, die uns glauben machen wollen, sie verstünden etwas von den “Dingen zwischen Himmel und Erde”, von dem, was über die rationale Betrachtung unserer menschlichen Möglichkeiten hinausgeht, auch und gerade beim Menschen selber. Tun sie aber nicht.

Was dem Menschen nachweislich hilft, wird von der Medizin und den sie umgebenden Humanwissenschaften auch aufgenommen und entwickelt, damit es in den Kanon der Wissenschaftlichkeit eingeht. Den “Wissenden” über die Dinge zwischen Himmel und Erde bleiben zwangsläufig im günstigsten Falle unwirksame und im ungünstigsten Falle schädigende “Methoden”. Wir schließen uns Spekulanten an, wenn wir dem folgen. Spekulanten auf Kosten unseres leiblichen und seelischen Wohlergehens – und auf Kosten unseres Bankkontos.

Jeder sollte einmal darüber nachdenken, mit wie viel Vertrauen in die Fähigkeiten und die Integrität anderer wir jeden Tag durchs Leben gehen. Und sich dann Rechenschaft darüber ablegen, ob es vor sich selbst verantwortbar ist, diese Form der Rationalität genau dann, wenn es um uns selbst oder um Menschen in unserer Umgebung, für die wir in der einen oder anderen Form Verantwortung tragen, auszublenden.

Rationalität ist Verantwortung – Irrationalität kann Verantwortungslosigkeit sein

Niemand kann alles wissen und können. In jeder Sparte gibt es schwarze Schafe. Natürlich kann ich mich als Patient bei einem Arzt auch unverstanden und unwohl fühlen. Selbstverständlich ist es nicht schön, auch nur eine Zeitlang von der vielgeschmähten Apparatemedizin abhängig zu sein. Nur – wo ist die rationale, die sinnvoll begründbare Alternative? Wir sollten unsere materiellen und ideellen Ressourcen, unsere Fähigkeit, uns in der heutigen Welt zu orientieren, nicht dem Fetisch der Irrationalität opfern. Das dürfte, wenn sich diese Haltung ausbreitet, unsere Zukunft konkret gefährden.

Dieser Appell, der sich bis hierher an den Einzelnen richtete, gilt aber ebenso und vielleicht in noch höherem Maße für unsere politischen Entscheidungsträger. Ich kann diesen den Vorwurf nicht ersparen, durch Indifferenz (wir erleben es gerade wieder in der Heilpraktikerdiskussion), aber auch durch aktive Förderung (Homöopathie und anthroposophische Medizin im Gesundheitswesen!) die von mir hier kritisierte Irrationalität geradezu zu befördern.

Ich unterliege nicht der Illusion -und bin insofern rational- zu glauben, politische Entscheidungen und Diskurse würde im Sinne der aufklärerischen Ideale immer zu einem rationalen und nicht emotional bestimmten Ergebnis führen. Dies hieße, auch die Person des politischen Entscheiders zu überfordern. Aber von einer vernunftgesteuerten Politik kann erwartet werden, dass sie mit ihren Entscheidungen nicht einen kompletten Bruch mit der Rationalität in klar entscheidbaren Sachfragen -nicht etwa bei Richtungs- oder Prognoseentscheidungen, das ist etwas anderes- riskiert oder gar herbeiführt. In Bezug auf das Gesundheitswesen ist es aber leider so – was es schwermacht, den Einzelnen dazu aufzurufen, seine persönliche Neigung zur Irrationalität hintanzustellen. Ich sehe hier ein schweres Versagen der Politik, das zu korrigieren sie sich bald aufraffen sollte.

Subjektivismus ist ein dünnes Eis für die Entscheidungen eines demokratischen Gemeinwesens. Noch mehr ein Subjektivismus, der von Fakten weitgehend unberührt bleibt. Kants Kategorischer Imperativ, der unausgesprochen der Leitstern aller demokratischen Systeme ist, beruht auf der Voraussetzung von Rationalität, ja, ist geradezu eine Gebrauchsanweisung, um zu weitgehend rationalen Entscheidungen zu kommen. Das Staatsziel von Kant und der Aufklärer, das “Wohlergehens möglichst vieler” erfordert einen auf Ratio gestützten Abwägungs- und Entscheidungsprozess. Nicht Subjektivität.

Leute, strengt euch an. Einfache Lösungen und Wege habe ich nicht anzubieten. Aber fallt nicht auf jeden Sirenengesang herein, der euch auf eurem Lebensweg erreicht. Lasst euch lieber -wie Odysseus- am Mast festbinden, bis die Versuchung vorbei ist. Das gilt auch für die Entscheidungsträger der Politik.


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