
Wenn man über die Entstehung des Relativismus in der modernen Theoriegeschichte spricht, führt an Michel Foucault kein Weg vorbei. Kaum ein Denker des 20. Jahrhunderts hat das Verhältnis von Wissen, Macht und Wahrheit so nachhaltig verunsichert – und zugleich so viele Disziplinen geprägt.
Michel Foucault ist eine der zentralen Figuren in der Diskussion um epistemologischen Relativismus, auch wenn er selbst sich nicht ausdrücklich als Relativist bezeichnete. Seine Analysen von Macht, Wissen und Diskurs haben jedoch erheblich dazu beigetragen, die Vorstellung von objektiver Wahrheit infrage zu stellen und wissenschaftliche Erkenntnisse als historisch kontingent zu betrachten.
Foucaults Grundkonzepte
Foucaults Werk konzentriert sich auf die Analyse der Wechselwirkungen zwischen Wissen und Macht. Er argumentiert, dass Wissen niemals unabhängig von Machtstrukturen existiert, sondern vielmehr durch sie produziert wird. In seinem berühmten Werk Die Ordnung der Dinge (1966) stellt er die Idee eines kontinuierlichen wissenschaftlichen Fortschritts infrage und zeigt stattdessen, wie sich Wissensordnungen („Episteme“) in verschiedenen historischen Epochen grundlegend verändert haben. Ähnlich argumentiert er in Überwachen und Strafen (1975), dass gesellschaftliche Institutionen (z. B. Gefängnisse oder psychiatrische Kliniken) nicht nur repressiv wirken, sondern auch bestimmte Wissensformen hervorbringen, die das Verhalten der Menschen steuern.
In Die Archäologie des Wissens (1969) führt er die Methode der Diskursanalyse ein, mit der er untersucht, wie bestimmte Wahrheiten in einem historischen Moment durch Sprache und institutionelle Praktiken erzeugt werden. Später verfeinert er diese Perspektive mit dem Konzept der Genealogie, das er in Werken wie Der Wille zum Wissen (1976) anwendet. Hier zeigt er, dass gesellschaftliche Normen und Wahrheiten nicht das Ergebnis rationaler Einsicht oder wissenschaftlicher Fortschritte sind, sondern durch historische Kämpfe und Machtdynamiken geformt werden.
Foucault und epistemologischer Relativismus
Foucaults Ansatz wird oft als Grundlage für epistemologischen Relativismus herangezogen, da er suggeriert, dass es keine überzeitlichen, objektiven Wahrheiten gibt, sondern nur kontextspezifische Wahrheitsregime. Seine Idee der „Macht-Wissen-Komplexe“ zeigt auf, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach „entdeckt“, sondern im Rahmen sozialer und politischer Machtverhältnisse produziert werden. Das hat viele postmoderne Theoretiker inspiriert, die argumentieren, dass jeglicher Wahrheitsanspruch letztlich eine Funktion von Machtinteressen sei.
Kritiker – darunter Paul Boghossian – werfen Foucault vor, mit seiner radikalen Kontextualisierung von Wissen den Boden für einen nihilistischen Relativismus bereitet zu haben, in dem jede Form von Wahrheit als bloßes Produkt sozialer Konstruktionen erscheint. Tatsächlich hat Foucault selbst immer wieder betont, dass er keine absolute Ablehnung von Wahrheit vertritt, sondern lediglich darauf hinweisen will, dass unser Verständnis von Wahrheit in historischen Kontexten verankert ist.
Bedeutung und Rezeption
Foucaults Arbeiten haben unbestritten dazu beigetragen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Wissen nicht neutral ist und dass Wissenschaftsgeschichte oft von Machtinteressen geprägt ist. Doch sein radikaler Historismus führt in der Konsequenz dazu, dass sich kaum mehr Kriterien für eine objektive Unterscheidung zwischen „wahren“ und „unwahren“ Behauptungen finden lassen. Das hat insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu einem stark relativistischen Denken geführt, das sich oft gegen universalistische Wahrheitsansprüche richtet.
Gleichzeitig bleibt sein Werk eine wichtige Grundlage für kritische Wissenschaftstheorie, da es den Blick für die sozialen und politischen Bedingungen von Wissenserzeugung schärft. Die Herausforderung besteht darin, Foucaults Erkenntnisse über die soziale Konstruktion von Wissen ernst zu nehmen, ohne in einen völligen epistemologischen Relativismus zu verfallen.
Fazit
Michel Foucault hat ohne Zweifel einen erheblichen Einfluss auf relativistische Tendenzen in der Wissenschaftstheorie ausgeübt, auch wenn er sich selbst nicht explizit als Relativist verstand. Sein Konzept der Macht-Wissen-Strukturen und seine genealogische Methode haben gezeigt, dass Wissen immer in soziale und politische Kontexte eingebettet ist. Die kritische Frage bleibt, ob dies bedeutet, dass objektive Wahrheit unmöglich ist, oder ob es dennoch sinnvolle Kriterien für Wissensansprüche geben kann. In der Debatte um epistemologischen Relativismus bleibt Foucault daher eine Schlüsselfigur, die sowohl fruchtbare Impulse als auch kritische Herausforderungen liefert.
