Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Die Erde ist keine Scheibe“
und wird hier in leicht überarbeiteter Form wiederveröffentlicht.

Ein Gastbeitrag von Dr. Natalie Grams
TL:DR: Für Trennung von Glauben und Wissenschaft, für Wissen statt Beliebigkeit, für vernünftige Medizin statt verklärtem Rückwärtsdenken, für Aufklärung statt falscher Toleranz.
Am Anfang: Die Definition
Alternativ – muss man das erklären? Auf jeden Fall, denn der Begriff wird gerade in den derzeitigen Debatten über „Alternativmedizin“ häufig nicht richtig benutzt. Eigentlich bedeutet Alternative doch, ich habe die Wahl zwischen zumindest annähernd gleichwertigen Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten haben jeweils spezifische Vor- und Nachteile, die sich aber irgendwie ausgleichen und eine Entscheidung je nach persönlichen Vorlieben zulassen. Zwei verschiedenfarbige Paar Schuhe werden keinen Unterschied im Tragekomfort haben. Ich habe also die Alternative, je nach persönlicher Präferenz zwischen rot und blau zu wählen.
Die Sache sieht ganz anders aus, wenn ich durstig bin und man stellt mir ein volles und ein leeres Glas Wasser auf den Tisch. Beides sind Gläser, aber ist das leere Glas in Anbetracht der Grundsituation eine Alternative? Nein. Hier – und nur hier – greift der (politisch etwas vorbelastete) Begriff der Alternativlosigkeit: Nämlich dann, wenn es zwar verschiedene Angebote gibt, diese aber keineswegs vergleichbar geeignet sind, die jeweiligen Bedürfnisse zu erfüllen bzw. die angestrebten Ziele überhaupt zu erreichen.
Zur Alternativmedizin: Warum bin ich „dagegen“?
Es geht mir nicht um das „Dagegensein“ – es geht um eine Frage von Rationalität, vor allem aber von Moral, von Ehrlichkeit, von Redlichkeit. Der so gerne verwendete Begriff „Alternativmedizin“ enthält ja erst einmal eine stramme Behauptung, nämlich die, es gehe hier um eine wirkliche Alternative zur Medizin, also etwas, das man statt Medizin tun/einnehmen könne. Darin steckt auch gleich der Anspruch, die Alternativmedizin sei der „Schulmedizin“ (die ich lieber wissenschaftsbasierte Medizin nenne) mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, also vielleicht sogar – die „bessere Alternative“.
Das klingt erst einmal sehr schön und auch ich habe früher gern an die implizierte Bedeutung geglaubt. Ich habe auch Verständnis für jeden Patienten, der das tut, denn die „Schulmedizin“ und auch „die Wissenschaft“ machen es uns nicht unbedingt immer leicht, sie zu mögen (aber das soll aktuell nicht Thema sein). Ich habe früher gerne daran geglaubt, dass die Medizin längst nicht der Weisheit letzter Schluss ist und dass es noch so vieles gibt, was wir nicht wissen. Wie also will da jemand abfällig über Alternativen urteilen? Heute allerdings stoße ich mich schon am Begriff „Alternative“.
Was haben wir denn eigentlich bei der Gegenüberstellung Medizin – Alternativmedizin vor uns? Was trifft es besser – die roten und die blauen Schuhe oder das volle und das leere Glas?
Die Medizin – im Sinne der heutigen wissenschaftsbasierten Medizin, der Grundlage des öffentlichen Gesundheitssystems – versteht sich als die Summe aller Mittel und Methoden, die nachweislich wirksam sind. Hinzu kommt für die praktische Anwendung noch die Abwägung eines möglichen Schadenpotenzials (Stichwort Nebenwirkungen) und die jeweilige Situation / Verfassung des Patienten. Was das für Mittel / Methoden sind und woher sie stammen, ist der wissenschaftlichen Medizin ziemlich egal. Sie ist fähig und bereit, alle vielversprechenden Ansätze zu untersuchen und im Erfolgsfall in den Werkzeugkasten ihrer Mittel und Methoden aufzunehmen – und tut dies auch. So erweitert sie täglich ihr Wissen und Können und erzielt immer mehr Erfolge, auch auf Gebieten, in denen das vor einigen Jahrzehnten noch unmöglich schien (siehe z. B. individualisierte Krebstherapie, Frühgeborenenversorgung). Sicherlich ist die Medizin nicht fehlerfrei, vor allem das Gesundheitssystem nicht, aber beide sind bestrebt sich kontinuierlich weiter zu entwickeln.
Auch die Behauptungen der „Alternativmedizin“ lassen sich überprüfen – real und pragmatisch an ihrer tatsächlichen Wirkung. Es lässt sich so herausfinden, was an ihren Aussagen dran ist – ob sie wahr sind oder falsch.
Wir haben heute die Instrumentarien und die Methoden, das zu tun und es ist für die allermeisten Methoden, die für sich in Anspruch nehmen, zur „Alternativmedizin“ zu zählen, längst unzählige Male geschehen. (Was den immer wieder zu hörenden Ruf nach „mehr Forschung“ im Bereich dieser Mittel und Methoden stark relativiert.) Heraus kommt fast immer das Gleiche: Die Methoden der Alternativmedizin funktionieren – allenfalls – zu selten und zu unzuverlässig, als dass man sie ruhigen Gewissens als wirksame Medizin ansehen könnte – und praktisch nie so, wie sie von ihren Befürwortern erklärt werden. Die Wirkung ist in aller Regel nicht mehr als das Gefühl, das in uns Menschen entsteht, wenn wir uns gut behandelt fühlen, wenn wir Hoffnung haben, wenn wir glauben, dass es uns durch die ergriffene Behandlungsmethode bald besser gehen wird – man nennt dies Kontexteffekte einer Behandlung, der Placebo-Effekt gehört dazu.
Der Kern der Sache ist also schlicht und einfach, dass die als „Alternativmedizin“ bezeichneten Mittel und Methoden mit dem leeren Getränkeglas auf unserem Tisch und nicht etwa mit einem andersfarbigen Paar Schuhe im Gegenbeispiel gleichzusetzen sind. Da sie keinen Wirkungsnachweis erbringen können, sind sie schlicht für das angestrebte Ziel, die wirkungsvolle Behandlung von Krankheiten, nicht geeignet. In dem Sinne ist die wissenschaftliche Medizin alternativlos – und der Begriff „Alternativmedizin“ ein Euphemismus.
Aber die Wissenschaft weiß und kann doch nicht alles!
Das behauptet auch kein Wissenschaftler, der diese Bezeichnung verdient und erst recht nicht „die Wissenschaft“. Die Tatsache, dass wir längst nicht alles wissen und können, ist ja der eigentliche Antrieb für weitere Forschung.
Wir dürfen einer Wissenschaft, die kleinste Details von Zellfunktionen erklären und krankheitsauslösende ebenso wie heilende Effekte auf molekularer Ebene beschreiben kann, aber durchaus zutrauen, ein Urteil über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit einer bestimmten Methode oder eines bestimmten Mittels abzugeben. Tun wir das nicht, laufen wir blind in eine Beliebigkeitsfalle, verfallen wir in einen irrationalen Angstglauben, der uns alle lähmen und uns statt nach vorn wieder zurück in die Vergangenheit führen würde. Und zwar nicht nur in der Medizin.
Und um den nächsten Einwand gleich vorwegzunehmen, nein, „die Wissenschaft“ unterdrückt „die Alternativmedizin“ nicht (erst recht nicht aus unlauteren Motiven). Ich habe solche Dinge, zwar früher auch so gesagt (weil „alle“ sie sagten), aber es ist schlicht Unsinn. Und es würde immerhin die größte Verschwörung aller Zeiten voraussetzen – gegen die Chemtrails, die 9/11-Geschichten und die Flache-Erde-Theorie zusammengenommen eine Kleinigkeit wären. Ich bin heute davon überzeugt, dass dieses „Argument“ nur dazu dient, sich nicht mit der berechtigten Kritik an der „Alternativmedizin“ auseinandersetzen zu müssen.
Und nein, damit will ich nicht Unzulänglichkeiten und Mängel in der wissenschaftlichen Medizin leugnen. Davon gibt es mehr als genug, das ist auch ein Thema für sich das mich sehr bewegt und das einen wichtigen Teil meines Buches „Gesundheit – ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen“ ausmacht. Aber gerade die ständige Debatte über die Alternativmedizin verstellt den Blick darauf, auf welche Weise wir die Medizin und unser Gesundheitssystem insgesamt weiter verbessern können.
Was bedeutet das praktisch?
Oft wird das ganze Problem ja damit abgetan, dass man sagt, naja, wenn Menschen eben auch so gesund werden und außerdem auch auf unnötige Medikamente verzichten, ist doch alles gut („Wer heilt, hat Recht“). Wobei man natürlich auf unnötige Medikamente immer verzichten kann und soll, nicht nur wenn „Alternativmedizin“ glaubt, an ihre Stelle treten zu können.