Kritik
Was auffällt: Ist Foucault bei seiner Analyse allzu retrospektiv? Natürlich sind Wissen und „Wahrheit“ zeitbedingt (was ja das „Wissen“ in der religiös beherrschten Zeit von Kaiser Konstantin bis zur Renaissance beweist, wie z.B. beim absolut gedachten Wahrheitsbegriff von Francis Bacon, der im Grunde das reine Gegenteil von Poppers Wahrheitsbegriff ist), aber das heißt doch nicht, dass Erkenntnis und Erkenntnisverfahren nicht fortschreiten, sich in RIchrung auf Objektivierung bewegen und sich mit verfeinerten Methoden der „Wahrheit“ annähern? Setzt Faucoult die historische Analyse nicht allzu absolut?
Genealogie und Archäologie des Wissens sind zweifellos faszinierende Instrumente zur Analyse historischer Diskurse, aber sie tendieren dazu, Erkenntnisprozesse primär als Ausdruck von Machtstrukturen und historischen Kontingenzen zu begreifen. Damit rückt die Möglichkeit eines fortschreitenden Erkenntnisgewinns oder einer Annäherung an objektive Wahrheit, die diese Zeitbedingtheit zunehmend hinter sich lässt, stark in den Hintergrund.
Während Foucault in der Archäologie des Wissens noch versuchte, historische Wissensordnungen systematisch zu beschreiben, verschiebt sich in der Genealogie der Fokus auf die Frage: Wie entstehen Wahrheiten durch Kämpfe, Institutionen, Körpertechniken – und wie stabilisieren sie sich durch soziale Kontrolle?
Foucault selbst hat sich gegen die Vorstellung gewehrt, er sei ein Relativist – aber seine Betonung, dass Wissen stets an spezifische gesellschaftliche Machtverhältnisse und Diskursordnungen gebunden sei, öffnet genau diesem Relativismus Tür und Tor. Denn wenn jede Epoche ihre eigene Wahrheit konstruiert, bleibt die Frage, ob es überhaupt übergeordnete Maßstäbe für Fortschritt in der Erkenntnis geben kann.
Foucaults bewusste Verweigerung, normativ zu argumentieren, mag als intellektuelle Redlichkeit gemeint sein – wirkt aber gerade heute, wo wissenschaftliche Autorität öffentlich untergraben wird, eher wie ein Rückzug aus der Verantwortung. Wer nur sichtbar macht, wie Wahrheit erzeugt wird, ohne zu sagen, welche Wahrheitsansprüche legitim sind, spielt jenen in die Hände, die genau das für ihre Zwecke ausnutzen wollen.
Es gibt doch durchaus Argumente, die gegen eine radikale Historisierung der Wahrheit sprechen. Auch wenn wissenschaftliche Erkenntnisse durch Paradigmenwechsel geprägt sind, wie Kuhn es beschreibt, oder durch soziale Bedingungen beeinflusst werden, wie Foucault es betont – bedeutet das nicht zwangsläufig, dass es keine Annäherung an objektivere Beschreibungen der Realität gibt. Gerade Popper zeigt mit seiner Idee der Falsifikation und seinem Umgang mit dem Induktionsprinzip, dass es Methoden gibt, die uns von irrtumsanfälligeren zu weniger irrtumsanfälligen Theorien führen.
Ich würde also sagen, Foucaults Analyse ist wertvoll, um zu verstehen, wie sich Wissensordnungen historisch entwickeln und warum bestimmte Wahrheiten in bestimmten Epochen vorherrschen. Aber wenn man daraus schlussfolgert, dass Erkenntnis immer nur eine Funktion von Macht und Kontext ist und nicht eine Annäherung an eine objektivere Beschreibung der Welt sein kann, dann läuft man Gefahr, in einen pessimistischen erkenntnistheoretischen Relativismus zu verfallen. Und das ist genau der Punkt, an dem seine Theorien oft fehlinterpretiert oder für postmoderne Beliebigkeit instrumentalisiert und simplifiziert werden. Eine Rechtfertigung für einen erkenntnisphilosophischen Relativismus als Konkurrenz zum kritischen Rationalismus liefert Foucault nicht.
Foucault wollte keine Beliebigkeit, aber er hat sie – gegen seinen Willen – legitimiert. Sein Einfluss auf Teile der postmodernen Theorieproduktion hat dazu beigetragen, dass sich die Vorstellung verfestigte, jede Wahrheit sei bloß ein Diskursprodukt. Für eine humanistisch fundierte, wissenschaftlich orientierte Aufklärung bedeutet das eine doppelte Aufgabe: Foucaults Machtanalytik ernst nehmen – und zugleich den Begriff von Wahrheit verteidigen, der nicht von Herrschaft, sondern von kritischer Überprüfbarkeit lebt.
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