Wenn wir aber tatsächlich eine wirksame Therapie unterlassen, also nicht etwa eine medizinisch vertretbare Alternative wählen (z. B. Medikation statt Operation), sondern die eigentliche Behandlungsoption unterlassen oder verzögern, dann haben wir ein Problem. Denn es werden Menschenleben gefährdet, Krankheiten verschleppt, Schmerzen unnötig ertragen oder Prophylaxen versäumt, die für uns alle wichtig sind. Menschen werden in die Irre geführt, bekommen falsche Hoffnungen und werden manchmal richtiggehend betrogen. Das möchte ich nicht! Genau deshalb spreche ich heute auch lieber von „Pseudomedizin“. Sie tut so, als wäre sie Medizin, tritt mit dem Anspruch auf, als wäre sie eine Alternative, sie ist aber in Wirklichkeit das leere Wasserglas – selbst wenn man den Placebo-Effekt mit einrechnet. Denn der kommt auch bei nachgewiesen wirksamen Therapien als „Add-on“ zur spezifischen Wirksamkeit dazu und ist nicht von der „Alternativmedizin“ gepachtet.
Wissen versus Beliebigkeit
Es gibt heute recht harte Standards in der Medizin, es gibt sich weiter entwickelnde Instrumentarien des Überprüfens und es gibt dann eine Grundlage für eine Bewertung (wirkt/wirkt nicht/kann nicht wirken). Was es nicht gibt (oder nicht mehr geben sollte!): Beliebigkeit. Denn das wäre der Einzug der reinen Fantasie in die Welt der Fakten. Das kann gern anderen Bereichen überlassen bleiben, beispielsweise Fantasy-Buchautoren oder Filmemachern. Wo es aber um das Wohl und Wehe von Menschen geht, haben Beliebigkeit, „könnte doch sein“, „noch nicht bewiesen“ und dergleichen nichts zu suchen.
Hier nähern wir uns offenbar der Ursache dessen, dass es so viele Menschen, die eigentlich gar nicht im Thema sind, so offensichtlich aufbringt, wenn sie auf Kritik an „Alternativmedizin“ stoßen. Nämlich, dass einer scheinbaren persönlichen Freiheit, einem unreflektierten Meinungspluralismus Grenzen gesetzt werden. Dass offen ausgesprochen wird, dass nicht alles möglich ist und nicht alles toleriert werden muss, nur weil jemand sich im Recht fühlt und man glaubt, jeder anderen Meinung unbedingt „Respekt“ zollen zu müssen.
Wo wir beim Wetterbericht ganz klar darauf bestehen, dass er sich an Fakten und Wahrscheinlichkeiten orientieren möge, da geben wir das gerade bei der Medizin – einem Gebiet, das doch ungleich wichtiger ist – kritiklos auf? Für eine vermeintliche Toleranz, ohne genaues Hintergrundwissen und mit einem ebenso wenig begründbaren wie dumpfen Misstrauen gegen Expertenwissen?
Aber die Meinungsfreiheit ist doch auch ein hohes Gut
Natürlich darf jeder seine Meinung dazu haben. Aber geht es hier überhaupt um „Meinung“? Wenn es harte Fakten gibt und meine persönliche Meinung denen entgegensteht – was ist die Meinung dann noch wert? Sie verhilft mir persönlich allenfalls zu einem falschen Überlegenheitsgefühl. Sie kann aber weder Allgemeingültigkeit noch Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen und ist deshalb auch für den Inhaber der Meinung selbst wertlos und unter Umständen schädlich.
Das Scheitern der Wirksamkeitsbehauptung alternativmedizinischer Mittel und Methoden an wissenschaftlichen Nachweiskriterien ist ein solcher Fakt. Was geschieht aber angesichts dessen? Die Anbieter alternativmedizinischer Methoden (egal, ob Ärzte oder Heilpraktiker) scheren sich wenig darum und stellen unbeirrt viele Behauptungen auf, die sie nicht belegen können (z. B. es gäbe eine geistige Lebenskraft; bei der Potenzierung passiere mehr als eine Verdünnung; Wasser habe ein Gedächtnis; es gäbe „Energie“ in „Meridianen“) oder die objektiv falsch sind (z. B. es gäbe ganz viele eindeutig positive Studien zur Akupunktur oder auch zur Homöopathie; Ansätze der Alternativmedizin könnten in Studien sowieso nicht geprüft werden; wenn ihre Methode doch so vielen Menschen helfe, dann müsse sie doch wirksam sein; die Wissenschaft und BigPharma seien einfach nur gegen die Erfolge der Alternativmedizin; Kritiker sind doch bloß neidisch…). Mit diesem Unterbau wird das positive Image der „alternativen Medizin“ am Leben erhalten und werden Meinung und Fakten fälschlicherweise gleichgestellt.
Beliebtes Image
Viele Menschen, die der „Alternativmedizin“ grundsätzlich wohlwollend gegenüberstehen, wissen einfach gar nicht so genau Bescheid über deren Methoden und ihre Hintergründe. Man glaubt an sie, weil man gute Erfahrungen damit gemacht hat (Konditionierung), weil es andere Eltern ja auch machen (falscher Autoritätsglaube), weil die Homöopathin einfach netter ist als die Hausärztin und mehr Zeit hat (Prinzip des bequemsten Weges), man mag das Gefühl, selbst entscheiden und handeln zu können (falsch verstandene persönliche Freiheit), man hat Angst vor den Behandlungen und Nebenwirkungen der normalen Medizin (menschlich, aber falsch), man hat die Ausbildung als Therapeut nun mal absolviert und kann sie gut abrechnen (Pragmatismus), etc.. Die Begriffe „sanft“ und „natürlich“ tragen zum positiven Image bei, das – oh Wunder – durch die die Alternativ-Produkte verkaufende Pharmaindustrie (zum Beispiel Homöopathie-Hersteller) blumig befördert wird. Ist man dann noch enttäuscht von der normalen Medizin (was ich teilweise verstehen kann), wendet man sich gerne an vermeintliche Alternativen. Wobei nach meiner Beobachtung eine solche „Enttäuschung“ oft gar nicht auf eigener Erfahrung beruht, sondern auf der unkritischen Aufnahme umlaufender „urbaner Legenden“ und „allgemeiner Ansichten“. Immerhin hat eine aktuelle europaweite Erhebung zur Patientenzufriedenheit mit Hausärzten erbracht, dass 95 Prozent der deutschen Patienten mit ihrem Hausarzt so zufrieden sind, dass sie ihn weiterempfehlen würden. Das sollte auch einmal zu denken geben.
Lösungswege für eine bessere Medizin
Es gibt nur einen sinnvollen Weg zum Ziel einer vernunftbetonen und gleichzeitig empathischen Gesundheitskompetenz, und der ist nicht die Neigung zur „Alternativmedizin“. Sondern: Information und Aufklärung und eine gemeinsame Verbesserung unseres Gesundheitswesens. Es geht nicht um irgendwelche Verbote, auch nicht um Bevormundung. Ganz im Gegenteil: Selbst- und Mitbestimmung von Patienten sind heute in der Medizin wichtiger denn je. Um aber vernünftig selbst- und mitbestimmen und um sich selbst gegenüber Verantwortung übernehmen zu können, ist Information nötig, kein Glaube an nicht vorhandene Alternativen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Menschen aufgeklärt werden wollen, dass Sie aufgeklärt werden wollen, dass Sie wissen wollen, was es mit Homöopathie, Akupunktur, TCM und Co. wirklich auf sich hat.
Es ist allerdings nicht so einfach, diese Hoffnung nicht aufzugeben. Kritikern wie mir wird persönliches Versagen und fehlendes Wissen unterstellt oder die falsche Schule, der falsche Lehrer, zu wenig praktische Erfahrung nachgesagt – der Vorwurf fehlender Offenheit und Unvoreingenommenheit, das angebliche „zu enge Denken“ kommt meist dazu. Das finde ich schade. Schade und unfair. Denn es geht und ging mir nicht um Gegnerschaft an sich und um jeden Preis. Ich möchte mit Gleichgesinnten zusammen deutlich machen, wie wir auf eine falsche oder einfach unüberlegte Darstellung von angeblichen Alternativen hereinfallen. Weil das in der Medizin besonders verhängnisvoll sein kann, setze ich mich für entsprechende Aufklärung ein, auch aus der eigenen Erfahrung heraus, früher selbst auf diesen Leim gegangen zu sein.
Nein, nicht alles Denkbare ist auch möglich (dafür gibt es den schönen Ausdruck Luftschlösser) und auch wenn wir heute nicht alles wissen, über die Alternativmedizin und die Methoden ihrer Verbreitung wissen wir heute genug, um urteilen zu können. Und es ist – wie ich meine – geradezu eine ethische Pflicht, auch über diese Dinge öffentlich zu sprechen, um Schaden abzuwenden. Nicht um Menschen zu bevormunden oder um reiner Besserwisserei wegen. Auch um den Weg in die Moderne, eine nachhaltige Zukunft offen zu halten und einer falschen Rückwärtsgewandtheit – weit über die Medizin hinaus- die Stirn zu bieten.
PS: Wenn Sie positive Erfahrungen mit der Alternativmedizin gemacht haben und mir jetzt vielleicht böse sind: Ihre Erfahrungen sind Gold wert. Nur sie erklären sich anders, als Sie bisher vielleicht angenommen haben (Siehe Artikel „Wir sehen ein Phänomen“).
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